Diakonie - eine Einführung

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Diakonie - eine Einführung
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Heinz Rüegger, Christoph Sigrist

Diakonie – eine Einführung

Zur theologischen Begründung

helfenden Handelns

Theologischer Verlag Zürich

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de/ abrufbar.

Umschlaggestaltung

Simone Ackermann, Zürich

ISBN 978-3-290-17611-2 (Buch)

ISBN 978-3-290-17674-7 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2011 Theologischer Verlag Zürich

www.tvz-verlag.ch

Alle Rechte – auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotografischen und audiovisuellen Wiedergabe, der elektronischen Erfassung sowie der Übersetzung – bleiben vorbehalten.

Pfr. Dr. h. c. Ruedi Reich

ehem. Kirchenratspräsident

der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich

in Dankbarkeit

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil 1: Hinführung zum Thema

1. Die Ausgangslage

1.1 Bedeutungsfacetten des heutigen Redens von Diakonie

1.2 Geschichtliche Ausprägungen diakonischen Handelns

1.3 Die Frage nach der Identität von Diakonie: die zweifache Falle

1.4 Die Absicht dieses Buches

2. Nach dem Wesen von Diakonie fragen: methodische Überlegungen

2.1 Die Sache, nicht der Begriff steht im Zentrum

2.2 Gesamtbiblisch zurückfragen

2.3 Beim allgemein-menschlichen Helfen einsetzen

2.4 Zum Begriff des Helfens

2.5 Der Kontext prägt die Perspektive

Teil 2: Hintergründe

3. Biblische Grundlagen

3.1 Alttestamentliche Perspektiven

3.1.1 Hilfe als soziales Handeln im Kontext von Sippensolidarität

3.1.2 Das Gebot der Nächstenliebe

3.1.3 Theologisierung sozialer Forderungen

3.1.4 Die Erweiterung individuellen Helfens zu Ansprüchen kodifizierten Rechts

3.1.5 Engagement für die «Armen»

3.1.6 Errichtung von öffentlichen Räumen für die Klage von Not

3.1.7 Gottes Sein als Mit-Sein in Solidarität

3.1.8 Eine frühjüdische Vision sozialen Handelns

3.2 Neutestamentliche Aspekte

3.2.2 Das Gebot der Nächstenliebe

3.2.3 Das Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner

3.2.4 Die Rede vom Weltgericht

3.2.5 Die Goldene Regel

3.2.6 Gegenseitigkeit als Strukturprinzip des Helfens

3.2.7 Diakonie als allgemeine christliche Berufung und als kirchliches Amt

3.2.8 Zu Geschichte und Bedeutungsinhalten des Begriffs «diakonein»

4. Entwicklungen im Verlauf der Geschichte der Kirche

4.1 Alte Kirche

4.1.1 Diakonie als kirchliches Amt

4.1.2 Diakonie im Rahmen christlicher Staatsreligion

4.2 Mittelalter

4.2.1 Klösterliche Diakonie

4.2.2 Wohltätigkeit der Laien

4.2.3 Städtische Sozialreformen

4.3 Reformation

4.3.1 Luther

4.3.2 Zwingli

4.3.3 Calvin

4.4 Pietismus

4.5 Aufklärung

4.6 Diakonie im 19. Jahrhundert

4.6.1 Kampf gegen die Auswüchse der Industrialisierung

4.6.2 Innere Mission

4.7 Diakonie im 20. Jahrhundert

4.7.1 Der religiöse Sozialismus

4.7.2 Kirchliche Diakonie

Teil 3: Begründungen und Perspektiven

5. Helfendes Handeln im Zeichen der Menschenliebe Gottes

5.1 Prosoziales Verhalten als allgemein-menschlicher Wesenszug

5.1.1 Helfen ist menschlich

5.1.2 Nächstenliebe als schöpfungstheologisch zu deutendes Phänomen

5.2 Gott als Quelle aller Liebe

5.2.1 Gott als Liebe

5.2.2 Anonyme Diakonie

5.2.3 Kein christliches Monopol

5.2.4 Die Güte und Schönheit des Lebens wahrnehmen

5.3 Das Profilierungsproblem der Diakonie

5.3.1 Die Frage nach dem sogenannten Proprium der Diakonie

5.3.2 Die Problematik des Bedürfnisses, ganz anders zu sein

5.3.3 Der verhängnisvolle Sonderbegriff «diakonisch»

5.3.4 Menschlichkeit genügt

5.3.5 Verzicht auf Eigeninteressen

5.3.6 Religiöse/Spirituelle Diakonie

5.4 Die theologische Überhöhung helfenden Handelns unter diakonischem Anspruch

5.4.1 Diakonie zwischen Erlösungsperspektive und negativem Menschenbild

5.4.2 Helfen als Frucht des Glaubens

5.4.3 Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit

5.4.4 Zur sogenannten Diakonie der Versöhnung

5.4.5 «Diakonie ohne religiösen Mehrwert»

5.4.6 Theologie als Leitwissenschaft der Diakonie?

5.5 Helfen im Spannungsfeld von Professionalisierung und zivilgesellschaftlichem Engagement

 

5.5.1 Professionalisierung und Spezialisierung

5.5.2 Institutionalisierung

5.5.3 Standardisierung

5.5.4 Versachlichung des Helfens

5.5.5 Grenzen der Professionalisierung des Helfens

5.6 Angewiesensein auf Hilfe als Grundstruktur allen Menschseins

5.6.1 Die Schwierigkeit, eigene Hilfebedürftigkeit zuzulassen

5.6.2 Prioritäre Option für die Armen?

5.7 Diakonie als Grundfunktion der Kirche

5.7.1 Diakonie als Wesensäusserung von Kirche

5.7.2 Zur Fragwürdigkeit einer «Ableitungsdiakonie»

5.7.3 Gesamtauftrag der Kirche als Kontext

5.7.4 Diakonie ist nicht Verkündigung

5.7.5 Explizit religiöse/spirituelle Formen von Diakonie

5.7.6 Beziehung und Gemeinschaft

6. Orientierungspunkte helfenden Handelns

6.1 Diakonische Ethik – Ethik des Sozialen

6.1.1 Ethik im Dienste derer, die der Hilfe bedürfen

6.1.2 Ethik als selbstkritischer Suchprozess

6.1.3 Ethik des Sozialen

6.1.4 Widerstände

6.2 Liebe als Grundeinstellung und übergeordnetes Deutungsmuster

6.2.1 Liebe als Grundeinstellung

6.2.2 Die Bedeutung des Liebesgebots in christlicher Ethik

6.2.3 Mehrdimensionales Menschenbild

6.3 Menschenwürde als Anspruch und Verpflichtung

6.3.1 Menschenwürde zwischen Verabsolutierung und Relativierung

6.3.2 Normatives Würdeverständnis

6.3.3 Relativierendes Würdeverständnis

6.3.4 Ein inklusives Verständnis von Würde gewinnen

6.3.5 Helfen als Würdigung des Subjekt-Seins der Hilfebedürftigen

6.4 Helfen zwischen Respekt vor Autonomie und Fürsorge

6.4.1 Reflektierter Umgang mit Macht

6.4.2 Von paternalistischer Fürsorge zu autonomieorientierter Assistenz

6.4.3 Autonomie in Abhängigkeit

6.4.4 Hilfe zur Selbsthilfe

6.4.5 Professionalität und Fürsorge

6.5 Hilfebedürftigkeit und Hilfefähigkeit: der Aspekt der Reziprozität

6.5.1 Einander helfen

6.5.2 Barmherzigkeit

6.5.3 Korrektiv zum traditionellen Hilfeverständnis

6.6 Altruismus und Selbstliebe

6.6.1 Psychologische Kritik des Helfens

6.6.2 Selbstliebe

6.7 Hilfe zur Ermöglichung von gelingendem, begrenztem Leben

6.7.1 Lebensqualität

6.7.2 Umgang mit der Unvollkommenheit des Lebens

6.7.3 Gegen die «Tyrannei des gelingenden Lebens»

6.8 Individuum und Gesellschaft – Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

6.8.1 Gesellschaftliche bzw. politische Diakonie

6.8.2 Kuratives und präventives Handeln

6.8.3 Solidarität und Recht

6.8.4 Diakonie in sozialstaatlicher Einbindung

7. Der Markt des Helfens – Nächstenliebe im Wettbewerb

7.1 Die Ökonomisierung des Sozialen

7.2 Helfendes Handeln im wirtschaftlichen Kontext

7.3 Aufgaben und Grenzen der Ökonomie

7.4 Ethische Spannungsfelder

7.5 Hilfsbereiter Samaritaner und geschäftstüchtiger Wirt

Literaturverzeichnis

Fussnoten

Seitenverzeichnis

|13| Vorwort

In der Schweiz hat Diakonie nicht denselben Stellenwert wie in Deutschland, weder institutionell-quantitativ noch inhaltlich. Und so etwas wie einen eigenen diakoniewissenschaftlichen Diskurs gibt es hierzulande gar nicht: Das letzte Lehrbuch zur Diakonie, der verdienstvolle Band von Marc E. Kohler, erschien vor 20 Jahren; die letzte Monographie über die Geschichte der christlichen Diakonie von Gottfried Hammann vor beinahe einem Jahrzehnt. Aber Fragen im Blick auf diakonisches Handeln und dessen Begründung stellen sich natürlich trotzdem. Es scheint uns darum nötig, sie ernsthaft zu bearbeiten.

Das vorliegende Buch ist aus einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen den Autoren entstanden, die beide seit Jahren an zentraler Stelle im diakonischen Kontext tätig sind: Christoph Sigrist war Präsident des Diakonieverbands Schweiz, arbeitete als Fachmitarbeiter Diakonie in den gesamtkirchlichen Diensten der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich und hat neben seinem Pfarramt am Zürcher Grossmünster eine Dozentur für Diakoniewissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Bern inne. Heinz Rüegger war jahrelang als Schulleiter in der Ausbildung von Gemeindediakoninnen tätig und ist jetzt leitender Theologe in der Stiftung Diakoniewerk Neumünster–Schweizerische Pflegerinnenschule und wissenschaftlicher Mitarbeiter an deren Institut Neumünster.

Was das Schreiben dieses Buches veranlasste, war nicht zuletzt eine empfundene Malaise im Blick auf das Selbstverständnis mancher diakonischer Institutionen einerseits und überhöhte theologische Begründungen von Diakonie andererseits, die in der gängigen diakoniewissenschaftlichen Diskussion immer wieder anzutreffen sind. Diese Malaise rief nach einer kritischen Sichtung und Klärung, die in diesem Buch unternommen wird.

Was wir hier vorlegen, ist – wie der Titel deutlich macht – keine umfassende Darstellung der Diakonie und all ihrer Handlungsfelder. Es ist auch kein Handbuch für den diakonischen Praktiker oder die diakonische Praktikerin, die einfache Handlungsanleitungen suchen. Vielmehr sind die folgenden Kapitel der Versuch einer grundlegenden Einführung in die Diakonie, die sich insbesondere kritisch mit der Art und Weise auseinandersetzt, |14| wie herkömmlicherweise helfendes Handeln theologisch begründet wird. Das Buch versteht sich als ein Beitrag zum Selbstverständnis diakonischer Institutionen und zur Reflexion kirchlicher Diakonie.

Wo wir von anderen dankbar gelernt haben und wo wir uns von anderen kritisch abgrenzen, machen insbesondere die Fussnoten deutlich. Wer sich für solche Aspekte der Positionierung im grösseren diakoniewissenschaftlichen Diskurs nicht interessiert, kann problemlos auf die Fussnoten verzichten und sich mit der Lektüre des Haupttextes begnügen. Dem Verständnis unseres Gedankengangs tut dies keinen Abbruch.

Wenn wir das vorliegende Buch, das uns in seinem Entstehungsprozess fast ein Jahrzehnt lang begleitet hat, nun der Öffentlichkeit übergeben, so ist es unsere Hoffnung, dass es da und dort dazu anrege, sachlich und ohne falsche theologische Überhöhung von jener Wirklichkeit zu reden, die so tief zur Humanität unseres Daseins gehört: Dass wir nämlich alle zugleich hilfebedürftige und zur Hilfe befähigte Menschen sind und dass unser Leben an Tiefe und Farbe gewinnt, wenn wir bereit sind, sowohl Hilfe von anderen anzunehmen als auch ihnen nach Massgabe unserer Möglichkeiten Hilfe zu gewähren.

Eine Anzahl Personen haben das Manuskript vor Drucklegung gelesen und uns durch ihre Rückmeldungen geholfen, den Text zu verbessern. Wir danken ganz herzlich Vreni Burkhard und Stephan Schranz, die den Text von der Sozialarbeit herkommend aus der Perspektive kirchlicher Diakonie durchlasen. Unser Dank gilt ferner Sr. Dorothee von Tscharner, ehem. Oberin der Diakonischen Schwesternschaft Braunwald, die unser Manuskript aus der Optik ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mit der Mutterhausdiakonie Kaiserswerther Prägung kommentiert hat. Sodann sind wir Dr. Werner Widmer zu herzlichem Dank verpflichtet. Er las unsere Texte aus dem Blickwinkel des Ökonomen und Direktors eines grösseren Diakoniewerks. Grosser Dank gebührt schliesslich Wiss. Ass. Simon Hofstetter für die abschliessende Korrekturlesung und die Erstellung der Layout-

Fassung des ganzen Manuskripts.

Bücher zu schreiben, ist ein aufwendiges Geschäft; das gilt gleichermassen im Blick auf die Arbeit der Autoren wie auf die Kosten des Veröffentlichens. Darum danken wir der Stiftung Diakoniewerk Neumünster–Schweizerische Pflegerinnenschule und der Evangelisch-reformierten Landeskirche des |15| Kantons Zürich für Druckkostenzuschüsse, die das Zustandekommen dieser Publikation ermöglichten.

Wir widmen dieses Buch in Dankbarkeit Pfr. Dr. h. c. Ruedi Reich, ehem. Kirchenratspräsident der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, dem das soziale Engagement der Kirche immer ein wichtiges Anliegen war.

Zollikerberg/Zürich, Ende Mai 2011

Heinz Rüegger, Christoph Sigrist

|17| Teil 1: Hinführung zum Thema
|19| 1. Die Ausgangslage
1.1 Bedeutungsfacetten des heutigen Redens von Diakonie

Spricht man heute von «Diakonie» oder bezeichnet man eine Institution bzw. eine Tätigkeit als «diakonisch», kann man in der Schweiz nicht davon ausgehen, dass die Mehrzahl der Leute versteht, wovon die Rede ist. Manche können heute wohl gar nichts mit dem Begriff anfangen; andere haben nur sehr vage, einseitige Vorstellungen von den mit diesem Begriff bezeichneten Phänomenen. In Deutschland ist die Situation anders. Dort sind der Begriff Diakonie und das Kronenkreuz als gemeinsames Logo der diakonischen Werke relativ gut bekannt, stellt doch das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland einen der grossen nationalen Wohlfahrtsverbände dar, der mit einer grossen Zahl von Einrichtungen landesweit präsent ist, mit dem Diakonischen Werk einen starken Dachverband besitzt und als Zusammenschluss zahlreicher Werke einen der grössten Arbeitgeber Deutschlands darstellt.1 Entsprechend gibt es auf Hochschulebene zu Forschungs- und Ausbildungszwecken auch diakoniewissenschaftliche |20| Institute.2 Kurz: Diakonie ist in Deutschland – anders als in der Schweiz – ein Begriff.

 

Hierzulande assoziieren Menschen mit dem Begriff Diakonie wohl am ehesten Diakonissen, also die Tradition der Mutterhausdiakonie. Diakonissen fallen auf durch ihre Tracht und ihr ordensmässiges Leben. Durch ihre starke Konzentration auf die Krankenpflege waren sie lange Zeit ein prägender Faktor des Gesundheitswesens. Selbst heute noch besteht in Diakoniewerken, die von Diakonissen gegründet wurden, in deren operativer Führung Diakonissen aber nicht mehr involviert sind, manchmal eine Tendenz, das Diakonische an einem Diakoniewerk in der Existenz von Diakonissen zu sehen, auch wenn diese faktisch nur noch als Alterskommunität innerhalb eines Diakoniewerks leben. Nach diesem Verständnis ist etwas dann diakonisch, wenn es von ehelos lebenden Diakonissen als Ausdruck ihrer Glaubenspraxis und womöglich noch unentgeltlich, «um Gottes Lohn», getan wird.

Bei anderen dürfte Diakonie ein Handeln oder eine Institution bezeichnen, die zur Kirche gehört, also von einer christlich-kirchlichen Motivation und Trägerschaft ausgeht. Und wer am kirchlichen Leben teilnimmt, wird Diakonie vielleicht spezifisch mit der Arbeit von Sozialdiakoninnen und Sozialdiakonen3 in Verbindung bringen. Hier steht Diakonie dann für die Bezeichnung eines kirchlichen Amtes und der von ihm ausgeübten Tätigkeit. Nur wenigen dürfte bewusst sein, dass Diakonie meist zur Bezeichnung sozialer Aktivitäten von protestantischen Kirchen oder ihnen nahestehenden Gruppierungen verwendet wird, während auf katholischer Seite die gleichen Phänomene eher mit dem Begriff Caritas bezeichnet werden.4

Schliesslich werden wohl die meisten, die mit dem Begriff überhaupt etwas verbinden können, dabei an ein helfendes Handeln denken, das karitativen Charakter hat, also einen unmittelbaren Dienst am Mitmenschen darstellt. Strukturelle, gesellschaftlich-politische Fragen kommen dabei eher |21| nicht in den Blick. Vielmehr geht es nach diesem Verständnis um ein unmittelbares Helfen von Mensch zu Mensch.

Diese Bedeutungsfacetten des Begriffs Diakonie im allgemeinen, d. h. nicht wissenschaftlich präzisierten Sprachgebrauch spiegeln bei aller Diffusität unterschiedliche geschichtliche Ausprägungen christlich inspirierten sozialen Handelns wider.

1.2 Geschichtliche Ausprägungen diakonischen Handelns

Dass die biblische Botschaft von der Menschenliebe, wörtlich: von der Philanthropie Gottes (Tit 3,4), von ihrem Wesen her bei den Glaubenden in tätiger Liebe Ausdruck finden müsse, also in solidarischem Engagement für andere Menschen, die auf irgendeine Weise der Hilfe bedürfen, das gehört seit jeher zum Kerngehalt christlichen Glaubens. Welche konkrete Gestalten dieser Grundimpuls des Glaubens im Verlauf der Geschichte annahm, hing von verschiedenen Faktoren ab: von der Art der Nöte, die zum Handeln herausforderten; von den gesellschaftlich-politischen, den kirchlich-strukturellen und den ökonomisch-organisatorischen Rahmenbedingungen, die man vorfand; auch von der jeweiligen Theologie und Frömmigkeit, die eine bestimmte Gruppe von Christen prägte. Grundsätzlich aber lassen sich drei Formen mitmenschlicher Hilfe unterscheiden, in denen sich «christliche Liebestätigkeit»5 ausprägte.

1. Die eine ist das spontane, informelle Helfen einzelner Christinnen und Christen nach ihren jeweiligen Möglichkeiten angesichts einer konkret begegnenden Notsituation. Das ist individuelle Praxis konkreter Nächstenliebe oder Mitmenschlichkeit. Hier liegt gleichsam die Urform christlichen Helfens, sei es innerhalb der christlichen Gemeinschaft oder darüber hinaus in der Gesellschaft.

2. Mit der Zeit bildeten sich in der Alten Kirche Formen des Übertragens von grundlegenden Aufgaben an dafür bestimmte Personen heraus. So kam es zur Entwicklung von kirchlichen Ämtern, unter anderem des Diakonats. Ihm oblag die Fürsorge für die Bedürftigen in der Gemeinde. Wenn der altkirchliche Diakonat im Verlauf der Jahrhunderte auch unterschiedliche Formen annahm, zeitweise sogar seinen eigenständigen sozialfürsorgerlichen Charakter verlor und zu einer blossen Vorstufe des Priesteramtes verkam, war damit doch der Dienst sozialen Helfens als ein eigenständiges |22| kirchliches Amt eingeführt. Es markierte neben der Aufgabe der Verkündigung und derjenigen der Leitung eine Grundfunktion des Kircheseins: die Praxis der Nächstenliebe angesichts konkreter Situationen von Not und Leiden.

3. Schliesslich entwickelte sich eine dritte, nachhaltig wirksame Form sozialer Hilfe aus christlicher Nächstenliebe in der Gestalt klösterlicher Diakonie. Hier wurde das herausgebildet, was man später Anstaltsdiakonie6 nannte: Es entstanden Einrichtungen wie z. B. Hospize, in denen Fremde beherbergt, Kranke gepflegt und Sterbende begleitet wurden. Unser Spitalwesen geht auf diese Ursprünge zurück. Später wurden Aufgaben organisierter Diakonie etwa von geistlichen Bruder- oder Schwesternschaften (z. B. den Beginen), von Diakonissen oder von Vereinen der Inneren Mission wahrgenommen. Diese Form institutioneller, von christlichen Gemeinschaften innerhalb oder neben der institutionalisierten Kirche getragenen Hilfe bildet eine bis heute prägende Form christlichen Helfens.7

Alle drei Grundformen – die individuelle Praxis der Nächstenliebe, der Diakonat als kirchliches Amt und die Anstaltsdiakonie – existieren bis heute, z. T. nebeneinander, z. T. miteinander verbunden, und verkörpern das, was man gemeinhin mit dem Begriff Diakonie bezeichnet.