Sturm und Drang

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UTB 3398

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Christoph Jürgensen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen im Projekt „Geschichtslyrik“ der „Arbeitsgruppe zur Poetik lyrischer Literatur (Leitung Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Detering).

Ingo Irsigler ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien der Universität Kiel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detailliertere bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN der elektronischen Ausgabe: 978-3-8385-3398-8

ISBN 978-3-846-33398-3 (E-Book)

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-8252-3398-3

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Satz: Ruhrstadt Medien, Castrop-Rauxel

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Inhaltsverzeichnis

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Titel Impressum Hinweis zur Zitierfähigkeit Einleitung 1 - Begriffsgeschichte, Gruppenbildungen und Literaturpolitik

Eine kurze Begriffsgeschichte Gruppenbildung und Literaturpolitik Herders und Goethes „Secte“ in Straßburg Kooperation zwischen Frankfurt, Darmstadt und Gießen: Der legendäre Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen Inszenierung als „Parnassum in nuce“: Der Göttinger Hain Literatur

2 - „Lernt: Die Natur schreib in das Herz sein Gesetz ihm“: Ästhetik und Poetik

Der Dichter als „second Maker“: Die Genieästhetik Das vorbildliche Genie I: Herders Shakespeare-Aufsatz (1773) Das vorbildliche Genie II: Goethes Rede Zum Schäkespears Tag (1771) Zurück in die Zukunft: Die Volkspoesie Der Wurf der Wilden: Herders Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker (1773) Herders Alte Volkslieder (1774) und der Kampf ums Lied Literatur

3 - Die Lyrik des jungen Goethe

„da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf“ – Goethes Sesenheimer Gedichte „Zündkraut einer Explosion“: Die Hymne Prometheus Literatur

4 - „Stürzt, Paläste! Stürze, Tyrann!“: Lyrik als Medium der Kritik

Vorläufer Freiheitslyrik Volkspoesie und Sozialkritik: Die Balladen Bürgers Literatur

5 - Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774)

„Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt“: Werthers Psyche Die Darstellung der Leidensgeschichte in Briefen: Zur Form des Romans „Klopstock!“ Werther als emphatischer Leser Rezeption Literatur

6 - Der große Mann als Modernisierungsverlierer: Goethes Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (1773)

Von den Fakten zur Fiktion Der Fehdehandschuh ist hingeworfen: Zu Form und Inhalt des Götz Der „notwendige Gang des Ganzen“ und die Freiheit des Einzelnen – Götz als Modernisierungsverlierer Die zeitgenössische Rezeption Literatur

7 - Lenz oder Die Geburt des Milieudramas aus dem Geiste des Sturm und Drang

Zur Biographie Lenz’ Die Komödie ist die neue Tragödie: Lenz’ Anmerkungen übers Theater (1774) Der Hofmeister als Tragikomödie über das akademische Prekariat Literatur

8 - Der Bruderkonflikt im Drama des Sturm und Drang

„Ihr stahlt mir alles und gabts ihm“: Friedrich Maximilian Klingers Die Zwillinge „Du kannst nichts tun, ohne die Liebe zu fragen, ich nichts, ohne die Ehre“: Johann Anton Leisewitz’ Julius von Tarent „alles entartet unter den Händen des Menschen“ (J.J. Rousseau): Zum Erziehungsdiskurs in den Bruderdramen Kain und Abel revisited Literatur

9 - Summe, Überbietung, Nachhall – Schillers Die Räuber (1781)

Die paratextuelle Inszenierung der Räuber Das häßliche Genie Franz Moor „O über mich Narren“: Das Kraftgenie Karl Moor Ein kurzer Schluss zum langen Abschied Literatur

Serviceteil Literatur

 

1. Siglenliste 2. Primärliteratur 3. Sekundärliteratur

Einleitung

„Entfernt von aller Wohnung, ja von allem betretenen Fußpfad“, erinnert sich Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit an eine fern zurückliegende ‚Jugendsünde‘, „fanden sie es hier ganz unverfänglich, die Kleider abzuwerfen und sich kühnlich den schäumenden Stromwellen entgegen zu setzen; dies geschah freilich nicht ohne Geschrei, nicht ohne ein wildes, teils von der Kühlung, teils von dem Behagen aufgeregtes Lustjauchzen [ … ]. “ ‚Sie‘, das sind die Brüder Stolberg, mit denen der europaweit berühmte Verfasser des Götz und der Leiden des jungen Werthers im Jahr 1775 eine Reise in die Schweiz unternahm, angetreten in ‚Werther-Tracht‘, in blauem Rock mit gelber Weste, gelben Hosen und runden grauen Hüten, um den Zwängen der Gesellschaft und unglücklichen Liebschaften zu entkommen. Und Goethe? „Ich selbst will nicht leugnen, daß ich mich im klaren See mit meinen Gesellen vereinte.“ Das ausgelassene Nacktbaden konnte allerdings nicht lange genossen werden, denn bald mussten sie „aus dem oberen stummen Gebüsch herab Steinwurf auf Steinwurf erfahren“. (HA, Bd. 10, S. 153f.)

Eine kleine, unbedeutend erscheinende Szenerie nur, und doch veranschaulicht sie, wofür die Protagonisten des Sturm und Drang standen, die in dem Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780 die deutsche Literatur ‚revolutionierten‘: Denn sichtbar wird in ihr zunächst die grundsätzliche Bedeutung des Freundschaftskults, das Bewusstsein für Gruppenbindungen, ohne die sich der Sturm und Drang nicht verstehen lässt. Zudem illustriert sie beispielhaft die Selbstdarstellung der Stürmer und Dränger als ‚Popstars‘ avant la lettre, als junge avantgardistische Autorengeneration, die gegen die Konventionen der Gesellschaft verstoßen, d.h. sich emanzipieren will von dem bürgerlichen Bändigungszwang und ihre Individualität bzw. ‚Natu r‘ ausleben will. Damit inszenieren sie sich hier, wenn man so will, als derjenige Künstler- und Menschentyp, von dem ihre Dramen und Gedichte immer wieder handeln: als ‚Kraft‘- oder ‚Originalgenies‘, die ihre Leidenschaften frei entfalten und von innen heraus leben können, die Ausdruck nicht der Kultur, sondern der Natur sind. Und bezeichnenderweise lebt sich die Natur der Stürmer und Dränger hier nicht in irgendeiner Landschaft aus, sondern in den erhabenen Gebirgen der Schweiz, die im 18. Jahrhundert, namentlich dank Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen (1732) und Salomon Gessners Idyllen (1756) geradezu zum „Natur-Park der Kultivierten“ (Adolf Muschg), zu einem neuen Arkadien avanciert war. Schließlich präsentiert die Szene mit Goethe die Zentralgestalt des Sturm und Drang. Goethe war zum einen verbindendes Glied der verschiedenen Autoren-Zirkel in Straßburg, Frankfurt und Darmstadt und er veröffentlichte zum anderen die sowohl zeitgenössisch resonanzträchtigsten als auch am nachhaltigsten wirkenden Texte der Strömung (wie den schon genannten Werther oder den Götz). Alles in allem hat er die literarische Öffentlichkeit seiner Zeit in einer Weise geprägt, dass sie in Literaturgeschichten häufig nach ihm benannt ist: als ‚Goethezeit‘. Ausgehen kann man übrigens davon, dass der Geheime Rat Goethe sich in der Erinnerung zwar, um im Bild zu bleiben, eher in die Kulisse als den Vordergrund der Bühne stellt, als würde er dem „dichterischen Tumult“ nüchtern zuschauen. Tatsächlich aber wird er mittendrin statt nur dabei gewesen sein, denn Friedrich Leopold Graf zu Stolberg erinnert ihn als einen „wilde [n], unbändige [n,] aber sehr gute[n] Jungen“. Außerdem war er ja trotz eines überlieferten Unbehagens an dieser Inszenierung der Identität von Leben und Werk wie seine Begleiter werbewirksam im Werther-Habit gereist und so offensichtlich maßgeblich und bewusst beteiligt an der Präsentation der Gruppe als ‚Junge Wilde‘ der Literatur.

Unsere Szene fängt den Sturm und Drang auf seinem ästhetischen wie konjunkturellen Höhepunkt ein, aber sie ist eine Momentaufnahme, sozusagen ein Schnappschuss aus dem ‚kurzen Sommer der Anarchie‘. Im wohl produktivsten Jahr 1776 erschienen noch einige poetisch hochrangige und thematisch innovative Dramen wie Lenz’ Die Soldaten, Klingers Die Zwillinge oder Wagners Die Kindermörderin, doch danach läuft die Strömung schnell aus – auch in Folge von Goethes Übersiedelung nach Weimar Ende 1775 und seinem Dienstantritt als Geheimer Legationsrat. Mit diesem Umzug bricht die bindende Gruppenkultur weg und die Versuche von Klinger und Lenz, ebenfalls in Weimar Fuß zu fassen, enden jeweils im Fiasko, im Zerwürfnis mit Goethe: Der Rollenwechsel Goethes vom autonomen Dichter zum dichtenden Staatsbeamten ließ ihn nicht länger an individuellen Dichterfreundschaften im Zeichen des Geniekults interessiert sein. Lenz, Gerstenberg und Maler Müller verstummen literarisch, Wagner stirbt früh an Lungentuberkulose und Schubart sitzt seit 1777 auf der Bergfestung Asperg in Haft. Kurzum: Wenige Jahre nach ihrem viel versprechenden Anfang ist die ‚Bewegung‘ schon wieder zu Ende.

War der Sturm und Drang also ein sehr kurzlebiges Phänomen, so ist damit nicht gesagt, dass er nur eine geringe Bedeutung für die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte hatte. Das Gegenteil ist der Fall: Mit ihm unternahm die deutsche Literatur gleichsam ihren Aufbruch in die Moderne. Nachhaltig gewirkt hat in diesem Sinne sowohl das neue Konzept von Autorschaft, das die ‚Stürmer und Dränger‘ propagierten, als auch das neue Verständnis von Natur, Gefühl und Sexualität sowie die Entdeckung der Nachtseite der Vernunft, die Aufwertung des Irrationalen, das die Aufklärung aus ihrem Menschenbild noch ausgeschlossen hatte. Und insgesamt nimmt der Sturm und Drang maßgeblich Teil an den gesellschaftlichen Umwälzungen in der ‚Sattelzeit‘ (Reinhart Koselleck), in der das gesellschaftliche wie politische Denken eine tiefgreifende Veränderung erfuhr und Begriffe wie Staat, Republik und Bürger ihre heutige Bedeutung aufgeprägt bekamen.

Das Buch will das Profil dieser literarischen Strömung in klar erkennbaren Umrissen nachzeichnen. Dazu ist eine Beschränkung auf eine Auswahl der wichtigsten Autoren und Werke notwendig, an denen sich die Eigenarten des Sturm und Drang exemplarisch verdeutlichen lassen. Ausgehend von einer kurzen Begriffsgeschichte sowie einer Skizze der sozial-, geistes- und literaturgeschichtlichen Rahmenbedingungen, in denen sich der Sturm und Drang entwickelte, sollen daher die zentralen Gattungen anhand der in Schule wie Studium immer wieder behandelten Texte erläutert werden. Die eigene Lektüre soll und kann durch diese Einführung natürlich nicht ersetzt werden, aber sie will das Verständnis durch den Hinweis auf zentrale Charakteristika, auf formale Strukturen und thematische Schwerpunkte des Sturm und Drang erleichtern.

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Begriffsgeschichte, Gruppenbildungen und Literaturpolitik

Die beiden Einzelbegriffe ‚ Sturm‘ und ‚Drang‘ lassen sich schon seit Beginn der 1770er Jahre als Ausdruck der inneren wie äußeren Aufbruchsstimmung der jungen ‚Literaturrevolutionäre‘ nachweisen. Die Karriere der Formel ‚Sturm und Drang‘ begann aber erst mit einem Drama Friedrich Maximilian Klingers. Klinger hielt sich im Oktober 1776 in Weimar auf und arbeitete an einem Stück, das ursprünglich – übrigens durchaus seine Struktur treffend – Der Wirrwarr heißen sollte. Dann allerdings, erinnert sich Klinger in einem späten Brief an Goethe vom 26. Mai 1814, ‚drängte‘ der durchreisende Christoph Kaufmann (1753 – 1795) ihm den alternativen Titel Sturm und Drang geradezu „mit Gewalt“ auf – und die literarische Öffentlichkeit hatte nun ein Schlagwort für den ‚Kampf‘ um die richtige Lebens- und Schreibhaltung.

Eine kurze Begriffsgeschichte

Bezeichnend ist Heinrich Leopold Wagners Verteidigung seines ‚Verbündeten‘ Klinger kurz nach der wenig erfolgreichen Aufführung des Stücks in Frankfurt:

Wie heißt das Stück? Fragte fast jedermann, als es verwichnen Sonnabend angekündigt wurde: Sturm und Drang! – Sturm und – – ? Und Drang! Mit dem weichen D und hinten ein g; ja nicht mit dem harten T oder dem ck! So, so! Sturm und Drang also! – […] wenn sie beym Titel nichts fühlen, kann ihnen das Stück selbst unmöglich behagen. Ich finde es sehr lobenswürdig, daß er diese abstrakte, metaphysische – gewiß nicht zu viel anziehende – Ueberschrift |11◄ ►12| gewählt hat; […] wer die drey Worte anstaunt, als wären sie chinesisch oder malabarisch, der hat hier nichts zu erwarten, mag immerhin ein alltägliches Gericht sich auftischen lassen. (Heinrich Leopold Wagner: Briefe, die Seylerische Schauspielergesellschaft betreffend, 1777. Zit. nach Klinger 1970, S. 78).

Aber die Formel diente in der Folge, wie angedeutet, nicht nur zur apologetischen Auf-, sondern auch vielfach zur polemischen Abwertung des ‚literaturrevolutionären‘ Programms und seiner Autoren. Um nur zwei Beispiele aus der langen Reihe abschätziger Verwendungen herauszugreifen: So findet sich in Friedrich Traugott Hases Roman Geschichte eines Genies (1780) die spöttische, den Akzent vom Ästhetischen auf das Psychologische verschiebende Bemerkung über eine Protagonistin: „Es war daher so viel Sturm und Drang in ihr (und das mag ein mitleidenswürdiger Zustand seyn, denn wer bejammert nicht den Mann, der diese Verfassung der Seele öffentlich hat kund werden lassen?), daß sie im Grunde nicht wußte, was sie that.“ Wie ein triumphierender Abgesang auf die Strömung klingt dann die Notiz in der Nürnbergischen gelehrten Zeitung vom 29. Juni 1781: „Die Steckenpferde der Empfindsamkeit, des Sturms und Drangs sind, Gottlob! jezt größtentheils von den Büchermachern so steif und lahm geritten, daß man selten mehr, als Knaben oder Kranke, damit auf die Leipziger Buchmesse traben sieht.“

Ablesen lässt sich diesen Belegen, dass die Wortverbindung ‚Sturm und Drang‘ bereits Ende der 1770er Jahre als Formel etabliert war, „mit deren Hilfe der Anspruch der jungen Sturm-und-Drang-Autoren auf Originalität und Genialität als ästhetisch inakzeptabel zurückgewiesen und psychologisierend als Entwicklungsstufe abgewertet wurde“ (Luserke, S. 33; dort finden sich weitere Belegstellen).

Als literaturgeschichtlicher Periodisierungsbegriff setzte sich die Formel allerdings erst später durch, und zwar erstens, weil die Autoren und ihre Zeitgenossen kein Bewusstsein davon hatten, eine zusammenhängende ‚Epoche‘ zu bilden, und zweitens, weil solche Periodisierungen grundsätzlich Ex-post-Konstruktionen sind, d.h.: Epochen sind theoretische Konstrukte der Literaturgeschichte, Ergebnis von Periodisierungshypothesen, und gerade keine Entitäten – es gibt eine Epoche nicht, wie es die Stadt Straßburg gibt. Um nur die wichtigsten Stationen dieser Entwicklung in unserem Fall zu nennen: Die Umwidmung der Formel zu einer literarhistorischen Kategorie begann damit, dass August Wilhelm Schlegel im dritten Teil seiner Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801 – 1804) die „herrlichen Anlagen“ von Maler Müllers Faust-Fragment lobte, aber monierte, dass diese Anlagen durch „die üblen Manieren der damaligen Sturm- und Drang-Periode entstellt |12◄ ►13| werden“. Mit mehr Sympathie blickt Ludwig Tieck dann in seinem Essay Goethe und seine Zeit (1828) auf diese „fast wunderbaren Jahre“ und bedauert, dass den „neueren Kritikern und Erzählern [ …] fast nur der stehende Beiname der Sturm- und Drangperiode im Gedächtniß geblieben“ sei. Und der endgültige Durchbruch der Formel zur literaturgeschichtlichen Epochenbezeichnung erfolgte dann 1869 mit Hermann Hettners Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, deren dritter Band Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur einen Abschnitt zur „Sturm- und Drangperiode“ aufweist.

Gruppenbildung und Literaturpolitik

Zwar besaß der Sturm und Drang kein Zentrum, mit dem er dauerhaft verbunden war, wie zuvor die Berliner oder Züricher Aufklärung oder später die Weimarer Klassik. Aber entscheidend für seine Entwicklung war die Bildung lockerer, jeweils nur kurz bestehender Zirkel gleichgesinnter Autoren in Straßburg, Frankfurt, Darmstadt und Göttingen, die sich mündlich und brieflich über Literatur austauschten, gemeinsam auf Reisen gingen und vor allem gemeinsame ästhetische Positionen entwickelten und literarische bzw. literaturpolitische Feindschaften über die Stadtgrenzen hinaus pflegten. Etwas zugespitzt lässt sich die Bewegung daher geradezu als „Resultat einer Gruppenbildung“ (Sauder) bezeichnen. Aber warum waren diese Gruppenbildungen so wichtig für die Jungen Wilden, warum diese literarische Bündnispolitik? Prinzipiell lässt sich das literarische Feld mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu als „Kampfplatz“ verstehen, auf dem nach spezifischen Regeln darum gestritten wird, welches die ästhetischen und moralischen Kategorien zur Beurteilung von Literatur sind, und mehr noch: was überhaupt unter ‚Literatur‘ zu verstehen ist und wer die Definitionsmacht über diesen Begriff hat. Dementsprechend herrscht eine große Konkurrenz von Akteuren und Gruppen auf diesem Feld, die jeweils deutlich machen müssen, wie sich ihr Angebot von anderen Angeboten unterscheidet und warum es besser ist. Wie für jeden anderen Markt gilt auch für den Marktplatz Literatur, dass ein Angebot zunächst sichtbar gemacht, d.h. Aufmerksamkeit erregen muss, beispielsweise durch öffentlichkeitswirksame Gesten der Abgrenzung oder Überbietung.

 

Dementsprechend gehört es grundsätzlich zur Strukturlogik des literarischen Feldes, dass Schriftsteller sich und ihre Werke inszenieren müssen, um die Währung ‚Aufmerksamkeit‘ zu kassieren. In der zweiten |13◄ ►14| Hälfte des 18. Jahrhunderts nimmt dieser Inszenierungsdruck allerdings dadurch erheblich zu, dass sich die Strukturen der literarischen Öffentlichkeit auf die heutigen Rahmenbedingungen für die Produktion und Rezeption von Literatur hin zu wandeln beginnen. Der Buchmarkt kapitalisiert sich, indem die Buchhändler vom wechselseitigen Tausch der Druckbögen zum Verkauf der Bögen gegen Geld übergehen. Zudem steigen Nachfrage und Angebot praktisch im Gleichschritt rasant an: Das Lesepublikum vergrößert sich sprunghaft, es lesen immer mehr Menschen aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung – vor allem ‚Frauenzimmer‘, wie es damals hieß. Und nicht nur das Publikum, sondern auch die Lesehaltung verändert sich, von einer intensiven zu einer extensiven Lektüre. Statt wenige Bücher wie die Bibel oder religiöse Erbauungsschriften immer wieder zu lesen, ‚verschlingt‘ das neue Publikum immer neue Bücher. Folgerichtig zieht auch die Buchproduktion an, um dieses gesteigerte Bedürfnis nach neuem Lesestoff zu befriedigen. Allein im Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780 verdoppelt sich die Zahl der Schriftsteller in Deutschland von ca. 3000 auf ca. 6000 und die Buchproduktion verzehnfacht sich im Zeitraum zwischen 1770 und 1800 sogar. Chancen wie Probleme dieser Entwicklung liegen auf der Hand: Einerseits wächst die Freiheit der Schriftsteller, ihr Handlungsspielraum, und es beginnt sich (langsam) eine freie, autonome Autorschaft im heutigen Sinne herauszubilden; andererseits wächst mit der Zahl der Anbieter von Literatur auch der Konkurrenzdruck enorm und damit die Notwendigkeit, sich öffentlichkeitswirksam zu inszenieren und zu positionieren.

In dieser Umbruchsituation betritt die junge Autorengeneration also das literarische Feld. Dessen gewichtige Positionen sind vor allem von dem Autorenkartell der Aufklärung und Protagonisten wie Friedrich Nicolai (1733 – 1811) besetzt – und die Literaturrevolutionäre setzten quasi Kartellbildungen dagegen, um sich und ihre häretischen Programme gegen die orthodoxe Aufklärung resonanzträchtig in Stellung zu bringen.

Herders und Goethes „Secte“ in Straßburg

Zunächst formiert sich eine wichtige personelle Konstellation in Straßburg. Dort unterhielt der Aktuarius Johann Daniel Salzmann (1722 – 1812) ab 1770 eine Tischgesellschaft von Studenten, die rasch größere Aufmerksamkeit als die schon länger bestehende Straßburger „Société de Philosophie et Belles-Lettres“ erregte und die literaturpolitische Meinungsführerschaft vor Ort übernahm. Bald wurde der Zirkel aber auch |14◄ ►15| über die Grenzen der Stadt hinaus in seinem Anspruch wahrgenommen, die literarische Avantgarde zu sein. Verantwortlich für diese Resonanzgewinne waren vor allem zwei ‚Neuzugänge‘: Zunächst trifft Goethe am 4. April 1770 in Straßburg ein, wo er sein Jurastudium fortsetzen wollte, stößt kurz danach zu dieser Tischgesellschaft und nimmt fortan teil an ihren Gesprächen über Kunst, Literatur und Studium und dem Vortrag eigener Texte sowie an gemeinsamen Reisen ins Elsass, nach Lothringen und Sesenheim – und auf Sesenheim werden wir zurückkommen, wenn es um die Lyrik des jungen Goethe geht, denn dort lernte er Friederike Brion kennen und erfand für sie die ‚Erlebnislyrik‘.

Institutionalisiert waren diese Zusammenkünfte nicht, sehr wohl aber ritualisiert und erkennbar auf die Bildung eines Gruppenbewusstseins gerichtet. So erinnert sich Goethe in Dichtung und Wahrheit: „Ohne die äußeren Formen, welche auf Akademien so viel Unheil anrichten, stellten wir eine durch Umstände und guten Willen geschlossene Gesellschaft vor, die wohl mancher Andere zufällig berühren, aber sich nicht in dieselbe eindrängen konnte.“ (HA, Bd. 9, S. 373) Und aufgrund einer ‚natürlichen‘ Autorität, schildert Jung-Stilling in seiner Lebensgeschichte später seine Eindrücke von der Gruppenordnung, rückte Goethe schnell zur führenden Figur dieser geschlossenen Gesellschaft auf, hatte „die Regierung am Tisch“, „ohne daß er sie suchte“.

Am 5. September 1770 kommt dann allerdings eine noch größere Autorität nach Straßburg, die sich im Gegensatz zu Goethe und seinen Tischgenossen schon einige literarische Meriten erworben hat: Johann Gottfried Herder. Das Zusammentreffen zwischen Herder und Goethe ist immer wieder als ‚Geburtsstunde‘ des Sturm und Drang bezeichnet worden: Zwar wird das role model Herder nicht Mitglied der Tischgesellschaft, nimmt aber Kontakt zu deren Mitgliedern und vor allem zu Goethe auf, der ihn häufig besucht. Goethe selbst hat die Begegnung mit Herder als „das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte“ eingeordnet: In ihren Gesprächen wird der angehende Autor Goethe von dem älteren Herder viel kritisiert, gelegentlich durchaus sarkastisch, erhält aber auch Bestätigung für viele seiner ästhetischen Ansichten sowie durch den Hinweis auf die Volkspoesie und das Vorbild Shakespeare wesentliche Anregungen für sein Literaturverständnis. Diese erste Phase des Sturm und Drang im engeren Sinne dauert nur ein halbes Jahr, weil Herder schon im April 1771 wieder abreist. Sie wirkt aber als ästhetischer Impuls fort, sowohl in der Bewegung im Allgemeinen als auch in gemeinsamen Veröffentlichungen wie dem Aufsatzband Von deutscher Art und Kunst (1773) im Besonderen. Und diese Form der |15◄ ►16| Bündnispolitik ist durchaus wahrgenommen worden: So bemerkt beispielsweise Christian Heinrich Schmid (1746-1800) in Wielands Teutschem Merkur (1774): „Noch immer ertönen von allen Seiten die Klagen über die Secten, und Spaltungen, welche auf unserem Parnasse herrschten. “ – und stimmt dann in die Klagen ein, indem er der „Secte“ gut aufklärerisch ihre „Neuerungssucht“ vorwirft.

Bevor dann auch Goethe im August 1771 nach der abgeschlossenen Promotion zum Lizentiaten der Rechte aus Straßburg abreist, um in Frankfurt als Anwalt zu arbeiten, ergibt sich noch eine weitere Bekanntschaft, die sich entscheidend auf die weitere Entwicklung des Sturm und Drang auswirken sollte. Im Mai 1771 kommt nämlich Lenz nach Straßburg, schafft die Aufnahme in den inner circle bei Salzmann, wird in den Publikationsorganen der Zeit bald als erster Freund und Nachahmer Goethes bezeichnet und orientiert sich tatsächlich so stark an ihm, dass Daniel Schubart Lenz’ Drama Der Hofmeister im Augustheft 1774 seiner Deutschen Chronik für ein Werk „unsers Shakespears, des unsterblichen Dr. Göthe“ hält.

Im Gegensatz zu Goethe blieb Lenz mit kurzen Unterbrechungen bis 1776 in Straßburg und engagierte sich in der „Société de Philosophie et Belles-Lettres“ (die im Jahr 1775 auf sein Betreiben hin in „Deutsche Gesellschaft“ umbenannt wurde), um für sich und andere deutsche Autoren ein breit wahrgenommenes Forum zu etablieren. Der Erfolg dieser literaturpolitischen Aktivitäten blieb allerdings mäßig, wie Lenz in einem Brief an Goethe eingestehen muss. Überhaupt blieb Straßburg zwar auch nach der Abreise der beiden ‚Sektenführer‘ Herder und Goethe gelegentlicher Treffpunkt der jungen Autoren und somit bedeutungsvoll für ihr Gruppenbewusstsein, wie eine Inschrift auf dem Turm des Straßburger Münsters bezeugt, auf der sich neben der Jahreszahl ‚1776‘ die Namen von 21 Autoren der jungen Generation finden, unter ihnen die Brüder Stolberg, Goethe, Lenz, Wagner, Schlosser, Herder und Lavater. Aber die Musik spielte mittlerweile längst anderswo: in Frankfurt, Darmstadt und Gießen.

Kooperation zwischen Frankfurt, Darmstadt und Gießen: Der legendäre Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen

Hatte Goethe in Straßburg noch die Rolle des ersten ‚Schülers‘ von Herder eingenommen, so bildete sich in Frankfurt ein literarischer Zirkel |16◄ ►17| mit dem Heimkehrer als unumstrittenem Mittelpunkt heraus. Über seinen Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck stellte sich überdies der Kontakt dieses Zirkels zu einer Gruppe empfindsamer Literaturfreunde in Darmstadt her, aus dem eine der resonanzträchtigsten literaturpolitischen Aktivitäten des Sturm und Drang resultierte: die Neugründung der Frankfurter gelehrten Anzeigen. Für ein Jahr, einen legendären ‚Jahrgang 1772‘ war dieses Publikationsorgan die literaturkritische Plattform, auf der sich die jungen Autoren präsentierten, d.h. ihr Programm artikulierten und Stellung bezogen gegen die Vertreter der Aufklärung, deren ästhetische Maßstäbe und deren Rezensionspraxis.

Herausgegeben von Merck und Johann Georg Schlosser, erschienen die Frankfurter gelehrten Anzeigen zweimal wöchentlich und publizierten im Jahr 1772 104 Artikel, 396 Rezensionen und 36 Nachrichten „eher persönlicher Art“ (Gerhard Sauder). Die Beiträger rekrutieren sich aus dem Darmstädter Kreis um Merck und Herder (dessen Verlobte und spätere Frau Caroline Flachsland zu den Darmstädter ‚Empfindsamen‘ gehörte), dem Frankfurter Kreis um Goethe und einem Gießener Kreis um Karl Friedrich Bahrdt (1741 – 1792), ergänzt um einige ‚auswärtige‘ unregelmäßige Mitarbeiter. Insgesamt sind ca. 40 Rezensenten beteiligt, wobei die meisten Beiträge von Goethe, Merck, Schlosser, Petersen und Herder verfasst wurden. Nicht in allen Fällen ist die Verfasserschaft allerdings eindeutig zu klären, weil die Werke gelegentlich zunächst von einem der Bündnispartner referiert und dann diskutiert wurden, bevor einem Protokollführer die Aufgabe zufiel, eine „Protokoll-Rezension“ anzufertigen.

Klar vernehmlich spricht sich der Gruppencharakter der Zeitschrift und ihre Opposition gegen das Interessenkartell der Aufklärung gleich in ihrer Ankündigung durch den Verleger aus:

Eine Gesellschaft Männer, die ohne alle Autorfesseln und Waffenträgerverbindungen im stillen bisher dem Zustand der Litteratur und des Geschmacks hiesiger Gegenden, als Beobachter zugesehen haben, vereinigen sich, um dafür zu sorgen, dass das Publikum von hieraus nicht mit unrichtigen, oder nachgesagten, oder von den Autorn selbst entworffenen Urtheilen getäuscht werde. (Zit. nach Frankfurter gelehrte Anzeigen, Neudruck Heilbronn 1883, S. XXXI).

Die erste Nummer der Zeitschrift vom 3. Januar 1772 wird dann von einer programmatisch zu verstehenden „Nachricht an das Publikum“ eingeleitet: Erfasst werden sollten „nur die gemeinnützigen Artikel in der Theologie, Jurisprudenz und Medizin“, das „Feld der Philosophie, der Geschichte, der schönen Wissenschaften und Künste“ hingegen „in seinem ganzen Umfange“. Außerdem sollte dafür gesorgt werden, dass dem |17◄ ►18| „Liebhaber der englischen Literatur [ …] kein einziger Artikel, der seiner Aufmerksamkeit würdig ist, entgehe“ (S. 3). Auf den ersten Blick mutet diese ‚Nachricht‘ nicht gerade ‚literatur-revolutionär‘ an, wie ein spektakulärer Neuanfang nach dem Bruch mit der Praxis aufklärerischer Literaturkritik. Neu war immerhin der Verzicht darauf, alle Neuerscheinungen besprechen zu wollen, wie es Anspruch des renommiertesten Konkurrenzunternehmens, des von Friedrich Nicolai herausgegebenen Rezensionsorgans Allgemeine deutsche Bibliothek war. Neu war auch die Bevorzugung englischer Literatur, die gegen den französischen Klassizismus ausgespielt wurde. Neu aber – bzw. neu in Gewichtung und Interpretation – waren vor allem die ästhetischen Hochwertbegriffe, die die Anzeigen zunehmend stärker exponierten: Genie, Gefühl und Natur. Gefeiert wurden etwa der „Blitzstrahl des Genies“ (S. 49) bei Klopstock oder Shakespeares Werke dafür, „fliegende Blätter aus dem großen Buche der Natur, Chroniken und Annalen des menschlichen Herzens“ (S. 144) zu sein. Und über den Einzelfall hinaus galt prinzipiell das poetologische Credo: „Die Dichtkunst und alle schönen Künste strömen aus den Empfindungen, sind nur den Empfindungen gewidmet und sollten nur durch sie beurteilt werden“, womit die Individualität zur zentralen Kategorie der Produktion und Rezeption des ‚Kunstschönen‘ aufgewertet war.