Die Beobachtung als Methode in der Soziologie

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Die Beobachtung als Methode in der Soziologie
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Prof. Dr. Christoph Weischer lehrt Soziologie an der Universität Münster.


Prof. Dr. Volker Gehrau lehrt Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster.


Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

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UTB-Band Nr. 4866

ISBN (Print) 978-3-8252-4866-6

ISBN (EPUB) 978-3-8463-4866-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einleitung

2 Methode der Beobachtung

2.1 Gegenstand

2.1.1 Definition

2.1.2 Abgrenzung

2.1.3 Entwicklung

2.2 Varianten und Merkmale

2.2.1 Interne versus externe Beobachtung

2.2.2 Selbst- versus Fremdbeobachtung

2.2.3 Teilnehmende versus nicht-teilnehmende Beobachtung

2.2.4 Offene versus verdeckte Beobachtung

2.2.5 Wissentliche versus unwissentliche Beobachtung

2.2.6 Feld versus Laborbeobachtung

2.2.7 Beobachtung mit versus ohne Stimulus

2.2.8 Standardisierte versus nicht-standardisierte Beobachtungsprotokolle

2.2.9 Manuelle versus apparative Beobachtungsprotokolle

2.2.10 Direkte versus indirekte Beobachtung

2.2.11 Unvermittelte versus vermittelte Beobachtung

2.2.12 Kombinationen von Beobachtungsvarianten

2.3 Reflexion und Qualitätssicherung

2.3.1 Qualitätssicherung bei quantitativen Beobachtungen

2.3.4 Qualitätssicherung bei qualitativen Beobachtungen

2.3.3 Forschungsethik

Literatur

3 Durchführung von Beobachtungsstudien

3.1 Qualitative und quantitative Beobachtungsstudien

3.2 Qualitative Beobachtung: Konstitution des Forschungsfeldes

3.2.1 Forschungsfeld und Forschungsfrage

3.2.2 Feldzugang

3.3 Qualitative Beobachtung: Aktivitäten im Feld

3.3.1 Transparenz herstellen und Regeln vereinbaren

3.3.2 Teilnehmen

3.3.3 Beobachten

3.3.4 Erhebung weiterer Daten

3.4 Qualitative Beobachtung: Protokollierung und Auswertung

3.4.1 Feldnotizen

3.4.2 Beobachtungsprotokolle

3.4.3 Aufbereitung und Analyse weiterer Daten

3.4.4 Codierung

3.4.5 Theoretical Sampling

3.4.6 Beobachtungsbefunde

3.5 Quantitative Beobachtung: Konzeption

3.5.1 Fragestellung

3.5.2 Untersuchungsanlage

3.6 Quantitative Beobachtung: Auswahl

3.6.1 Grundgesamtheit und Beobachtungsobjekte

3.6.2 Auswahlverfahren

3.6.3 Beobachtungsobjekt und Beobachtungsfall

3.7 Quantitative Beobachtung: Erhebungsverfahren

3.7.1 Vorüberlegungen

3.7.2 Operationalisierung

3.7.3 Formatierung

3.7.4 Standardisierung anderer Protokollierungsformen

3.8 Quantitative Beobachtung: Feldphase

3.8.1 Pretest

3.8.2 Schulung

3.8.3 Feldzugang

3.8.4 Datenerhebung

3.8.5 Auswertung und Darstellung

4 Beobachtungsverfahren in der Soziologie

4.1 Forschungsmethoden im disziplinären Kontext

 

4.2 Beobachtungsverfahren im methodischen Diskurs

4.2.1 Beobachtungsverfahren in der Formierungsphase der Soziologie

4.2.2 Beobachtungen im jüngeren Methodendiskurs

4.2.3 Beobachtungen im Kontext hypothesentestender Designs

4.2.4 Beobachtungen im Kontext von Fallstudien

4.2.5 Beobachtungen im Kontext von ethnographischen Ansätzen

4.3 Beobachtungsverfahren in der soziologischen Forschungspraxis

4.3.1 Beobachtungen in derjüngeren soziolog. Forschung – Überblick

4.3.2 Beobachtungen in der arbeits- und industriesoziolog. Forschung

4.3.3 Beobachtungen in der organisationssoziologischen Forschung

4.3.4 Beobachtungen in der jugend- und bildungssoziologischen Forschung

4.3.5 Beobachtungen in der Rechtsextremismusforschung

4.3.6 Beobachtungen in der stadtsoziologischen Forschung

4.4 Fazit

Literatur

Vorwort

Wenn Menschen Informationen brauchen, beobachten sie ihre Umwelt, das heißt sie nehmen ihre Umwelt bewusst mit ihren Sinnen – insbesondere visuell und auditiv – wahr. Auch im Kontext erfahrungsbasierter Wissenschaften ist die Beobachtung seit jeher zentrale Methode der Informationsbeschaffung, so auch in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Wissenschaftliche Beobachtungsverfahren haben in jüngster Zeit durch technische Entwicklungen an Bedeutung gewonnen. Zum einen ermöglichen Geräte die automatisierte Aufzeichnung von Verhalten, Bewegungen oder (Körper-) Reaktionen auch über längere Zeiträume. Zum anderen hinterlassen Menschen bei der Mobilkommunikation und bei der Nutzung des Internets Spuren, die sich auslesen und in Bezug auf das zugrunde liegende Verhalten analysieren lassen. Beides führt bereits jetzt zu einem gewissen Boom von Beobachtungsverfahren in speziellen Fächern, welche Anregungen für andere Disziplinen bieten können. Auch der Bedeutungsgewinn qualitativer und ethnographischer Forschungen geht mit einem wachsenden Interesse an Beobachtungsverfahren einher. Vor dieser Entwicklung hatte die Beobachtung in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften eher an Bedeutung verloren, insbesondere zugunsten der wissenschaftlichen Befragung, weil es einfacher und deutlich kostengünstiger ist, Personen zu ihrem Verhalten zu befragen als sie dabei zu beobachten. Oft ist aber erinnertes und berichtetes Verhalten kein guter Indikator für tatsächliches Verhalten. Deshalb war und ist die Beobachtung gerade in Bereichen, in denen komplexe individuelle und soziale Verhaltensweisen im Mittelpunkt stehen, die geeignetere Methode.

Recherchen vor der Konzeption dieses Buches ergaben, dass im Gegensatz zur Befragung, Inhaltsanalyse oder anderer spezieller Erhebungsverfahren zur Beobachtung kein aktuelles Einführungsbuch existiert. Und vorhandene ältere Darstellungen zur Beobachtung berücksichtigen die Anforderungen und Chancen nicht, die die Beobachtung durch die technische und methodologische Entwicklung erfährt. So reifte der Entschluss, eine aktuelle und übergreifende Darstellung der wissenschaftlichen Beobachtung zu verfassen. Die Darstellung ist unabhängig von Disziplinen sowie Forschungstraditionen konzipiert und kann damit nicht allen spezifischen Ansprüchen gerecht werden zumal der übergreifende Charakter bestimmte eher unübliche Entscheidungen nötig machte:

Entscheidung 1: Disziplinäre Verortung. Das vorliegende Buch ist ein Band einer Reihe einführender Methodenbücher zur Beobachtung, die jeweils unterschiedliche Sozial- und Verhaltenswissenschaften fokussieren. Die Grundidee und Grundlage zu dieser Reihe lieferte das Buch Die Beobachtung in der Kommunikationswissenschaft (Gehrau 2002). Die methodischen Teile dieses Buches wurden im Wesentlichen von Volker Gehrau aktualisiert und so verfasst, dass sie ohne Bezüge und Beispiele zu einem bestimmten Fach auskommen und verständlich sein sollten. Die speziellen Abschnitte zur qualitativen Beobachtung wurden von Christoph Weischer und Volker Gehrau neu hinzugefügt. Diese allgemeinen methodischen Teile werden durch die fachwissenschaftlichen Vertreterinnen und Vertreter jeweils um Beispiele aus den einzelnen Disziplinen ergänzt. In einer ersten Runde werden so gleichzeitig drei Bände publiziert: Die Beobachtung in der Erziehungswissenschaft (van Ophuysen, Bloh & Gehrau 2017), Die Beobachtung in der Kommunikations- und Medienwissenschaft (Gehrau 2017) sowie Die Beobachtung in der Soziologie (Weischer & Gehrau 2017). Die gemeinsame Arbeit an den Büchern führte uns einerseits immer wieder vor Augen, wie stark die theoretische und methodische Einbettung der Beobachtung in und zwischen den jeweiligen Disziplinen variiert. Andererseits wurde deutlich, wie inspirierend der Blick über den Tellerrand des eigenen Faches sein kann. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, haben wir uns dafür entschieden, alle Variationen gleichberechtigt zu diskutieren. Dies impliziert, dass durchaus Aspekte vorgestellt werden, die in der jeweiligen Disziplin von eher untergeordneter Bedeutung sind, wohingegen andere Aspekte, die sonst klar im Zentrum stehen, hier vergleichsweise kurz angerissen werden. Das mag zu Unzufriedenheit in einzelnen Bereichen führen, soll aber anregen, auch über alternative Beobachtungsvarianten nachzudenken, auch wenn sie in der jeweiligen Disziplin bislang (noch) nicht realisiert wurden.

Entscheidung 2: Quantitatives versus Qualitatives Paradigma. Mit dem vorliegenden Buch wird der Versuch unternommen, qualitative und quantitative Beobachtungsansätze gleichberechtigt darzustellen. Bislang haben alle uns bekannten Darstellungen einen klaren Fokus, oft wird sogar ausschließlich eine Variante diskutiert. Das ist insofern verständlich, als sich beide Varianten grundlegend unterscheiden und viele (Teil-) Disziplinen nahezu ausschließlich nach einer Variante vorgehen. Der interdisziplinäre Ansatz der vorliegenden Buchreihe sowie der Anspruch der beteiligten Autorinnen und Autoren machen es aber erforderlich, beide Varianten möglichst angemessen zu präsentieren. Die vorliegende Fassung ist der erste Versuch, diesem hohen Anspruch gerecht zu werden. Ob dies gelungen ist, mögen die Leserinnen und Leser entscheiden. So werden in dem Buch fast durchgängig Beispiele und Besonderheiten sowohl qualitativer als auch quantitativer Zugänge nebeneinander vorgestellt. Lediglich im dritten Kapitel werden zunächst die typischen Schritte und Entscheidungen qualitativer Beobachtungsstudien beschrieben und anschließend die typischen Schritte und Entscheidungen quantitativer Beobachtungsstudien. So können Leserinnen und Leser, die sich nur für eine der beiden Varianten interessieren, deren Durchführung in unterschiedlichen Spielarten kennenlernen, ohne die jeweils andere zur Kenntnis nehmen zu müssen. Nichtsdestotrotz ist es unseres Erachtens für alle anregend, sich auch mit der jeweils anderen Variante vertraut zu machen.

Entscheidung 3: Wege der Vermittlung. Wissen über Beobachtung als Methode der Datenerhebung kann über drei verschiedene Wege vermittelt werden: (1) über die Darstellung der methodischen Besonderheiten wissenschaftlicher Beobachtungen, (2) über die Darstellung der Anforderungen bei der praktischen Durchführung von Beobachtungsprojekten oder (3) über die Darstellung exemplarischer Beobachtungsstudien in einem Fach. Die Kapitel zwei bis vier des vorliegenden Buches sollen alle drei Zugänge ermöglichen, und zwar in einer Darstellungsweise, die auch in anderer als der hier vorgeschlagenen Reihenfolge verständlich sein sollte. Insofern ist es den Leserinnen und Lesern überlassen, wie sie in das Thema einsteigen möchten. Die drei Kapitel unterscheiden sich auch deutlich in ihrem Rückgriff auf einschlägige Literatur. So wird in Kapitel zwei (Methode) auf die für die Beobachtung relevante Methodenliteratur verwiesen und zwar insbesondere auf solche, die disziplinübergreifend wichtig erscheint. Da bestimmte Disziplinen besondere methodische Anforderungen an die Beobachtung stellen, wird an entsprechenden Stellen aber auch mit fachspezifischen Methodenbüchern gearbeitet. Hingegen folgt das Kapitel drei (Praktische Durchführung) eher der Logik eines Tutorials, in dem unterschiedliche Varianten, Wege und dazugehörige Entscheidungen aufgezeigt werden. Dieses Kapitel verbleibt ohne zusätzliche Literaturhinweise, da es weitgehend auf Ideen aus der Literatur des vorherigen Kapitels zurückgreift. Um die Lesbarkeit zu fördern und um den Fokus nicht auf einzelne Positionen und Vorlieben bei der Beobachtung zu verengen, wurde bewusst ohne Einzelverweise gearbeitet. Im abschließenden vierten Kapitel (Exemplarische Studien) liegt der Fokus auf der fachspezifischen Anwendung wissenschaftlicher Beobachtungen. Dies erfolgt weitgehend anhand der Darstellung publizierter empirischer Studien aus der jeweiligen Disziplin, in der jeweils fachtypische Fragestellungen untersucht werden.

Wir hoffen, uns mit den skizzierten Entscheidungen nicht gänzlich zwischen die Stühle gesetzt zu haben und bei den Leserinnen und Lesern Interesse an der Beobachtung zu wecken und relevantes, anwendbares Wissen über diese zu vermitteln.

Münster, Sommer 2017

Bea Bloh, Volker Gehrau, Stefanie van Ophuysen und Christoph Weischer.

1 Einleitung

„Wie geht's?“ Diese Frage stand hinter einem Beobachtungsverfahren, das Bestandteil der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933/1975) war. Die Forschergruppe hatte das Ziel, die Auswirkung der hohen Arbeitslosigkeit auf die Befindlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner Marienthals Anfang des 20. Jahrhunderts zu untersuchen. Dabei verwendeten sie ganz unterschiedliche Datenerhebungsverfahren. Sie beobachteten z.B., wie die Bewohner von Marienthal einen öffentlichen Platz überquerten. Die so erhobenen Daten förderten ein Bild einer müden Gesellschaft zutage, in der es kaum Antrieb und Hoffnung gab, und die gleichzeitig durch einen doppelten Zeitverlauf gekennzeichnet war. Als Maß dafür diente einerseits die Gehgeschwindigkeit – Frauen gingen deutlich schneller als Männer – und andererseits die Häufigkeit des Stehenbleibens. Männer blieben öfter stehen als Frauen. Die Männer hatten durch die Arbeitslosigkeit die Zeitstruktur verloren – die Zeit verging für sie, ohne dass Wichtiges geschah. Bei den Frauen strukturierte demgegenüber die Arbeit für Haus und Familie noch einen Großteil des Lebens – ihre Zeit war verarbeitete Zeit (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel 1933/1975 sowie Diekmann 1995: 459–466). Mit einer klassischen Befragung hätte man wahrscheinlich eher geschönte Auskünfte über die Befindlichkeit der Menschen in Marienthal erhalten; so wie bei den typischen Antworten auf die Frage: „Wie geht's?“

Ähnlich wie die Forscherinnen und Forscher in der Marienthal-Studie beobachten auch Menschen im Alltag ihr Umfeld und insbesondere die darin agierenden Personen, um alltagsrelevante Informationen zu erhalten. Die zur Informationsgewinnung im Alltag genutzten Vorgehensweisen gehen jedoch über das Beobachten hinaus. Sie lassen sich grob in drei Bereiche einteilen, wobei die Grenzen unschärfer sind als hier idealtypisch dargestellt. Ausgangspunkt des Illustrationsbeispiels sei eine Person, die auf einen Platz in einer größeren Stadt kommt, dort eine Gruppe von Menschen vorfindet, die auf ungewöhnliche Art miteinander interagieren. Sie möchte verstehen, was die Gruppe macht. Dazu wird sie vermutlich zunächst stehenbleiben und zuschauen, was die Menschen in der Gruppe tun. Wenn das zu keinem befriedigenden Resultat führt, wird die Person wahrscheinlich jemanden fragen, was die Gruppe macht. Wenn auch das nicht die gewünschte Erkenntnis bringt, wird sie eventuell noch versuchen, Informationen über aktuelle Veranstaltungen oder über den Ort zu recherchieren, um herauszufinden, was dort gerade passiert. In diesem Beispiel werden drei Arten der alltäglichen Informationsbeschaffung genannt, die sich in ähnlicher Weise als Methoden der wissenschaftlichen Datenerhebung wiederfinden lassen. Dem Geschehen zuzusehen ähnelt der wissenschaftlichen Beobachtung, mit Menschen zu reden, um von diesen bestimmte Informationen zu erhalten, entspricht der Grundidee wissenschaftlicher Befragungen, und die Suche von Informationen in Texten zum interessierenden Phänomen weist Parallelen zur wissenschaftlichen Inhaltsanalyse auf.

 

Wenngleich sich die wissenschaftlichen Datenerhebungen mittels Beobachtung, Befragung und Inhaltsanalyse durchaus deutlich von den angesprochenen Alltagspraktiken unterscheidet (die wissenschaftliche Beobachtung ist insbesondere systematisch angelegt und dokumentiert ihr Vorgehen ebenso wie ihre Ergebnisse) sind die Grundlogik des jeweiligen Vorgehens und die dabei auftretenden Probleme dennoch ähnlich gelagert. Diese entstehen bei der Gewinnung der nötigen Angaben (Können diese überhaupt erlangt werden?) und deren Interpretation (Können aus diesen die nötigen Informationen gezogen werden?). Aus der Analogie zwischen wissenschaftlicher Datenerhebung und alltäglichem Problemlösen lassen sich also nicht nur die grundlegenden Verfahren Beobachtung, Befragung und Inhaltsanalyse ableiten, sondern auch ihre Besonderheiten.

Eine Einschränkung der Beobachtung ist weitreichend: Es können nur Sachverhalte beobachtet werden, die sich beobachten lassen, also sinnlich oder apparativ von außen feststellen lassen. Dinge, die im Privaten, Geheimen oder im Inneren einer Person stattfinden, können nicht beobachtet werden. Bei zu untersuchenden Dingen, die beobachtet werden können und dürfen, treten typischerweise zwei weitere Fragen auf. Zunächst muss reflektiert werden, ob das Beobachtete natürlich war und nicht durch die Beobachtung selbst bzw. die Beobachter erst veranlasst oder in relevanter Weise beeinflusst wurde. Vor allem ist zu erwarten, dass Personen, die wissen, dass sie beobachtet werden, eher akzeptierte und sozial erwünschte Verhaltensweisen ausführen und unerwünschte vermeiden werden. In diesem Punkt weist die Beobachtung Parallelen zur Befragung auf, weil auch bei dieser typischerweise eher gewünschte Angaben gemacht und unerwünschte vermieden werden. Beide Verfahren sind also von möglicher Reaktivität betroffen. Das zweite Problem der Beobachtung liegt in der Identifikation und Interpretation beobachteter Aspekte. Beides ist stark abhängig von denjenigen, die die Beobachtung durchführen. Hier ergeben sich Parallelen der Beobachtung zur Inhaltsanalyse, da es bei beiden nötig ist, denjenigen, die die Datenerhebung ausführen, klar zu machen, wann Aspekte auf welche Art festzuhalten sind und wann nicht. Dadurch ergeben sich bei beiden Verfahren Probleme der Reliabilität bzw. der Objektivität. Beim Verständnis der wissenschaftlichen Beobachtung ist es deshalb nötig, an bestimmten Stellen auch die wissenschaftliche Befragung und die wissenschaftliche Inhaltsanalyse zu betrachten.

Basisverfahren der Datenerhebung


Die „wissenschaftliche Beobachtung“ ist der Gegenstand der weiteren Darstellung und wird ab jetzt zur Vereinfachung als „Beobachtung“ bezeichnet. Sie ist das klassische Verfahren, um Verhalten und Reaktionen von Personen zu erfassen. Hierin ist sie beiden anderen Datenerhebungsverfahren deutlich überlegen. In Inhaltsanalysen lassen sich nur Handlungsergebnisse der Autoren bzw. Produzenten der Text erfassen. Zwar umfassen die Texte selbst auch Handlungen der dargestellten Akteure. Diese sind aber nur sehr eingeschränkt als Indikatoren für Alltagshandlungen brauchbar, da ihre Darstellung stark von den Aufbereitungsregeln der jeweiligen Textsorte geprägt ist. Deshalb sagt der Umgang von Ärzten mit Patienten in Krankenhausserien wahrscheinlich mehr über die Produktionslogik von Serien aus als über den Krankenhausalltag. Solange es sich bei zu untersuchenden Verhaltensweisen um außergewöhnliche und bewusst ausgeführte Handlungen handelt, lassen sich diese auch in Befragungen ermitteln, z.B. dem Vorgehen beim Kauf eines teuren Fahrrades. Wird das interessierende Verhalten aber im Alltag oft und unbewusst ausgeführt, wie z.B. das Grüßen anderer Personen, lassen sich diesbezüglich kaum brauchbare Informationen erfragen. Beobachtungen sind auch dann als Mittel der Datenerhebung angezeigt, wenn mit dem Untersuchungsobjekt nicht angemessen kommuniziert werden kann, z.B. weil es noch nicht reden kann (wie Kleinkinder) oder Forschende und Untersuchte keine gemeinsame Sprache sprechen. Beobachtungsstudien sind zwar aufwändig, liefern aber, wenn es um Verhalten und Reaktionen von Menschen geht, alltagsnahe und aussagekräftige Ergebnisse. Phänomene, die quasi im Inneren einer Person stattfinden, die sein Wissen, seine Gefühle, Vorstellungen und Gedanken betreffen, lassen sich hingegen in der Regel nicht direkt beobachten. Eine Ausnahme stellen z.B. starke Emotionen wie Ekel dar, die sich über die Mimik einer Person erfassen lassen.

Wegen ihrer Stärken im Bereich der Erfassung von Verhalten und Reaktionen von Personen wird die Beobachtung in den unterschiedlichen sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Disziplinen bei Fragestellungen zum Alltagverhalten eingesetzt. Das betrifft in unterschiedlichen Fachdisziplinen unterschiedliche typische Anwendungsfelder der Beobachtung. Hier einige nicht systematisch ausgewählte Beispiele: In ethnologischen Studien wird beobachtet, wie sich das Alltagsleben in einfachen Gemeinschaften gestaltet oder wie sich Alltagspraxen in Subkulturen entwickeln und vollziehen. In der Soziologie wird beobachtet, wie der Alltag in Familien abläuft oder wie Alltagsgespräche stattfinden. Forschende in den Wirtschaftswissenschaften beobachten die Arbeitsweisen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenso wie das Kaufverhalten von Konsumentinnen und Konsumenten. In der Kommunikations- und Medienwissenschaft wird beobachtet, wie Kommunikatoren Medienangebote erstellen und das Publikum diese Medienangebote im Alltag nutzt. Aggressionsverhalten junger Erwachsener ist ebenso Gegenstand psychologischer Studien wie die Exploration eines Spielzimmers von Kleinkindern. In der Sportwissenschaft werden Sportlerinnen und Sportler beim Training und bei Wettkämpfen beobachtet. In Rahmen erziehungswissenschaftlicher Studien wird beobachtet, wie sich Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte im Unterricht verhalten oder Kleinkinder in Kitas untereinander interagieren. In der Politikwissenschaft wird das Verhalten von Politikern und Politikerinnen im Wahlkampf beobachtet oder diejenigen, die gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen, werden bei den dazu durchgeführten Handlungen beobachtend begleitet. In den Verkehrs- oder Geowissenschaften wird beobachtet, wie Personen Distanzen überbrücken und wie sie sich in bestimmten Verkehrssituationen verhalten. Selbst in medizinischen Studien wird beobachtet, wie die Kommunikation zwischen medizinischem Personal und Patientinnen und Patienten erfolgt oder welche gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen Menschen mit bestimmten Krankheitsrisiken zeigen. Die Liste der Disziplinen ließe sich problemlos erweitern. So unterschiedlich die aufgeführten Beispiele auch sein mögen, ein Merkmal haben sie alle gemeinsam: Es handelt sich um relativ eindeutige Verhaltensweisen, die sich gut extern beobachten lassen, aber kaum über Befragungen zu erheben wären, weil die Befragten die zu untersuchenden Verhaltensweisen eher unbewusst und beiläufig ausführen und deshalb über diese in Befragungen nur ungenau Auskunft geben können. Man könnte diese Beispiele als das klassische Terrain der Beobachtung bezeichnen.

Mit der Verbreitung von Computern und dem Siegeszug von Internet, sozialen Netzwerken und mobiler Kommunikation hat sich schließlich ein neuer Typ von Beobachtungsstudien entwickelt: die Beobachtung von Verhaltensspuren, die bei der Nutzung von digitalen Endgeräten und Angeboten anfallen. Durch Erfassung und Aufbereitung solcher Verhaltensspuren lassen sich große Teile des heutigen Arbeits- und Alltagsverhaltens nachvollziehen und analysieren. Je nachdem, welche technischen und inhaltlichen Bereiche der Kommunikation und welche Akteure man dabei betrachtet, lassen sich relevante Informationen für unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen und Fragestellungen generieren. Die Daten müssen dafür nicht mehr extra erhoben werden, da sie technisch sowieso anfallen. Sie müssen jedoch aufbereitet und analysiert werden, was gegebenenfalls auch einen erheblichen Aufwand mit sich bringen kann. Vordergründig mag diese Entwicklung in Richtung von Big-Data-Studien gehen. Das ist aber nicht zwangsläufig, da sich so auch typische qualitative und quantitative sozial- und verhaltenswissenschaftliche Studien mit Verhaltensspuren im Netz durchführen lassen.

Die umfassende Darstellung dieser Vielfalt an möglichen wissenschaftlichen Beobachtungsverfahren, ihrer methodischen Voraussetzungen und Implikationen ist Thema der folgenden Kapitel.