Die Rosenlady und der Sekretär

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Die Rosenlady und der Sekretär
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Die Rosenlady und der Sekretär

Christine Meiering

DIE ROSENLADY UND DER SEKRETÄR

ENGELSDORFER VERLAG

LEIPZIG

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

PROLOG

Unseren betagten Schreibsekretär aus der Zeit der ‚regency period‘ vor Augen, malte ich mir seine mögliche Vorgeschichte in den farbigsten Bildern aus. Wenn dieses Möbelstück doch nur erzählen könnte! Nun, da es schwerlich möglich sein dürfte, dem guten Stück trotz allem guten Zuredens auch nur den kleinsten Ton zu entlocken, müssen wir schon die Schätze, die in seinem Inneren schlummern, selbst aufzuspüren versuchen, sofern sie von geschichtsbewussten Menschen über Jahrzehnte und Jahrhunderte lang in Ehren gehalten worden sind.

Lebensgeschichten können spannend sein und über Raum und Zeit einer bestimmten Epoche Aufschluss geben. Während ich mir überlegte, dass in männerdominierten gesellschaftlichen Epochen vergangener Zeiten zumeist die ‚Herren der Schöpfung‘ diejenigen waren, die Weltgeschichte schrieben, überkam mich erstens der Wunsch darüber nachzudenken, wie sehr die im Hintergrund agierenden Ehefrauen das Walten ihrer Ehemänner mit beeinflusst haben könnten und zweitens, dass es diese Frauen mehr als verdienten, einmal ins besondere Blickfeld gerückt zu werden.

Elisabeth Heyking (1861 – 1925), geborene Gräfin Flemming, Enkelin von Bettina und Achim von Armin, war es geglückt, den Berühmtheitsgrad ihres Gatten, weit gereister deutscher Diplomat (1850 – 1915) noch zu übertreffen. In ihren Veröffentlichungen „Briefe, die ihn nicht erreichten“ gibt sie Zeugnis der deutschen Außenpolitik am Ende des 19. Jahrhunderts. Sie schildert darin das Leben höherer Gesellschaftskreisen in vier Kontinenten und erreicht mit ihren Tagebüchern (1903) sogar die 100. Auflage. In ihren Kairoer Zeiten machte das Diplomatenehepaar u. v. a. auch die Bekanntschaft mit Evelyn Lord Baring, I. Earl of Cromer, englischer Generalkonsul in Ägypten, und seiner Gemahlin Ethel, geb. Errington, um deren Lebensrückschau es in meiner Erzählung geht.

Weitgehend unbeachtet geblieben sind die Ehefrauen einflussreicher Männer in Staat und Gesellschaft. Repräsentationspflichten, perfektes Organisationstalent bei der Haushaltsführung und eine erstklassige Kindererziehung mit dem Ziel, den vielfältigen Erwartungen höherer Töchter gerecht zu werden, prägten diese Leben schlechthin. Wer hat je ein Augenmerk auf die ‚Frau an seiner Seite‘ gerichtet? Wer hat ihre ureigenen Bedürfnisse, Sorgen, Ängste, Opfer, aber auch Freuden überhaupt wahr- bzw. ernst genommen? Meine Erzählung basiert zum großen Teil auf geschichtlichen Tatsachen, wenngleich ich mir erlaubt habe, die literarische Freiheit zu nutzen, um die Erzählung auszuschmücken.

KAPITEL EINS

„Oh, wo bist du denn? Du mein neugieriges Poussiertüchlein!“

Zittrige Finger greifen hin und her, ein bisschen wahllos, weil das gewohnte Versteck, die Kragenfalte des blauen Samtgewandes, nicht auf Anhieb das Spitzentaschentuch freigibt.

„Oh, wie schamlos du doch bist! Bist mir nichts, dir nichts, ein ganzes Stückchen weiter nach unten gerutscht?“

Eine grau gelockte Haarsträhne sich aus der Stirn streichend, hockt die alte Dame in ihrem Ohrensessel, mit einem leicht anstößigem Lächeln auf den erdbeerroten Lippen; ein Lächeln, schwerelos wie Federn im Wind, unanstößig auf Etikette bedacht, genauso flüstert sie ihre Worte, während sie mit gespitztem Daumen und Zeigefinger noch ein wenig tiefer dorthin vordringt, wo neugierige Blicke von ihr gewöhnlich mit einem irritierenden Augenaufschlag quittiert werden. Sie lächelt gedankenversunken vor sich hin. Sofern es geliebte männliche Blicke gewesen waren, oh, ja, damals in grauen Vorzeiten, ja, tatsächlich musste ich einmal jung gewesen sein, da pflegte ich diese anzüglichen Betrachtungen mit einem halb herausfordernden, einem Viertel verschämten und einem ebensolchem Viertel Blick Zurechtweisung zu erwidern, denn Zucht, Ordnung und Anstand sprechen seit jeher für eine adäquate Kinderstube, damals wie heute, dessen ist sie sich gewiss! Aber jene Erinnerungen liegen fest in tiefste Seelengründe versenkt! Nur im Geheimen darf ein solch prickelnder Gedankensplitter mal ans Tageslicht dringen, um der alten Dame jetzt ein Lächeln zu entwinden, ein vieldeutiges, ein sicherlich jederzeit beherrsch- und kontrollierbares dazu!

Ja, jetzt hält sie es endlich in ihren Händen, ihr schneeweißes Spitzentüchlein, das sich zwischen den beiden hocherhobenen Hügeln sichtlich wohl gefühlt hat, denn ein Korsett bewirkt nun einmal, dass sich erschlaffte Körperformen in vollendeter Gestalt darzubieten vermögen. Ihre spitzen erdbeerfarbenen Fingernägel ergreifen das knittrige Tüchlein und fahren damit über eine ihrer Wangen, auf ehemals prallem Wangenleben waren eine Anzahl Furchen, eingegraben in einer Haut-Hängepartie seitlich der korrekten Lippenkonturlinie, ersichtlich. Gräflich verpackt wandert das flüchtig benetzte spitzige Etwas schließlich in einen ihrer samtenen Ärmelbunde; erst später nach einem Mehr oder Meer an Tränen – oder schweißtreibender Befeuchtung wird es an jene Stelle gelangen, wo es dereinst in seifiger Wäschelauge treibend, den Weg aller Naturgesetze gehen muss.

„Ach, du mein Poussiertüchlein!“

Wehmütig schaut sie auf das Ärmelversteck, als sie mit ihren Armen herumfuchtelt, um aus dem untersten Fach ihres Schreibsekretärs etwas herauszuangeln, etwas, was sie schon lange gesucht und bisher nicht auftreiben konnte.

„Mein Gott! Was suche ich überhaupt hier? Bei aller hektischen Kramerei in den Fächern des Schreibsekretärs war es ihr schon wieder entfallen, das Objekt ihrer Begierde. „Das Alter treibt so manchen Schabernack mit mir!“, resümiert die alte Lady kopfschüttelnd im Gespräch mit ihrer Wenigkeit. „Aber eigentlich darf ich alles andere als erzürnt sein, denn mein Oberstübchen spielt keineswegs schon so verrückt, dass ein Tadel gerechtfertigt erschiene.“

Das Ärmelversteck gerät erneut in ihr Blickfeld. „Ach, ja, mein Poussiertüchlein! Warst du damals nicht auch daran beteiligt gewesen, als …?“

Die alte Dame lächelt, diesmal kommt das Lächeln aus weiter Ferne, genauer gesagt, aus einem längst entschwundenen Jungbrunnenland. Jeder Nervenstrang, jeder kleinste Teil ihrer grauen Zellen, mögen sie mit einem noch so vornehmen lateinischen Namen wie ‚substantia grisea‘ behaftet sein, jede einzelne ihrer Körperzellen gerät in eine seltsame Wallung, in diesem besagten Moment, in dem sich ihr Altersgesicht glatt wie ein rosiger Kinderpopo präsentiert. Ein verklärtes Lächeln durchstreift ihr Gesicht …, ja, genauso wie ich damals staunte, als das schwere Plätteisen über das schneeweiße Tischtuch auf dem Küchentisch glitt und ein kleines blond gelocktes Mädchen diese kleine Wundermaschine bewunderte, damals in grauen Vorzeiten, als sich feste glatte Handballen um den hölzernen Griff krallten, damit kraftvolle erfolgversprechende glättende Bewegungen jedem kleinsten Stoffknitter zu Leibe rücken konnten. Meisterhaft gebügelt stellte es sich später für alle Speisenden als eine wahre Augenweide dar …, ja damals als die Küchenmamsell, unsere Dora, später unsere Erna, Blümchen- und Goldschüsseln mit dampfendem Inhalt auf dem blitzblanken schneeweißen Laken servierte. Und von wegen graue Vorzeiten! Rote Möhren, grüner Spinat, buttergelbe Kartoffeln und bräunlich-schwarzer Krustenbraten stachen auf dem schneeweißen Untergrund in jedermanns Auge! „Ach, ja … damals …! Seltsam, mein Spitzentüchlein, seltsam … eine Alte mit solcherlei Anwandlungen!“

Sie lacht einmal laut auf! Ein heller Jungbrunnenlacher erfüllt den Raum, vorbeistreichend an der Standuhr, der es gerade in diesem Moment gefällt, ihr Dong – Dong – Dong – Dong – Dong – Dong, sechse an der Zahl, mit ihrem herzhaften Lacher zu vermählen, dieses Potpourri der Töne gelangt schließlich dorthin, wo die silbernen Glöckchen des Kronleuchters in die anmutige Melodie mit einstimmen.

Ach, ja, meine Jenny, die jüngste aller Schwestern, sie hat das Tischtuch, weil es so steif war wie ein Brett, zu einem ‚Bretttuch‘ umbenannt. Und die Servietten betitelte sie als ‚Kleinbretttücher‘. Aber Großmama nannte sie alle zusammen ‚mein Dutzend‘, auch die Betttücher bezeichnete sie mit diesem für uns Kinder seltsamen Namen! Und auch die Spitzentaschentücher wurden nicht davon ausgenommen! Wie auch immer, auf jedes ihrer geliebten Dutzende ließ sie partout nichts kommen. Nur im Dutzend hatte das Einzelne seinen Wert, seinen beinahe heiligen Wert.

„Und du … du schaust jetzt popelig versteckt aus meinem Ärmel heraus! Wo Du doch einst auch zum stolzen Dutzend gehörtest!“ Sie lächelt verschmitzt, auf den Ärmel ihres Gewands blickend. „Ja, damals …!“

Die alte Dame sendet einen zweiten Lacher nach oben. Er streift an der Vitrine mit den Blumentellern und Goldgläsern entlang und verfängt sich schließlich in dem schweren Samtvorhang, der das große Butzenglasfenster beidseitig umrahmt. Der zweite Lacher entspringt ihrer Erinnerung an einen Haufen Kinder, ohne Ende Schabernack treibend. Nur ihr, meine lieben Enkeltöchter und Enkelsöhne, ihr macht mir nicht einmal das halbe Dutzend voll. Ihre gedankliche Reise zu der großen Herkunftsfamilie und zu ihrer eigenen Familie lässt sie seufzen, ehe sie ein ‚Ja, es war herrlich!‘ von sich gibt, das zu schnell wieder von einem ‚Gott sei Dank!‘ ausradiert zu werden scheint. Ihrer lieben Grandma gälte es heute klar zu machen, dass ein halbes Dutzend Kinder und weniger vollauf genügten, einfach deshalb, weil Kinder heutzutage nicht mehr so unbeweglich zu halten seien wie früher, dass sie nicht genauso wie ein Dutzend Bettlaken, Servietten oder Spitzentaschentücher in den Schrank verlagert werden könnten. Heute dürfen die Kleinen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten mehr gehorchen als früher und das strengt Eltern nun mal eben oft sehr an! Von daher, so sinniert sie, geht das mit dem halben Dutzend oder weniger bei meiner Nachkommenschaft schon in Ordnung.

 

Die alte Dame liebt es, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, besonders dann, wenn sie alleine ist. Das Alleinsein, das mit sich Selbstsein, ist ihr inzwischen zur zweiten Natur geworden. Ja, Großmutters und Mamas Stolz auf ihre trefflich gestärkte Wäsche scheinen sogar sprichwörtlich verewigt. ‚Das Tuch steht wie eine Eins!‘ Dieses geflügelte Wort aus dem Munde unserer Mama verbreitete sich in Windeseile. Die alte Dame schmunzelt, die Armstützen fest umklammernd, zur Vergewisserung, dass sie im Hier und Heute lebt. „Und weil ich mit sieben Jahren wahrlich nicht dumm gewesen bin“, verbessert sie sich vorsichtig, „denn als zu vorlaut zu gelten, das war in unseren Kreisen wahrhaft ein Übel, ja, also äußerst behutsam musste ich Mama zu verstehen geben, dass die Eins doch noch einen Haken habe und auch nicht so aufrecht stünde wie das steife Tischtuch, auch wenn es sich an den Seiten vollgestärkt präsentierte. Ich bemerkte das nicht ohne Stolz, denn die Familie brüstete sich nur allzu gerne mit wissbegierigen Kindern. Und wie erwartet erntete ich dabei ein leises verständnisvolles Nicken der Erwachsenen. Jedenfalls steckten wir Kinder oft einen winzigen Mokkalöffel in die aufgestellte steife Serviette und spielten mit ihr Segelboot. Dabei durften wir aber nicht zu wild unser Segelboot hin und her schaukeln lassen, denn sonst ernteten wir womöglich einen ‚Gehört-sich-nicht-Klaps‘, und zwar einen gehörigen, einen, mit dem nicht zu spaßen war. Ach, ja … Und Du, mein Spitzentüchlein, hier im Ärmel drin! Oder auch ein anderes Deiner elf Geschwister.“ Und je mehr ihre Gehirnwindungen mit Jungbrunnenwasser durchschwemmt werden, je mehr scheint der alte graue Kopf mit den geschrumpften Runzeln weit nach oben zu schweben, am Kronleuchter vorbei, die Zimmerdecke durchbrechend, jener Sphäre entgegen, die raum- und zeitlos von der Ewigkeit Kunde gibt!

„Ach, ja … damals …! Hilfe, ich entschwebe …! Alles an Tante Marie ist dick. Ich umarme sie nur, weil und wenn ich es muss; beim Begrüßen, Verabschieden und beim sich Bedanken; das ist heilige Pflicht. Ich liebe ihre Umarmungen überhaupt nicht, weil sie mich dann jedes Mal so feste an sich drückt, dass ich dann wie ein kleines, wehrloses Geschöpf nach Atem ringen muss. Und weil sie dabei so sehr schwitzt und stinkt wie ranzige Butter, ja, darum hasse ich alles an ihr. Alles, wirklich alles an Tante Marie ist dick: ihre Hände sind dick, ihr Bauch ist am dicksten, aber auch ihre Brust ist so schwer, dass sie, wenn Tante bei Tisch sitzt, wie eine schwere Last auf die Tischplatte gedrückt wird. Alles an Tante Marie ist eben unförmig, ihre Arme und Beine, ja sogar ihre Ohrläppchen und ihre Backen dazu. Diese zeigen sich noch meistens knallrot und ihre Augen funkeln wie Katzenaugen in der Nacht. Aber am allerallerdicksten ist ihr Po. Wir Kinder lachen, wenn Mama uns zuflüstert: Da kommt die Po-Tanz-Matrone! Aber eigentlich gehört sich das nicht, so über eine alte Tante zu sprechen, das gibt Mama später selbst zu. Und wir Kinder lachen uns krank, auch wenn wir kein Fieber dabei kriegen. Tante Marie wackelt nicht nur mit dem Po, sondern mit allem, was an ihr dran ist, wie roter Wackelpudding sieht sie aus, und zwar wie solch einer, den wir Kinder doch besonders lieben, einen mit Himbeergeschmack, wie köstlich! Nur die dicke Tante, die mögen wir eben gar nicht, weil die Matronentante nämlich alles andere als köstlich daher kommt. – Hahaha!“ Spöttisches Lachen im Alleingang muss erlaubt sein. Auch das Alter und der Stand, sie schützen so manches Mal auch vor Übermut nicht! Wie sehr unsere alte Dame vor ihrem Schreibsekretär hockend, im phantastischen Jungbrunnenland verweilend, sich den Kindheitserinnerungen hingibt – und das mit allergrößtem Vergnügen! – das ist an ihrer Trance zu merken, die sie himmelwärts zu tragen scheint: Tante Marie springt plötzlich auf. Ein dicker Hefekloß war gerade in ihren Magen gerutscht, als sie wie von der Tarantel gestochen, vom Stuhl hochhüpft. Ich muss losprusten, meine Schwestern Jenny und Diana ebenso. Erst recht mein Bruder John! Wir halten uns den Mund zu, während unsere Backen dicker und dicker werden und zu platzen drohen.

Tante Maries Arme umgreifen ihre wallende Brust und kreisen in einer Mordsgeschwindigkeit um Brust, um Bauch und Po, wobei die Bewegungen immer heftiger und ungezügelter werden. Die ganze Tante kommt jetzt wie ein wahrer Wackelpudding daher, diesmal muss es ganz bestimmt einer mit Himbeergeschmack sein, denn das Gesicht und ihr Hals, ja alles an ihr, was unbedeckt ist, erstrahlt in Himbeerröte, während süße vergorene Himbeeren ihr aus allen Poren dringen. Dabei wuchtet sie ihre kurzen Arme über den massigen Rücken; weit reichen sie nicht, diese kleinen wibbeligen Dinger – während sie dabei Zetermordio schreit: „Zum Donnerwetter! Hilfee!“

Als sie von Mama ein Spitzentaschentuch gereicht bekommt, um sich damit die Nase zu putzen, beginnen ihre funkelnden Augen wahre Sturzbäche zu produzieren. Ein Nieser jagt den anderen, ein wahres Spektakel für uns Kinder. Ach je, … wenn ich auf das Ende seh’, … dabei wird’s mir mulmig und flau im Magen …, ein siebenjähriges Herzchen beginnt zu flattern, so wie es im Buche steht! Ein achtzigjähriges Herz flattert mit dem siebenjährigen im Duett, jetzt in diesem träumerischen Erinnerungsmoment. Und dabei wird das gute lebenserhaltende Stück wie schon so oft im Leben mächtig aus dem Takt gebracht. Wenn die Ewigkeit auch aus Stockschlägen besteht, wehe mir, ja dann … und die alte Dame, wieder in der Gegenwart angekommen, setzt zunächst ein Bein auf den Wohnstubenboden, ein siebenfaches Dong-Dong vernehmend, als sie sich mit beiden Füßen auf dem Parkett und mit ihrem samtenen Gesäß auf dem schnörkeligen Sessel mitten zwischen Rosen herrlichster Farbschattierungen wiederfindet und den Arm nach dem ausstreckt, das sie schon seit langem sucht und bis jetzt noch nicht gefunden hat.

„Oh, je, ich zürne und habe doch kein Recht dazu! Nun zur anderen Sache: Bei meinem Vater hat’s damals Stockschläge gehagelt. Und das alles nur, weil der böse Bruder John die Idee mit den Hagebuttenkernen hatte! Und bekanntlich ist mit dem Juckpulver nicht zu spaßen! Und dass Tante Marie das Opfer geworden ist, das kam auch nicht von ungefähr!“ Sie spricht oft mit sich selbst, fühlt sie sich inzwischen doch viel einsamer in ihrem großen alten Landhaus als in früheren Zeiten. Die alte Dame lächelt, ein wenig verträumt noch, um sich anschließend wieder auf ihren Beinen befindend, die Schultern zu kitzeln, und den Rücken zu jucken, ehe sie sich dann wieder formvollendet mitten auf die Sessel-Rosenwiese platziert: „Mein Gott! Ich bin doch nicht mehr sieben, ich stecke niemanden mehr Juckpulver, wer weiß wohin, ich bin die altwürdige gräfliche Dame Ethel, Witwe des weltweit hochverehrten Earl of Cromer, Mutter zweier wohlgeratener Söhne und Großmutter von vier quicklebendigen Enkeln, und ich bin und bleibe …“, trotzig tritt sie mit ihrem Fuß auf das spiegelglatte Parkett fest auf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, „eine feine Dame, eine Dame von Welt mit Anstand und Manieren! Das bin ich meinen Altvorderen schuldig! Ja – und das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!“

Lady Ethel liebt Bequemlichkeit. Die Rosenwiese, auf der ihr gräfliches Gesäß thront, hat sie sich mit einem lindgrünen Kissen ausgepolstert, einem himmelbettartigem, dessen Federfüllung ihrem leicht gebeugten Rücken wohlige Wärme und Weichheit spendet. Ja, ihr Rücken, … der gute alte …, er hat wahrlich schon bessere Zeiten erlebt!

„Ja, du mein Guter, der du dich mehr und mehr krümmen wirst! Du hast mir immer treue Dienste geleistet und alles mit mir zusammen getragen, was das Schicksal unserer Familie auferlegt hat. Und wie habe ich dich dafür gehegt und gepflegt! Die Kammerzofe hat dich weichmassiert, wenn die Strapazen überhandnahmen. Weißt du noch, mein Lieber, wie Rosies Hände dich kraftvoll kneteten? Ja, sie, die Liebe, eine Meisterin in punkto Körpermassage. Mit rhythmischen Bewegungen spielte sie auf dir Klavier, mal ein Adagio, mal ein Piano forte! Erinnerst du dich noch an den zarten Lederriemen, mein Treuester, den Rosie in atemberaubendem Tempo in alle Himmelsrichtungen über dich gleiten ließ?“ Und als die alte Lady noch einmal versucht, ihrem alten lastenerprobten Gefährten eine dankbare Streichelgabe zu verpassen, da knackt es kräftig im stark gealterten Gebälk, was ihr einen mächtigen Schrecken versetzt! Sie ärgert sich über ihren Wagemut. Sicher wird er sich an ihr rächen und ihr eine schlaflose Nacht bereiten. – „Ja, mein Lieber, jetzt müssen wir beide die Konsequenzen tragen, nicht wahr! Aber immer nur vernünftig sein, oh, nein! Für eine Person, wie ich es bin, impulsiv und oft unvernünftig, gar nicht vorstellbar! Aber wäre das Leben ansonsten nicht kalt und öde?“

Gleichzeitig streift sie mit ihrer Hand über den weichen Stoff rund um ihre Hüfte. „Hier schaffe ich es noch hin! So gerade eben noch! Aber du, meine altgediente Lende, du bist doch noch wesentlich widerstandsfähiger! Gib mein Mitgefühl bitte an meinen Buckel weiter und sage ihm, dass er sich auf keinen Fall gekränkt fühlen möge!“

Die alte Lady muss lächeln und ihr Lächeln fällt auf den Teewagen neben ihr, ihrem Gehilfen in der Not, der sich auf großen hölzernen Rollen hin- und her bewegend, oft Mitleid mit ihrem schmerzenden Rücken zeigt. Ihr Blick fällt genau genommen von dem weißen Spitzendeckchen mit dem verschnörkelten silbernen Bilderrahmen schnurstracks auf eine stattliche Person, nicht auf irgendeine, nein, auf das Bildnis einer überaus vertrauten männlichen Statur, der sie mild entgegen lächelt. Gestern, heute und in alle Ewigkeiten werden sich ihrer beiden Blicke treffen, ja, sie werden verschmelzen, wenn …, sie räuspert sich und streicht mit ihrer Hand über seine Wange …, ja, wenn wir uns demnächst wiedersehen. Ladies jedweden Alters und Standes sind glücklicherweise nicht vor Gefühlsausbrüchen gefeit, auch wenn Haltung und Anstand in gewissen Kreisen zur Contenance verpflichten. ‚Ach, was habe ich nur eine liebevoll verrückte Dame geehelicht, eine, die so nah am Wasser gebaut ist, so nahe, dass es das ganze Land zu überfluten droht.‘ In seiner ihm eigenen Art und Weise vorgetragen, waren diese, seine schmunzelnd vorgebrachten Worte, bei ihr keineswegs auf Granit gestoßen.

Die alte Lady greift nach ihrem Spitzentaschentuch – ein taufrisches, eines aus Großmutters geliebtem Dutzend. Noch ehe sie sich ein paar wenige dicke Kullertränen abwischen kann, bewahrheitet sich das, was ihr Geliebter ihr immer zu verkünden pflegte. Ein Tränenbach ergießt sich über ihr kastanienbraunes Samtgewand, wobei sich der weiche Stoff mächtig anstrengen muss, so viel Tränenflüssigkeit mit einem Male in sich aufzusaugen. Selten geschieht das in dieser ergreifenden Form, aber ab und an, wenn die Rosen in voller Blüte stehen, wenn ihre Söhne oder Schwiegertöchter sie durch kränkende Worte herausfordern, ja, wenn der Vollmond sie unruhig im Bett hin- und her wälzen lässt, und auch sonst dann und wann, wenn das Gefühl der Einsamkeit sie übermannt, dann überkommt es sie so unerwartet, wie ein aus heiterem Himmel herein brechender Regenschauer. Dann streichelt sie ihren tierischen Liebling in seinem Körbchen, während sich Katze Käthchens Schnurren mit den Seufzern seines Frauchens vereinigen. Jetzt ist sie allein und weit und breit kein Mensch erfährt, dass sie augenblicklich ihren Evel fest an ihren Busen drückt.

„Mein Evel-Liebling! … Deine himmlischen Berührungen …! Um wie viel mehr haben sie mein Herz erweicht als alle Klavierspielkünste der besten Pianisten der Welt es je vermocht hätten! Weißt du eigentlich, was du mir mit deinem Weggehen angetan hast? Ich fühle mich ganz und gar verlassen von dir – bald werden es drei lange, lange Jahre sein! Im Leben bin ich dir auf Schritt und Tritt gefolgt, zwar oft mit Zaudern und Ängsten im Herzen, aber als folgsame Ehefrau wäre ich mit dir hunderte Male um die ganze Welt gereist, wenn der Ruf an dich ergangen wäre! Weltreisen sind es zwar nicht geworden. Aber aus der Geborgenheit eines Elternhauses jäh herausgerissen, jungverheiratet den Schritten des Angetrauten in ein so fernes fremdes Land wie Ägypten folgen zu müssen, das schien mir damals um nichts leichter als hundert Weltreisen zusammen genommen! Aber dein Glück war mein Glück, deine Last auch die meinige!“

 

Das Bildnis schiebt sie jetzt ein wenig von ihrer Brust weg, zur Fensterseite hin, damit das gleißende Licht der Abendsonne direkt auf Evels Gesicht fallen kann. Verharren können und warten, ja, das musste ich in jahrzehntelanger Ehe lernen. Verzeihen, um sich wieder versöhnen zu können, das hatte mir das Schicksal abverlangt. ‚Pass’ ja gut auf deinen Mann auf!‘ Dieser Ratschlag ihrer besten Freundin Lea und deren nicht ganz von der Hand zu weisende Erkenntnis ‚Dein Mann ist ein Herzensbrecher!‘ sind heute in Ethels Ohr noch genau so laut vernehmbar wie ehedem.

„Und wie recht sie hatte! Louisas, deines Töchterchens Ankunft lange vor unserer Bekanntschaft, war bis kurz vor deinem Tod offiziell in Dunkel gehüllt. Ihre Existenz gehörte zu den tiefsten viktorianischen Geheimnissen. Aber von Herzen geliebt hast du nur mich, nicht wahr, Evel?“

Und da plötzlich ist es ihr, als ob sich ihr eine Hand entgegenstreckt, eine warme und kraftvolle, die sich wohlig in die ihrige schmiegt.

„Wie sehr haben mich alle beneidet, damals, als du um meine Hand angehalten hast, damals im Hause meiner Eltern! Wir haben weit auseinander auf dem roten Plüschsofa gesessen – so wie sich das damals gehörte! – und Mutter hat uns Earl Grey serviert. Stell’ dir das nur vor: Einen Tee: Earl Grey für einen zukünftigen Earl Blond, denn du betörtest mich damals mit deinem blond gelocktem Haar. Wie liebte ich es später, eine Locke von dir durch meine Finger gleiten zu lassen! Meine Schwester Irma nannte dich ein stattliches Mannsbild und in ihren Worten schwang auch ein wenig Neid mit, na ja, vielleicht war es ja sogar auch eine gehörige Portion von dieser Sorte, denn allerseits sprachen die Leute von der blendenden Partie, die ich gemacht hätte. Hast du in solchen Momenten nicht gespürt, wie wild mein Herz bibberte, besonders dann, als du bei meinen Eltern um meine Hand angehalten hattest? Mein Brustkorb schwoll bis zum Zerbersten an, als endlich das erhoffte ‚Ja‘ aus ihren Mündern ertönte. Zunächst Mamas ‚Ja‘, ehe etwas zögerlicher das ‚Papa-Ja‘ folgte. Solch ein berühmter Mann, als Siebzehnjähriger bereits Leutnant der Königlichen Artillerie und dann Privatsekretär bei seinem Cousin Thomas Baren, dem Vizekönig von Indien, welch eine andere Frau konnte sich schon mit solch einem begnadeten Manne schmücken? Evel, du glänztest als wirkliches Sprachgenie, spielerisch lerntest du Griechisch, Latein, Italienisch, Französisch und Türkisch! Welches junge Mädchen wird schon mit strahlenden Augen von einem so großartigen Manne, wie du es gewesen bist, in den Hafen der Ehe geführt?“

Ihr Blick hakt sich in seinem Bildnis, in seinen Augen fest. Verschlingend und einverleibend wird er für alle Ewigkeiten in ihrer Seele eingebrannt bleiben, ihre letzten Lebensschritte bestimmen und den oft tristen Alltag beflügeln.

„Deine Augen blicken so zielstrebig und willensstark, genauso wie auch dein ganzer Lebensweg verlaufen war. Mag das nicht auch daran gelegen haben, dass du dich schon früh gezwungen sahst, dich gegenüber acht älteren Geschwistern behaupten zu müssen? Aber einige Male, besonders in der Zeit, in der die britische Presse deinen Rücktritt als erster britischer Generalkonsul in Ägypten herbeiführte, brauchtest du mich doch, meine tröstenden Worte und meine weiche Schulter zum Anlehnen. Du ahntest gar nicht, wie sehr ich zu jener Zeit dein Anlehnungsbedürfnis genossen habe! Es tat mir unendlich gut, dir auch einmal Stärke schenken zu dürfen. Lieber Evel, weißt du noch? Ja, bibbertest du nicht auch noch bei dem Gefühl an jener, an unserer Stelle, gekitzelt zu werden, dort zwischen Unterlippe und Kinn, wo die Natur dir eine kleine Vertiefung beschert hatte, wie ein kleines Nest lud es zum Kitzeln ein! … Ja, mein Liebster, über zweidreiviertel ewig lange Jahre sind wir schon getrennt, aber hab’ keine Sorge, so viele Jahre werden es bestimmt nicht mehr, bis wir uns wiedersehen. Einige Zeit werde ich noch benötigen, wichtige Dinge in unserem Sekretär zu ordnen. Ich werde es auskosten, gemeinsame Erinnerungen aufzuspüren, ehe meine Zeit gekommen sein wird, dieser erhoffte, aber doch ehrlicherweise auch ein wenig gefürchtete Moment! Dann, ja, dann werde ich dir alles, aber auch wirklich alles erzählen, was mich hier auf Erden nach deinem Weggehen noch beschäftigt hat. – Was suchte ich eigentlich?“

Die alte Dame stöhnt kurz auf, als sie vor ihrem Sekretär taumelnd, mit ihren erdbeerfarbenen Fingern über das frisch polierte Holz streicht. Liebevoll und stolz, ganz so wie jemand ein Kleinod behandelt.