Von Arsen bis Zielfahndung

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Von Arsen bis Zielfahndung
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Ariadne[Leit]Faden

Manfred Büttner / Christine Lehmann

Von Arsen bis Zielfahndung

»Ein hochinteressantes Werk!

Ich kann die Autorin und den Verlag nur dazu beglückwünschen. Insbesondere habe ich mich natürlich mit den Themen zur Rechtsmedizin befasst und darf sagen, dass hier erstklassig recherchiert und wiedergegeben wurde.

Ich wünsche dem Handbuch eine große Verbreitung unter der schreibenden Zunft.

Man kann den Krimiautorinnen nur raten,

dieses Buch zur Hand zu nehmen.«

Prof. Dr. med. M. Tsokos

Direktor des Instituts für Rechtsmedizin

der Charité Berlin

Keineswegs fordern wir, dass Autorinnen sich stets von der Wahrscheinlichkeit des Realistischen gängeln lassen und jegliche Fantastik im menschlichen Verhalten aus unseren Krimis verbannt sein muss. Wir denken nur: Die dichterische Freiheit endet dort, wo der Rechtsstaat beginnt, vor allem dann, wenn wir über Unrecht schreiben. Und es gehört eben zu den Grundsätzen, dass kein Mensch von der Polizei befragt wird, ohne zu ahnen, ob er nun verdächtig ist oder Zeuge, und dass kein Staatsanwalt Haftbefehle ausstellt, sondern Zwangsmaßnahmen immer vom Richter angeordnet werden. Alles andere – die Giftkunde, die 12 Schritte der Ermittlung, die Leichenöffnung, die Fallanalyse oder die Rolle der Staatsanwaltschaft – sind Zutaten. Wir dachten, sie könnten Hinweise geben, wenn es darum geht, raffinierte neue Kriminalfälle zu konstruieren, welche die Leserinnen und Zuschauerinnen in ihren Bann schlagen.

Christine Lehmann und Manfred Büttner

Autor und Autorin

Manfred Büttner, Jahrgang 1956, lebt in Stuttgart, ist Diplom-Finanzwirt (FH) und seit vielen Jahren als Steuerfahnder tätig. Neben seiner Arbeit als Ermittler in Wirtschaftsstrafsachen ist er Dozent an den Hochschulen der Polizei und der Steuerverwaltung des Landes Baden-Württemberg.

Veröffentlichung: Ermittlung illegaler Vermögensvorteile, Boorberg, Stuttgart 2005. www.vermoegensabschoepfung.de

Christine Lehmann, 1958 in Genf geboren, wohnhaft in Stuttgart und Wangen im Allgäu, hat Germanistik und Kunstgeschichte studiert und in Literaturwissenschaft promoviert. Sie arbeitet als Politik­redakteurin beim SWR und schreibt unter anderem Kriminalromane, Krimi-Essays (z. B. »Doch die Idylle trügt – Über Regionalkrimis«, in: Das Argument 278, oder für Wörtches Krimikolumne im TitelMagazin) und Kriminalhörspiele. Bei Ariadne erschienen sämtliche Lisa-Nerz-Krimis: ­Vergeltung am Degerloch, Gaisburger Schlachthof, Pferdekuss, Harte Schule, Höhlenangst, Allmachts­dackel, Nachtkrater, Mit Teufelsg’walt, Malefizkrott und Totensteige.

www.lehmann-christine.de

Manfred Büttner / Christine Lehmann

Von Arsen bis Zielfahndung

Das aktuelle Handbuch für

Krimiautorinnen und Neugierige

ARGUMENT / Ariadne

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2009

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik

Satz: Iris Konopik

Umschlag: Martin Grundmann, herstellungsbuero-hamburg.de

ISBN 978-3-86754-876-2

Vierte Auflage 2016

Inhalt

Vorworte 13

Unser detektivischer Sinn 17

Krimi ohne Kriminologie 20

Teil 1: Das Mordmotiv 23

Rache 24

Herrschsucht 26

Strafe · Familiendrama · Erweiterter Selbstmord

Ohnmacht des Opfers 29

Erpressung · Das Stockholm-Syndrom

Die Frauenquote 32

Mordende Mütter 34

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ·

Neonatizid · Unbemerkte Schwangerschaft

Triebtäter 38

Teil 2: Der Mord 41

Der perfekte Mord 43

Selbstmord 45

Sterbehilfe 45

Der gewaltsame Tod 46

Schusswaffen 47

Schmauchspuren · Waffenscheine

Messer 48

Schnittverletzungen · Stichverletzungen

Hiebverletzungen 51

Ersticken 52

Erhängen · Erdrosseln · Erwürgen · Reflextod

Ertrinken 56

Süßwassertod · Salzwassertod · Reanimation · Die Wasserleiche

Sprengstoff 60

Schwarzpulver · Dynamit · Plastiksprengstoff

Stromtod 62

Steckdose · Blitzschlag · Strommarken

Tod in der Badewanne 63

Feuer 64

Kohlenmonoxid · Kohlendioxid · Nitrose Gase

Stürze 65

Hirnverletzungen 67

Amnesien 67

Kongrade Amnesie · Retrograde Amnesie ·

Plötzlicher Gedächtnisverlust · Antegrade Amnesie ·

Transiente Globale Amnesie

Der Giftmord 72

Tödliche Dosis 74

Kleine Giftkunde 75

Medikamente 75

ASS · Barbiturate · Benzodiazepine · K.o.-Tropfen · TCA

Pflanzenschutzmittel 76

Alkylphosphate und Carbamate · Paraquat · E605

Klassische Krimigifte 78

Arsen · Thallium · Zyanid

Bio-Gifte 82

Nikotin · Aconitin · Atropin · Coniin · Rizin · Taxin ·

Oleandrin · Digitaloide · Cytisin · Strychnin · Kurare

Das Pilzgericht 88

Grüner Knollenblätterpilz · Mutterkorn

Tiergifte 90

Seewespen und anderes Getier · Palytoxin/Maitoxin ·

Tetrodotoxin · Batrachotoxin

Bakteriengifte 95

Botulinumtoxin · Milzbrand

Tödliche Viren 97

Das Gift der Sterbehelfer 97

Teil 3: Die Ermittlungen 99

Mord oder Totschlag 99

Verbrechen oder Vergehen?

Notfallort oder Tatort 102

Die zwölf ersten Schritte 103

Der Tote wird gefunden · Erster Angriff der Polizei ·

Die Kriminalpolizei übernimmt · Kriminaltechnik vor Ort ·

Die Staatsanwältin erscheint · Abtransport der Leiche ·

Erste Entscheidungen · Die Gerichtsmedizin · Die Obduktion · Kriminaltechnische Untersuchungen · Ermittlungsarbeit ·

Abschluss der Ermittlungen

Zeugen, Täter, Täterwissen 110

Zeugen, Beschuldigte und Unbeteiligte 111

Der Beschuldigte 111

Die Belehrung · Das Recht auf einen Anwalt ·

Tatbeweis duch die Vernehmung – Täterwissen

Zeugen und Sachverständige 116

Die Zeugeneinvernahme · Informatorische Befragung

Unbeteiligte – Privatdetektive 122

Verwandte, Bekannte, Freunde 123

Kriminaltechnik 124

Spurensicherung 125

Genspuren 126

Klassische Spuren 129

Blut · Glas · Haare · Handschuhe · Fingerabdrücke

Teil 4: Die Leiche 135

Die leblose Person 137

Sichere Todeszeichen 137

Totenflecken · Leichenstarre

Der Sterbeprozess 139

Individualtod · Intermediäres Leben · Absoluter Tod ·

Leichengift

Wenn die Würmer kommen 141

Der Todeszeitpunkt 144

Körpertemperatur · Leichenstarre · Idiomuskulärer Wulst ·

Elektrische Erregbarkeit

In der Gerichtsmedizin 146

Äußere Leichenschau 148

Identifikation · Zähne · Bestimmung des Alters ·

Hämatome · Wunden · Schusswunden · Vergewaltigung

Innere Leichenschau 152

Der Schnitt · Das Gehirn · Weitere Verfahren

Der letzte Zeuge 153

Zum Begräbnis freigegeben 155

Teil 5: Die Fallanalyse 156

Profiler 156

Die operative Fallanalyse 158

Ablauf einer Fallanalyse 159

Ausgangsdaten · Entscheidungsprozess · Verbrechensanalyse · Täteranalyse · Täterprofil

Serienmörder 164

Wenn der Täter an den Tatort zurückkehrt

Aktionsradius 166

Tatmuster 167

Vier Phasen einer Tat 167

Tätertypen 167

Der planende Täter · Der impulsive Täter

Serienmörderinnen 170

Todesengel

Pädokriminelle 171

Teil 6: Die Ermittler 173

Bullen oder Cops 173

Polizei spricht über die Polizei

Polizei spricht mit der Polizei – persönlich

Polizei spricht mit der Polizei – Funkverkehr

Polizei und Bürger 177

Bürger und Justiz 178

Beschuldigter, Angeklagter oder Betroffener 178

Wenn die Polizei erscheint 179

Die Polizei 180

Laufbahn und Dienstränge 181

Polizei in Zahlen 183

Frauenanteil · Verdienst · Die Vorgesetzten

Schutzpolizei – Kriminalpolizei 186

Kripo, Bepo, Soko, SEK, MEK 188

Landespolizei · Schutzpolizei der Länder ·

Spezialisierung bei der Schutzpolizei · Bereitschaftspolizei ·

SEK · Kriminalpolizei der Länder · Dienststellen und Büros ·

Dienstwaffen in Diensträumen · Dezernat für Tötungsdelikte · Mordkommission, Soko, Ermittlungsgruppe · MEK ·

Das Landeskriminalamt · Bundespolizei · Bundeskriminalamt · Ortspolizeibehörden · Zollfahndung · Steuerfahndung

Die Staatsanwaltschaft 199

Die Staatsanwältin als Ermittlerin 199

Werdegang · Am Tatort · In der Soko

Aufgaben der Staatsanwaltschaft 204

Durchsuchungsbeschluss und Haftbefehl 205

Teil 7: Wirtschaftsverbrechen 207

Betrug und Geldwäsche 207

Geldwäsche

Das Bankgeheimnis 211

Das Steuergeheimnis 212

Teil 8: Zwangsmaßnahmen 213

Verhören oder vernehmen 215

 

Festnehmen und verhaften 215

Flucht- und Verdunkelungsgefahr · Kautionen

Der Haftbefehl 217

Festnahme 218

Der Weg in die Untersuchungshaft 219

Nach der Verhaftung oder Festnahme 219

Handschellen · Polizeigewahrsam

Kontakt mit dem Richter 221

Verschuben

Kontakt mit Angehörigen und Anwalt 223

Untersuchungshaft 224

Durchsuchung oder Razzia 225

Durchsuchungen 227

Geheimnisträger · Der Durchsuchungszeuge · Gefahr im Verzug

Schlösser öffnen 232

Siegel und Siegelbruch

Der Nahkampf 235

Karate oder Judo?

Kampftechniken der Polizei 237

Straßenkampf · Die Geisel · Der Tonfa

Heimliche Überwachung 240

Ausspähen von Terrorzellen 241

Ausspionieren von Personen 242

Nachschlüssel · Wanzen · Handyspion · Computerspion

Verdeckte Ermittler 244

noeB · V-Person

Zielfahnder 246

Topsecret 246

Das war’s 247

Verwendet und zum Weiterlesen 249

Vorworte

Als ich Anfang der Neunziger mit dem Krimischreiben begann und über die Habeas-Corpus-Akte nachdachte, fiel mir auf, dass meine Begriffe von Polizeiarbeit und Rechtssystem aus dem angelsächsischen Krimi stammen. Ich kannte Chefinspektoren, hatte aber keine Ahnung von deutschen Polizeidienstgraden. Und wie sie arbeiten … tja! Also habe ich mir eine Strafprozessordnung besorgt und sie mit vielen Anstreichungen versehen. Aber die Praxis, wie geht die? Ein Polizist hat mir mal gezeigt, wie man einen Mann fixiert und abtastet und wie Handschellen tatsächlich funktionieren. Ich bin eine Nacht mit der Innenstadt-Streife mitgefahren, habe mir den Polizeigewahrsam angeschaut und gerochen, wie es da riecht, war mit bei der Ärztin, die im Präsidium in einem kleinen Raum mit Minirock und Thermosflasche saß und dem Fahrerflüchtigen Blut abnahm, und war mit meinen Streifenbeamten im Puff, um einen zahlungs­unwilligen Freier zur Raison zu bringen. Um herauszufinden, wie ein bestimmtes Gift wirkt, habe ich einen Arzt gefragt. Doch der hatte seinen hippokratischen Eid geschworen und Hemmungen, mir zu erklären, wie man Menschen umbringt. Und als ich vom ADAC wissen wollte, wie man die Bremsen eines Fahrzeugs manipuliert, fehlte nicht viel, und der Mann am Telefon hätte mir die Polizei auf den Hals gehetzt. Bis heute lasse ich deshalb übrigens bei Manipulationen an technischen Geräten oder Giftcocktails, die tödlich wirken sollen, ein kleines, aber wichtiges Detail weg. Das Internet erleichtert inzwischen die Recherche von Arsen bis Zielfahndung, aber wie Polizisten drauf sind, wie sie miteinander reden, wie es bei einer Leichenöffnung riecht oder wer als Erster am Tatort ist, wissen wir Krimiautorinnen oft trotzdem nicht.

Wir haben allerdings einen Begriff von Verbrechen, Polizei und Leichen. Doch der stammt meist nicht aus dem Studium von Polizeiakten und Gerichtsprotokollen, sondern aus Kriminalromanen und TV-Serien wie Tatort, Soko 5113 oder Pfarrer Braun. Die führen uns eine Realität von Poli­zeiarbeit vor, die es nicht gibt. Es fällt uns nur nicht auf, so mächtig ist die Realität des Fiktiven geworden. Wir ziehen gar nicht in Zweifel, ob die Rechts­medizinerin am Leichenfundort erscheint und eine erste Einschätzung abgibt. Es erscheint uns sogar besonders wirklichkeitsnah.

Viele Irrtümer sind lässlich, weil ohne Einfluss auf den Plot. Wenn wir im TV-Krimi einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss mit einem Poli­zeisiegel im Briefkopf sehen, ist es letztlich egal, denn das entscheidet die Geschichte nicht. Aber wenn der Plot nur zustande kommt, weil wir unsere Ermittler einen Rechtsbruch nach dem anderen begehen lassen und so tun, als gäbe es weder genetische Fingerabdrücke noch überhaupt eine Kriminaltechnik, dann erzählen wir Märchen. Und die märchenhafteste Gestalt ist derzeit in unseren Krimis der Profiler. Deshalb bin ich ausführlicher der Frage nachgegangen, was in deutscher Wirklichkeit eigentlich Profiling bedeutet ( Die Fallanalyse).

Den meisten Krimiautorinnen, Drehbuchschreibern und Regisseuren ist durchaus bewusst, dass ihre Geschichten die Wirklichkeit und das Recht beugen. Und viele Konsumenten sagen, es sei ihnen egal. Aber will ich wirklich in meinem Krimi von Deutschland das Bild eines Polizeistaats zeichnen, in dem Polizisten zuschlagen oder auf Flüchtende schießen, in dem sie nach Gutdünken verhaften, in Wohnungen einbrechen und ohne richterlichen Beschluss in Schubladen wühlen, in denen Zeugen plötzlich zu Beschuldigten werden, ohne jegliche Rechtsbelehrung? Und brauche ich wirklich immer das ertrickste oder mit Drohungen erpresste Geständnis eines Täters, um meinen Fall zu beschließen? Vielleicht wären die vielfältigen kriminalistischen Methoden, mit denen man Verbrechen aufklären und den Täter überführen kann, ja auch mal ganz interessant. Und vielleicht steckt in der Wirklichkeit des Zusammenspiels von Polizei, Staatsanwaltschaft und Rechtsmedizin ja sogar die eine oder andere nagelneue Krimigeschichte.

Also habe ich meinen langjährigen Freund Manfred Büttner, den ich immer frage, wenn ich Polizeijargon, Strafprozessordnung und Wirtschaftsdelikte brauche, gefragt, ob er mit mir zusammen dieses Buch schreibt. Und er hat Ja gesagt.

Christine Lehmann

»Sind in Polizeiautos eigentlich Ringe angebracht, an denen Handschellen von Verhafteten während der Fahrt festgemacht werden?« In meiner Erinnerung war das die erste Fachfrage, die mir Christine Lehmann gestellt hat. Das ist lange her. Seitdem habe ich versucht, viele solcher Fragen zu beantworten und bei manch einem Plot, den meine Freundin in ihren Krimis entwickelt hat, hilfreich zur Seite zu stehen. Und habe dabei auch selbst gelernt. Zwar habe ich langjährige Erfahrungen als Ermittler in Steuerstrafsachen und bilde unter anderem Polizeibeamte im Bereich Wirtschafts­kriminalität aus, zwischen einer Betrugs- und einer Mordermittlung besteht dann aber doch schon ein spürbarer Unterschied.

Kommt die Gerichtsmedizin eigentlich zu jedem Leichenfund? Und wie sieht es mit der Staatsanwaltschaft aus? Ich habe mich bei solchen Fragen bemüht, der Versuchung zu widerstehen, die allgegenwärtige Juristen­antwort zu gehen: »Das kommt darauf an.« Passt zwar immer, hilft aber nicht wirklich weiter. Und deshalb habe ich nachgefragt bei Kolleginnen und Kollegen der Fachdezernate, bei Staatsanwaltschaft und Gericht. Und weiß jetzt: Gerichtsmedizinerin und Staatsanwältin sind nicht immer am Leichenfundort, sondern nur manchmal. Wann genau, wird in diesem Buch beantwortet, so wie vieles andere auch zum Ablauf der Ermittlungshandlungen, dem Alltag von Ermittlern und den Strafgesetzen.

Um eines vorwegzunehmen: Es stört mich keineswegs, wenn in Krimihandlungen die Gerichtsmedizinerin immer am Fundort erscheint, wenn sie gar Anweisungen von Polizeibeamten entgegennimmt oder sie ihnen Rechenschaft ablegen muss, weil sie einen Termin nicht einhalten kann. Sogar der Pistolen oder Handschellen schwingende Staatsanwalt oder der Schutzpolizist als Dienstbote des Kriminalpolizisten bringt mich inzwischen nicht mehr ernstlich aus der Ruhe, auch wenn keines der Bilder der Realität entspricht. Solche Fantasie-Ermittlungsabläufe sind zwar falsch, aber für mich nicht wirklich schlimm.

Vielfach gilt das auch für die krimigemäße Erläuterung von Rechtsfolgen. Stünde etwa in der Klausur einer Jurastudentin, ein Totschläger müsse anders als ein Mörder »nur« eine Freiheitsstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren befürchten, könnte das Punktabzug bedeuten. Die Aussage stimmt zwar in den meisten Fällen, in besonders schweren Fällen lautet aber auch bei Totschlag das Urteil auf lebenslänglich, und in minderschweren Fällen beträgt die Mindeststrafe nur ein Jahr. Folglich würde die Studentin in der Klausur vermutlich eines der sprachlichen Hintertürchen der Juristerei verwenden und vor ihre Aussage »in der Regel«, »grundsätzlich« oder »insoweit« packen. Das habe ich bei meinen juristischen Ausführungen in diesem Buch auch getan und habe prompt von meiner Krimiautorin Punktabzug bekommen – beim sprachlichen Ausdruck. Also habe ich mich zusammengenommen und den juristischen Fachjargon so weit wie möglich vermieden.

Ich habe mich aber nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, alle Aussagen so zu machen, dass sie denkbare Lebenssachverhalte zu nahezu hundert Prozent treffen, und dann zur Sicherheit bei allen relevanten Rechtsnormen auch noch die jeweiligen Paragraphen zum Nachlesen angeführt. Sollten dennoch rechtliche Unschärfen verblieben sein, bitte ich vielmals um Entschuldigung.

Außerdem habe ich sehr viel Wert darauf gelegt, rechtsstaatliche Verfahrensabläufe verständlich, aber genau zu schildern. Sind nämlich von Ermittlungshandlungen bürgerliche Grundrechte tangiert, empfinde ich grobe Schnitzer, wie sie leider auch in der Krimilandschaft vorkommen, als fatal. Denn sie berühren in vielen Fällen das Selbstverständnis des Rechtsstaats, in dem wir leben. Und in diesem Staat stellen Polizisten nun eben mal keine Durchsuchungsbefehle aus, sie brechen nicht auf der Suche nach belastendem Beweismaterial so ganz nebenbei in Wohnungen oder Büros ein, sie verweigern Beschuldigten nicht regelmäßig den anwaltlichen Beistand und so weiter. Andererseits lassen sich Geldtransfers auf dem Giro­konto des Betroffenen durch Bankermittlungen herausbekommen, auch wenn man als Ermittler keine Bankmitarbeiterin persönlich kennt und sich von ihr unter der Hand Daten zuspielen lässt. Dazu braucht es in Realität, mit oder ohne Bankbekanntschaft, eine richterliche Anordnung. Und die beantragt auch nicht die Polizei, sondern die Staatsanwaltschaft ( Das Bankgeheimnis).

Hoffentlich finden Sie auf Ihre Fragen im Folgenden auch die passenden Antworten. Nur auf eine ganz sicher nicht, deshalb gleich vorweg: In Streifenwagen gibt es keine Ringe, an denen Handschellen festgemacht werden. Der Gefangene wird an der Flucht gehindert, indem er hinten geschlossen und ins Fahrzeug gesetzt wird ( Der Weg in die Untersuchungshaft).

Manfred Büttner

Unser detektivischer Sinn

Für Konsumentinnen von Krimis ist es ganz einfach, den Mörder zu entlarven. Wir brauchen dazu keine kriminalistischen Methoden, wir müssen keine Alibis abgleichen oder Puzzleteile zusammenfügen. Es genügt, wenn wir wissen – und das wissen wir auch intuitiv –, wie Krimis aufgebaut sind.

Wenn im Tatort Mauerblümchen (MDR, 8.3.2009) ein Leipziger Bauunternehmer ermordet wird, dann ist der Täter nicht der Bauunternehmer, der sich am Vorabend mit ihm traf, und auch nicht die Ehefrau, die als Erste in Verdacht gerät. Als erfahrene Krimiguckerinnen wissen wir es, sobald er auftritt: Es ist der Mann, der von Helmut Zierl gespielt wird, dem prominentesten Schauspieler in einer Nebenrolle. Im Buch ist der Täter (oder die Täterin) fast immer die Figur, die der Ermittlerin auf den ersten Seiten begegnet und die am Verbrechen unbeteiligt erscheint. Das muss so sein, denn als Krimiautorinnen sind wir gehalten, unseren Täter oder unsere Täterin nicht erst im letzten Drittel einzuführen. Er oder sie muss von Anfang an als starke Figur präsent sein.

Im Fernsehkrimi ist die Dramaturgie noch standardisierter. Man kann die Uhr danach stellen. Wenn er um 20:15 Uhr anfängt und anderthalb Stunden dauert, wissen wir beispielsweise, dass alle, denen die Polizei bis 21:30 Uhr hinterherjagt, nicht die Täter sind. Wir behalten derweil die prominente Nebenrolle oder die scheinbar am Verbrechen unbeteiligte Frau im Auge. Um 21:30 Uhr enden alle Nebenhandlungen und Verwirrungen, und wer nun in den Fokus gerät, der ist es, eben die prominente Nebenrolle oder die Frau, die niemand in Verdacht hatte.

Die Polizei, deren Tun wir in Krimis beobachten, muss dagegen durchaus kriminalistisch handeln. Sie muss einen Täter identifizieren und überführen. Seit Jahrzehnten wird die Ermittlungsarbeit im deutschen Fernseh­krimi von einem Kommissar und seinem Assistenten erledigt. Manchmal hat er mehrere Assistenten, manchmal ist der Kommissar auch eine Frau und hat einen jüngeren Ermittlungspartner. Sie haben ein Büro, zuweilen taucht eine Sekretärin auf oder auch mal ein Chef, der zur Eile mahnt. Neuerdings wird das Ensemble durch eine Gerichtsmedizinerin ergänzt, und gelegentlich lässt sich jetzt auch schon eine Staatsanwältin blicken. Seit Ende der siebziger Jahre kennen wir auch Sokos (ZDF). Der Polizeibegriff war damals ziemlich unbekannt und sollte für Teamarbeit stehen. In Fernseh-Sokos ermitteln meistens fünf Personen. Fiktion muss die handelnden Personen reduzieren, deshalb kann sie nie eine zwanzigköpfige Soko abbilden. Zu viel Lebenswirklichkeit lenkt ab. Und ein Kommissar, der den Fall im Büro am Schreibtisch beim Aktenstudium löst, erfordert höchstes erzählerisches Talent, um den Fall und die handelnden – oder eben nicht handelnden – Personen doch irgendwie spannend zu machen.

 

Dass Krimis eins zu eins Realität sein sollen, wäre eine unsinnige Erwartung. Aber es gibt auch Untergrenzen. Bei mir war Schluss mit lustig, als bei einer Lesung eine meiner Mitstreiterinnen einen Kurzkrimi vorlas, der im Prinzip* folgendermaßen ablief:

Fanny Fuchs hat eine Mordswut auf ihren Mann. Im Streit schubst sie ihn gegen die Eichenschrankwand. Aus dem obersten Fach fällt eine Bronzeplastik auf seinen Schädel. Er ist tot!, stellt Fanny fest. So ganz unrecht ist es ihr nicht. Aber wer wird ihr glauben, dass sie ihn nicht ermordet hat? Die Mordkommission ermittelt. Kommissar Kalle Holbein jagt sie. Fanny taucht unter, doch er trifft sie zufällig in der Sauna, verhaftet sie und triumphiert: »Für den Mord an Ihrem Mann kommen Sie für den Rest Ihres Lebens ins Gefängnis.« Wie soll sie ihm beweisen, dass sie nicht zugeschlagen hat? Sie ergreift sein Handtuch und erdrosselt ihn.

Das Drama einer Frau, die ihren nicht geliebten Mann durch einen Zufall loswird, sich als Gejagte sieht und in ihrer Angst, für den Rest ihres Lebens für einen Mord büßen zu müssen, den sie nicht begangen hat, zur Mörderin wird, mag psychologisch interessant sein, doch würde es sich ums Verrecken in unserer Wirklichkeit nicht zutragen können.

Aus der Tatortanalyse der Kriminaltechniker, aus Auffindesituation, Lage der Leiche, Verletzungen und Spuren ergibt sich nämlich ziemlich genau, was vorgefallen ist. Man würde vermuten, dass die Ehefrau ihren Mann gestoßen hat. Von einem Mordvorwurf sind wir da noch weit entfernt. Fanny stünde höchstens unter dem Verdacht des Totschlags oder der gefährlichen Körperverletzung mit Todesfolge. Darauf steht nicht unbedingt lebenslänglich. Da kann Kommissar Holbein noch so drohend, geifernd oder einschüchternd auftreten, ihr heimtückischen Mord unterstellen, letztlich entscheidet die Richterin. Und nicht Fanny muss beweisen, dass sie ihren Mann nicht getötet hat, sondern die Staatsanwältin muss die Beweise vorlegen, dass Fanny ihren Mann töten wollte oder seinen Tod billigend in Kauf genommen hat. Wenn sie das nicht kann, wird die Richterin Fanny am Ende freisprechen, zumindest in diesem Punkt.

Sollte sich nämlich bei den Ermittlungen herausstellen, dass Fanny ihren Mann in der Wohnung zurückgelassen hat, wissend, dass er noch nicht tot war, muss sie sich wegen strafbarer Aussetzung verantworten. Allerdings hätte ihr Mann ihr da auch leicht selbst einen Strich durch die Rechnung machen können. Denn nach einiger Zeit wäre er vielleicht mit brummendem Schädel aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, hätte die blutige Wunde ertastet und selbst den Arzt rufen können. Schädelverletzungen sind nicht immer sofort tödlich. Sie entfalten ihre tödliche Wirkung oft im Laufe von Stunden, manchmal sogar Tagen, wenn sie nicht medizinisch versorgt werden ( Hirnverletzungen).

Den Mord in der Sauna hätte Fanny sich jedenfalls sparen können. Was Kommissar Holbein über sie denkt, ist irrelevant. Und verhaften kann er Fanny auch nicht, denn dazu bräuchte er einen vom Richter unterschriebenen Haftbefehl. Er kann Fanny bestenfalls vorläufig festnehmen ( Festnehmen und verhaften).

Aber nehmen wir an, Fanny kennt sich mit den juristischen Feinheiten nicht aus und glaubt sich verloren. Nehmen wir an, ihr kommt auch der Gedanke nicht, dass hinter Holbein ein ganzes Dezernat, ja ein riesiger Polizeiapparat steckt, der nicht ruhen wird, bis er eine Polizistenmörderin gefasst hat, dann sollte sie wenigstens nicht Holbeins Saunahandtuch nehmen, um ihn zu erdrosseln, sondern eine Kordel, ein Stahlseil oder die Kette, die er trägt.

Erdrosseln mit einem Handtuch ist ein Kraftakt, der zwischen fünf und zehn Minuten dauert. In den ersten Minuten ist die Gegenwehr überdies heftig. Hört Fanny auf, sobald Holbein ohnmächtig ist, erholt er sich wieder und kann ihren Anschlag bezeugen. Fanny kann ihn nur dann rasch handlungsunfähig machen, wenn sie ihn mit seiner eigenen Goldkette stranguliert (falls die Kette hält), ihm also die Hirnvenen abdrückt ( Der gewaltsame Tod). Auch das dürfte in der schweißglitschigen Atmosphäre der Sauna nicht so einfach sein. Keinesfalls sollte sie glauben, ihr Werk sei getan, wenn sich Holbeins Blase entleert und er sich nicht mehr regt. Lässt sie zu früh los, überlebt er.

Krimi ohne Kriminologie

Populäre deutsche Krimis neigen dazu, die Kriminalistik brachliegen zu lassen. Wir schreiben Gesellschaftsstücke, die einer erzählerischen oder filmischen Dramaturgie folgen, welche die Spannung aus den zwischenmenschlichen Konflikten und individuellen Aktionen bezieht. Im Krimi werden Verbrechen hauptsächlich auf kommunikativer Ebene gelöst: Befragungen, Besuche, Alibi-Überprüfung, raffinierte Vernehmungen, Schlauheit des Ermittlers und Zufälle. Tatsächlich aber ist die Untersuchung eines Tötungsdelikts institutionalisiert und unter zahlreichen Akteuren und Abteilungen aufgeteilt, findet in Laboren, an Konferenztischen und in Akten statt und wird von zahllosen, dem individuellen Handeln der Ermittler übergeordneten Regeln begleitet.

Die Soko Wismar, die in einer hübschen Polizeidienststelle untergebracht ist und aus Chef, zwei zivilen Ermittlern und zwei bis drei uniformierten Beamten besteht, wird zu einem Toten gerufen, der im Stroh eines entlegenen Bauernhofs liegt (ZDF, 10.12.2008). Der Gerichtsmedizinerin fällt auf, dass sein Gesicht nach Benzin riecht, den Kommissaren, dass sein Anzug zu groß ist. Die Kriminaltechnik stellt fest, dass der Anzug gereinigt wurde und lange in einem Schrank lag. Zugleich ist der Gast des Bauernhofs, eine Frau, verschwunden. Im Zimmer der Frau finden sich Männerkleider. Die Ermittler finden nach und nach Hinweise, dass der Mann ein Transsexueller war, der seine Umwandlung zur Frau betrieb. Er/Sie wurde vom Bauern umgebracht, als er entdeckte, dass die Frau, in die er sich verliebt hat, biologisch noch ein Mann ist. Der Bauer hat sein Opfer mit bloßen Händen erwürgt und ihm dabei den Kehlkopf eingedrückt. Dann hat er dem Opfer mit Benzin die Schminke aus dem Gesicht entfernt, ihm die Frauenkleider ausgezogen, Männerkleider (seinen eigenen alten Anzug) angezogen und ihn anderntags von seiner Schwester in der Scheune finden lassen.

Eine ungewöhnlich originelle Geschichte, das muss man sagen. Da denken wir auch nicht weiter darüber nach, ob man immer tumbe Bauern vom Land entlarven muss oder warum ein Transsexueller sein Coming-out als Frau an einem Bauern in Mecklenburg ausprobiert statt in Berlin. Allerdings hätten in Wirklichkeit Kriminaltechnik und Gerichtsmedizin den Ermittlungen sogleich die Zielrichtung vorgegeben, welche die Ermittler hier mühsam aus Zeugenbefragungen und illegalen Wohnungsdurchsuchun­gen extrahieren und wofür sie zum Schluss das Geständnis des Täters brauchen. Der Fall wäre ohne eine einzige Zeugenbefragung aufgeklärt worden.

Man muss sich nur vorstellen, wie der Bauer die Leiche auszieht und wieder anzieht. Das ist anstrengend und langwierig. Der Transsexuelle dürfte von der Perücke bis zum Slip vollständig weibliche Wäsche getragen haben. Und von der Unterhose bis zum Anzug müsste der Täter ihn neu eingekleidet haben. Und dabei sollte er wirklich keinerlei Spuren hinterlassen haben, keinen Strohhalm zwischen Unterhemd und Haut, was kein Lebender ertragen hätte, keinen Kratzer seiner Fingernägel auf der Haut des Toten, kein Haar von seinem Kopf? Die Gerichtsmedizinerin hätte am Körper des Toten unbedingt fremdes Genmaterial gefunden, Haare und Hautschuppen. Außerdem hätte sie Spuren des postmortalen Kleiderwechsels entdeckt. Auch dass der Tote zu Lebzeiten diese Kleidung nicht getragen hat, hätte sie gesehen, allein schon deshalb, weil ein Mensch, der erwürgt wird, sich in die Hosen macht.

Aber selbst wenn die Gerichtsmedizinerin und ihr gesamtes Institut gerade einen schlechten Tag gehabt hätten, wäre der Täter auf den ersten Blick an den Kratzern im Gesicht und auf seinen Armen erkennbar gewesen. Ein Opfer, dem der Kehlkopf eingedrückt wird, wartet nicht wehrlos, bis es tot ist. Die Kampfspuren in der Scheune hätten ein Übriges dazu beigetragen, dass man den Bauern zeitnah zur Vernehmung mitgenommen und die Staatsanwältin einen Gentest anberaumt hätte und der Beschuldigte noch am selben Tag dem Ermittlungsrichter vorgeführt worden wäre. Der Bauer wäre besser beraten gewesen, wenn er die Leiche nackt in einem einsamen Gewässer entsorgt hätte. Natürlich hätte die Kriminaltechnik letztlich in seinem Auto oder auf dem Hof gen­identische Spuren gesichert, aber nur, wenn sie die Leiche auch gefunden hätte.