Das Liebesleben der Stachelschweine

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Das Liebesleben der Stachelschweine
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Christian Schacherreiter

Das Liebesleben der Stachelschweine

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert von den Kulturabteilungen des Landes Oberösterreich sowie Stadt und Land Salzburg.


www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1294-8

eISBN 978-3-7013-6294-3

© 2022 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín

Covergestaltung: Leopold Fellinger

Inhalt

Das Personal

1 Jede Familie ist auf ihre Weise seltsam

2 Die Gralsburg der Pernauers

3 Dietrich genoss das festigende Gefühl des Anerkannten

4 Der lärmempfindliche Maulwurf war Dietrichs Lieblingstier

5 Das ist der Schoß, aus dem die Schlaganfälle kriechen

6 Die höchste Stufe männlicher Berufung

7 Sehr interessiert waren die Russen von Anfang an nicht

8 Der Konvent franste unschön aus

9 Ahmed, der böse Eunuch

10 Unerwünschtes Wiedersehen

11 Locker tänzelte der Stürmer ins Abseits

12 Wir sind eine Stachelschweinfamilie

13 Dietrich, erwache!

14 Ich schwöre beim Geist von Bruno Kreisky: Das ist nicht wahr!

15 Wir stehen erst am Anfang einer kleinen Abenteuerreise

16 Dietrich träumte süß vom Untergang seiner Feinde

17 Im Begleitschutz von zwei Markomannen bezog Hänsel sein Winterquartier

18 Der Spion kam über die Nordwestroute

19 Kein Happy End für Hänsel und Gretel

20 Aufgeputzt wie ein Herr stand Dietrich in der Bauernstube

21 Waffenhilfe für Gretel kam von unerwarteter Instanz

22 Jeder, der eine Familie hat, könnte einen Roman schreiben

23 Das war ein Volltreffer aus Rebekkas pazifistischem Geschoß

24 Diederich, wir schlagen die politische Mensur!

25 Hannelore, sehr transatlantisch, urban und weltweiblich

26 Meine Erinnerung ist lückenhaft und unzuverlässig

27 Die Menschheit hatte ein funkelnagelneues Großthema: Corona

28 Pünktlich zur Sommersonnenwende kam der Bagger

Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. […] Wer jedoch viel eigene innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.

Arthur Schopenhauer,

„Parerga und Paralipomena“ (1851)

DAS PERSONAL

Dietrich Pernauer, seine Familie, sein Umfeld

Generation Krieg und Hakenkreuz

Opa Josef (1918–2004)

Oma Agnes (1918–1991)

Onkel Heinz, Josefs Bruder (1920–1995)

Tante Berta (1922–2000), Heinz’ Ehefrau

Generation Nachkriegszeit und Wiederaufbau

Mutti Hildegard (*1944)

Vati Otto (1941–1999)

Onkel Harald, Hildegards Cousin (1946–1996)

Waldemar (*1949), Reingards Lebensgefährte, verheiratet mit Annegret

Generation Friedenszeit und Postmoderne

Joachim (*1968)

Birgit, seine Ehefrau (*1973)

Jens (*2009) und Nils (*2013), ihre Söhne

Hannelore (*1971), verheiratete Lichtenstein (New York)

Dietrich (*1975)

Reinhard und Reingard, Zwillinge (*1981)

Rebekka, Reinhards Lebensgefährtin (*1980)

Sarah, Rebekkas Tochter aus erster Ehe (*2014)

Dr. Gernot Brunmayr, Rechtsanwalt

Die Neugermanen

Hans-Werner Hänsel, seine Familie, sein Umfeld

Hans-Werner Hänsel (*1974)

Hänsels Eltern (*1948)

Mag. Romana Jovanovic, Hänsels Lebensgefährtin (*1981)

Mira, Romanas Tochter aus erster Ehe (*2006)

Alma, Romanas und Hänsels Tochter (*2013)

Astrid, Hänsels erste Ehefrau (*1973)

Viktor, Hänsels Sohn aus erster Ehe (*1998)

Margarete „Gretel“ Maurer, spätere Kantor (*1975)

Dr. Severin Voglgruber, Rechtsanwalt

Dr. Martha Voglgruber, seine Tochter, Rechtsanwältin

Dr. Markus Urban, ihr Lebensgefährte

Die Parteifreund*innen

1 Jede Familie ist auf ihre Weise seltsam

Eine Nazifamilie! Reden wir nicht drum herum! Diese Familie ist eine Nazifamilie! – So wird es auch diesmal enden, dachte Dietrich, hämisch eingeigelt in sein böses Vorvergnügen. Wie jedes Jahr zur Sommersonnenwende werden spätabends am Lagerfeuer die Aversionen des Pernauer Germanenbluts hochkochen und die braune Brühe zum Überlaufen bringen. Und wieder einmal wird es der alkoholisierte Reinhard sein, der nach turbulentem Gespräch unter dem Sternenhimmel hohnlachend verkünden wird: Diese Familie ist eine Nazifamilie! Mutti wird aufschluchzen. Joachim wird seinen ungezogenen kleinen Bruder väterlich maßregeln: Schweig jetzt, Reinhard, du hast getrunken! Aber Reingard wird ihrem hassgeliebten Zwillingsbruder therapeutisch beispringen: So lass ihn doch! Das muss raus aus ihm! Soll er daran ersticken?

Nazifamilie, dachte Dietrich, das ist doch übertrieben, aber wir lassen sie nicht verdunsten, unsere gruselige Aura, obwohl die drei Parteigenossen Onkel Heinz, Tante Berta und Opa schon seit Jahren vor sich hinstauben in ihren Urnen. Ich glaube, wir brauchen das. Nazifamilie. Huh! Auch das Böse gibt Profil.

Böse war Opa eigentlich nicht. Nach Dietrichs Einschätzung war er der Harmloseste im braunen Trio, ein glühender Nazi der ersten Stunde zwar, wie er freimütig bekannte, mit siebzehn schon Illegaler, aber nie mehr als ein einfaches Parteimitglied. Im Krieg wurde der Medizinstudent als Sanitäter an der Westfront eingesetzt, wo er sich elegant und unauffällig durch die Jahre schlängelte. „Auf die Franzosen!“, sagte Opa, wenn er des Erbfeinds feine Weine trank, „ich mochte sie immer, auch im Krieg, ein altes, stolzes Kulturvolk. Wenn die 1919 ihre Scharfmacher unter Kontrolle gebracht hätten, dann gäbe es die deutsch-französische Freundschaft schon seit den Zwanzigern.“ Siebenundvierzig holte Opa seinen Abschluss nach und ließ sich am Land als Allgemeinmediziner nieder, mit ihm seine Frau Agnes und der fünfjährige Otto, gezeugt während eines Heimaturlaubs.

Opas Bruder Heinz Albert saß 1947 noch im Gefängnis. Bei SS-Männern schauten auch die Amerikaner genauer hin, aber die wenigen Aussagen über Heinz Alberts Beteiligung an Kriegsverbrechen in der Ukraine blieben zu vage, um daraus eine überzeugende Anklage zu machen. Onkel Heinz wurde freigesprochen, studierte in Rekordzeit Jura und trat in die Anwaltskanzlei eines ehemaligen Parteifreundes ein, in der er bald Partner wurde. Er war Mitglied des VdU, hielt sich aber politisch im Hintergrund, überließ die Aktivitäten seiner Frau Berta. Als leidenschaftliche BDM-Führerin – so ihre Selbstdarstellung – habe sie wertvolle Erfahrungen gesammelt, die eine junge Partei in der Aufbauphase gut brauchen könne, hauptsächlich im Organisatorischen.

 

In der Großfamilie wusste man, dass Berta und Heinz Albert jährlich am 20. April in ihrem Partykeller bei zugezogenen Vorhängen engste Freunde zu einer kleinen Festveranstaltung im privaten Kreis empfingen. Das soll man gar nicht ernst nehmen, das ist wie Fasching, sagte Opa, der selbst nie teilnahm. Über Hitler war er sich nicht einig mit seinem Bruder und noch weniger mit seiner Schwägerin. Berta ist ein Trampel, sagte Opa, ein Zellhaufen dummer Sinnlichkeit. Die träumt immer noch davon, mit Adolf einen neuen deutschen Siegfried zu zeugen. Dabei war der Führer impotent wie ein Zugochse. Na ja, und Bertas Schoß ist ja auch unfruchtbar geblieben.

Opa war davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus als Idee groß und gut war, dass Hitler ihn missbraucht, verraten, nicht verstanden, diskreditiert und letztlich ruiniert hat. Ich war ein Mann der Konservativen Revolution, Alfred Rosenberg und Ernst Jünger, der Mythos des 20. Jahrhunderts und der Krieger im Stahlgewitter, das waren meine Jugendideale, sagte Opa, ja, ich war ein Idealist. Hitler war ein bauernschlauer Parvenü, ein neurotischer Scharlatan, dem der brave deutsche Michel naiv nachgelaufen ist – und dumme Weiber wie unsere Berta.

Korporiert waren sie alle, wenn auch in unterschiedlichen Verbindungen. Korporiert sind wir Pernauers seit 1874, sagte Opa, das war so, das ist so und das soll so bleiben. Es ist auch so geblieben, dachte Dietrich, Vati war korporiert, Joachim ist es und ich bin es auch. Nur Reinhard ist es nicht, natürlich nicht …

„Reinhard, schau mal kurz her!“, rief Dietrich und drückte mehrere Male auf den Auslöser, bis er seinen bezaubernden kleinen Bruder so affenartig im Bild hatte, wie er ihn haben wollte. Weiße, weite Seglerhose, cremefarbenes Gilet, kragenloses Leinenhemd, den breitkrempigen Panamahut in den Nacken geschoben, die Sonnenbrille in der einen Hand, in der anderen den goldenen Zigarettenspitz aus dem Nachlass von Onkel Harald. So posierte Reinhard und setzte sein Dandy-Lächeln für Sonn- und Feiertage ein. Fragte ihn jemand nach seinem Beruf, dann antwortete er halb raunend, halb seufzend: Flanierender Weltensammler! Diese eitle Flasche ist mein Bruder, dachte Dietrich. Weltensammler! Sammler abgebrochener Studien und gesperrter Bankkonten, das ist die treffende Antwort! Wenn Mutti ihm nicht sein halbes Erbe vorgeschossen hätte, würde er längst durch die Obdachlosenwelt flanieren. Reinhards Kapital waren die angeborene Schönheit und die ebenso unverdiente Präsentationskompetenz. Niemand konnte Hilfsbedürftigkeit so charmant an die Frau bringen wie er.

„Rebekka, schau mal kurz her!“, rief Dietrich, dem bei Familienfeiern immer die Rolle des Fotografen aufgedrängt wurde. Dadurch kam er selbst nie ins Bild, was er manchmal als Vorteil, manchmal als Nachteil sah. Rebekka strich unsicher lächelnd das lange braune Haar aus dem Gesicht und lehnte sich spontan an ihren Reinhard, Arm in Arm, Wange an Wange, ein Leib und ein Blut, spirituell betrachtet. Rebekka war Religionspädagogin, die Fleisch gewordene Güte, Reinhards Schutzmantelmadonna, wie Joachim spöttelte. Dietrich waren sie rätselhaft, diese Frauen, die Serienmördern warmherzige Briefe ins Gefängnis schickten oder jahrelang prügelnde Alkoholiker ertrugen, in der Überzeugung, ihre selbstlose Liebe könne ruinierte Charaktere heilen. Das ist nicht nur maßlose Güte, dachte Dietrich, das ist auch maßlose Selbstgefälligkeit.

Ganz so schlimm lag die Sache bei Rebekka nicht. Sie hatte drei Jahre in der Entwicklungshilfe gearbeitet. Aus Burkina Faso hatte sie ihren ersten Ehemann Samuel mitgebracht und eine gottgewollte Schwangerschaft, die nach der Geburt auf den Namen Sarah getauft wurde. Das Negerpüppchen, dachte Dietrich, wie alt ist sie jetzt? Vier oder schon fünf? Samuel war, als er Rebekkas letztes Sparbuch leergeräumt hatte, ohne Angabe von Gründen wort- und spurlos verschwunden. Rebekka hatte um den Verschollenen lange getrauert, ihm aber längst verziehen. „Dass er mir drei Jahre lang sein befreites Lachen geschenkt hat, wiegt alle Reichtümer dieser Welt auf.“ O ja, solche Sätze sagte diese Frau!

Reinhard bemühte sich, einen ganz großartigen Ersatzvater zu markieren, den der Himmel geschickt hatte. Solange Rebekka alles Alltägliche übernahm, war das kein Problem für ihn. Er alberte gerne ein bisschen herum mit den kleinen Rackern.

„Sarah, schau mal kurz her“, rief Dietrich und drückte auf den Auslöser, als die Kleine ihrem muhenden Ersatzvater gerade ein Büschel Gras in den Mund schieben wollte.

„Ich staune immer wieder, wie gut unser Reinhard mit Kindern umgehen kann“, sagte Hildegard Pernauer gerührt.

„Weil er die wunderbare Fähigkeit hat, sein inneres Kind zuzulassen. Das verdankt er sicher auch dir, Hildegard. Du warst ihm eine gute Mutter.“

O ja, auch solche Sätze brachte Rebekka glaubwürdig über ihre Lippen. Eigentlich schöne Lippen, dachte Dietrich und drückte noch einmal auf den Auslöser. Gütig lag Rebekkas Hand auf dem Unterarm der Greisin. Dietrich lachte. Jede Familie ist auf ihre Weise seltsam.

Während Reinhard mit Sarah sein inneres Kind entfaltete, erledigte Joachim gemeinsam mit seinen zwei Buben die Männerarbeit. Die Sonne stand schon tief, spätestens in einer halben Stunde würde sie hinter den Wipfeln verschwinden, dann sollte das Sonnwendfeuer leuchten. Jens und Nils brachten dicke Scheite vom Holzstoß, legten demonstrativ Lasten auf ihre Arme, die auf die Bärenkräfte der jungen Träger schließen ließen, und ordneten die Scheite nach Joachims Anweisung an. Über die Feuerstelle gebeugt, verhalfen die drei dem Fotografen zu einem kernigen Motiv: Drei Lederhosenhintern vor tief stehender Sonne. Dietrich drückte auf den Auslöser und sagte erst nachher: „Joachim, Jens, Nils, schaut mal kurz he-er!“

Wo war Birgit? Wahrscheinlich in der Küche. Die Herrin der Pfannen und Töpfe. Die Meisterin von Kartoffelsalat und Ofengemüse, aber nicht nur das.

„Birgit, schau mal kurz her!“

„Wenn es sein muss.“ Sie seufzte und rang sich dann doch ein müdes Kameralächeln ab. Ein Zugeständnis an den werbenden Fotografen.

„Mehr Heiterkeit, werte Frau Schwägerin, wir feiern Sommersonnenwende.“

„Hoffentlich zum letzten Mal.“

„Wie darf ich das verstehen?“

„Hoffentlich zum letzten Mal hier in dieser Ruine. Du siehst ja, in welchem Zustand die Küche ist. Eure Mutter hat seit einem Vierteljahrhundert nichts mehr investiert.“

„Das macht doch nichts. Im Gegenteil. Die Küche fügt sich optimal zum Gesamtzustand der Bruchbude.“

Jetzt lachte Birgit und Dietrich drückte auf den Auslöser. Ein gelungenes Bild. Dietrich mochte seine Schwägerin. Eine tüchtige Frau, die anpackte, Geschmack hatte und die Dinge beim Namen nannte, ohne taktlos zu sein. Dietrich fand sie attraktiv, nicht eigentlich schön, aber sinnlich und kraftvoll, ein Weib im besten Sinn des guten, alten deutschen Wortes … groß und gut, ein biedres deutsches Weib … Das hatte er irgendwo einmal so gelesen. Hätte sich Dietrich für Frauen interessiert, dann hätte er seinen großen Bruder um Birgit beneidet.

Salate und Koteletts waren mariniert, Grillkohle und Holzscheite in Brand gesetzt, die Tafel war gedeckt, das Bierfass angeschlagen, da kam – wie immer als Letzte – Reingard mit ihrem Waldemar. Nein, Reingard kam nicht, Reingard erschien. Die Arme gütig ausgebreitet, das Lächeln tüchtig aufgezuckert, schwebte sie auf ihre Mitmenschen zu und meinte sehr viel zu sagen und zu geben, wenn sie jedem tief in die Augen blickte und seelenvoll hauchte: Mutti … Birgit … Reinhard … und so weiter. In kunstvoll verknotete Tücher war sie heute gehüllt, rot, orange, gelb. Klar, es war Sommersonnenwende und Reingard sah sich im Einklang mit der wirkenden Natur. Aus ihr bezog sie die magischen Kräfte, die teils ins Schöpferische drängten, teils ins Heilsame. Dieselben Frauenhände, die dem formlosen Ton seine Gestalt gaben, konnten auch, einfühlsam aufgelegt auf die richtigen Körperstellen, negative Energiefelder absaugen und positive zuleiten.

Dietrich grinste unschön. Er war sicher, dass es Reingards inspirierte Handauflegung war, die Waldemar dazu veranlasst hatte, nach vierzig Ehejahren seine Frau zu verlassen und der schönen Magierin nachzustellen, die um drei Jahrzehnte jünger war als er. Waldemar war ein reicher Mann. Seiner angehimmelten Lebensgefährtin hatte er ein Haus samt Atelier und Heilpraxis geschenkt.

Dass Waldemars Ehefrau Annegret, mit der er vier erwachsene Kinder hatte, nicht in die Scheidung einwilligen wollte, sorgte in der Familie Pernauer immer wieder für Entrüstung.

„Wie kann man nur so hartherzig und stur sein“, schimpfte Mutter Hildegard.

„Gekränkte alte Frauen sind schlechte Verliererinnen“, meinte Joachim, auch Reinhard artikulierte sein Unverständnis: „Dass es manchen Leuten so furchtbar schwerfällt loszulassen!“

Reingard, die Hauptbetroffene, erkannte den charakterlichen Schwachpunkt ihrer Kontrahentin. „Der geht es doch nur ums Geld.“ Rebekka hingegen seufzte: „Ach, Gott, ich hoffe, es gibt eine Lösung, die euch alle glücklich macht.“

„Birgit, was meinst denn du? Sag doch auch, dass das eine unmögliche Person ist!“, forderte Hildegard, aber Birgit blieb ausdrucksarm und wortkarg: „Ich kenne sie nicht.“

Dietrich führt seine Kamera von Motiv zu Motiv: Koteletts brutzeln appetitlich auf dem Holzkohlengrill. Klick. Joachim schlägt das Bierfass an. Klick. Der erste Schwall landet auf seinem Trachtenhemd. Verdutztes Joachim-Gesicht. Schadenfrohes Gejohle. Klick. Klick. Klick. Reinhard räkelt sich barfüßig im Liegestuhl und singt dröhnend Wenn der Sommer nicht mehr weit ist … Na meinetwegen, denkt Dietrich. Klick. Und jetzt: Rebekka und Birgit tragen Brot, Salat und Gemüse aus der Küche in den Innenhof und werden mit Applaus und Ahhh-Lauten empfangen. Klick. Klick. Reingard stößt mit Hildegard an, sie hebt das Prosecco-Glas und sagt auf ihre unvergleichliche Art: Mutti, auf einen Sommer, reich an Wundern … Klick? Nein. Dietrich weiß, wie gut Reingard auf diesem Foto wieder aussehen wird. Das gönnt er ihr nicht. Reingard gehört zu den wenigen Menschen, an denen selbst ein fotografierender Mephisto scheitern würde. Du meinst, du hättest die Dummheit fotografiert, die Verlogenheit entlarvt, die Obszönität an den Pranger gestellt. Aber was siehst du auf dem Bild? Den Geist, die Unschuld, den Liebreiz. Unerträglich! Gäbe es einen gerechten Gott, würde er blonde Stirnlocken und himmelblaue Augen verbieten!

Jens und Nils sprangen über das Sonnwendfeuer und überboten einander mit mutigen Posen. „Vorsichtig, Nils, nicht aufs Denken vergessen!“, warnte Birgit ihren Jüngeren, aber dann war es der ältere Jens, der die Großen mit einer spektakulären Pirouette beeindrucken wollte, dabei in unvorteilhafte Schräglage geriet, beim Aufsetzen stürzte und nach drei Sekunden Schockgesicht in kreischendes Flennen ausbrach. „Plärr nicht so kindisch“, ärgerte sich Joachim, „ist ja nichts passiert.“

„Essen ist fertig“, rief Waldemar, der sich um das Grillgut gekümmert hatte.

Essen! Dietrich greift schnell zur Kamera, denn das ist für ihn die beste Zeit. Der Mensch mag sich noch so sehr um kultiviertes Verhalten bemühen; wenn er isst, wird das Tierische sichtbar und bietet immer das eine oder andere Motiv für einen blamablen Schnappschuss. Dietrich lauert mit Adleraugen: Womit müht sich denn Mutti da ab? Mit einer Flachse oder mit ihrem dritten Gebiss? In Rebekkas Mundwinkel klebt ein herzförmiges Salatblatt. Skurril. Joachim fährt, bevor er den Bierkrug ansetzt, seine Lippen aus wie einen Schweinerüssel. Reinhard quatscht immer, also auch mit vollem Mund. Grauslich, denkt Dietrich und freut sich. Klick. Klick. Klick.

„Du bist doch auch noch spät Mutter geworden“, sagte Rebekka zu Birgit und nahm einen großen Schluck vom Rotwein.

„Na ja, bei Nils war ich vierzig. Warum fragst du?“

„Ich bin jetzt neununddreißig.“

„Bist du schwanger?“

„Nein, aber Reinhard und ich sollten auch ein gemeinsames Kind haben, finde ich, das würde unsere Liebe stärken.“

„Aha … Sieht er das auch so?“

„Irgendwie – schon.“

„Irgendwie?“

„Grundsätzlich wünscht er es sich auch. Aber er meint, er sei noch nicht so weit. Er hat dafür ein berührendes Bild.“

„Da bin ich mir sicher. Ist es zitierbar?“

 

Meine Vagabundenseele muss in diesem Leben weite Wege gehen.“

„Meine Güte!“

„Rebekka! Birgit! Schaut mal kurz he-er!“ Dietrich gönnte seinen Schwägerinnen dieses nette Motiv: Vertrauliches Frauengespräch. Das dunkle Blau von Birgits Sommerdirndl. Das etwas hellere Petrol von Rebekkas Shirt. Vor den Frauen die halb gefüllten Rotweingläser, hinter ihnen die Wand mit wildem Wein. Klick. Ausnahmsweise kein Meuchelbild!

„So, Dietrich, jetzt ist aber Schluss mit Fotoshooting!“, sagte Birgit. „Du hast noch nichts gegessen und bist selbst sicher auf keinem einzigen Bild zu sehen. Gib mir die Kamera und hol dir was vom Grill, bevor meine Jungs ihn leer gefressen haben.“

Birgit nahm ihm die Kamera aus der Hand, halb zog sie, halb riss sie, richtete sie auf sein verdutztes Gesicht, klick, dann auf den ganzen Mann, klick, dann schob sie ihn bestimmt zwischen Joachim und Waldemar. Klick. „Schau mal, Dietrich, das bist jetzt du. Jeder hat seine hübschen und seine weniger hübschen Ansichten.“

Birgit gab ihm die Kamera zurück und drehte mit Entschiedenheit ab. War sie verärgert? Hatte sie ihn durchschaut? War das die Strafe, dass er sich jetzt selbst im Kasten hatte? Dietrich unplugged, das pure Menschenkind. Das verdross ihn. Weniger das Profilbild, auch wenn es etwas teigig wirkte. Was ihn mehr erschreckte, war die Totale, seine Jämmerlichkeit zwischen Waldemar und Joachim. Der Bruder zur Rechten war um einen halben Kopf größer, trainierte Männlichkeit in der Krachledernen, braungebrannt vom letzten Segeltörn. Waldemar zur Linken war zwar mit seinen siebzig Jahren erkennbar ein alter Mann, etwas gebückt und o-beinig, aber Kraft ging immer noch aus von diesem weißhaarigen Schwergewicht. Zwischen diesen Ikonen des Patriarchats wirkte der untersetzte Dietrich mit seinem schütteren Haupthaar filigran, fast feminin, irgendwie zappelig, und das Bierbäuchlein war ihm drangeklebt wie eine schlechte Pointe auf einen falschen Witz. Sah so ein Dietrich aus? Benannt nach Dietrich von Bern, dem großen mythischen Helden aus dem Nibelungenlied, historisch rückführbar auf einen tatsächlich Großen, den Ostgotenkönig Theoderich, nicht nur Eroberer, Verwalter und Gestalter der weströmischen Konkursmasse, sondern auch vernunftverheiratet mit Audofleda, Tochter des Merowingers Childerich I. und der Basena von Thüringen. Ein männlicher Spross war diesen Eheleuten nicht geschenkt, nur eine Tochter – aber was für eine! Gregor von Tours erzählt, dass Amalasuntha mit einem Sklaven durchgebrannt ist und ihre Mutter mit einem vergifteten Abendmahlskelch ermordet hat.

Na bravo! Eine feine Familie ist das, der Dietrich seinen Vornamen verdankt. Aber immerhin, eine Familie. Dietrich hatte noch immer keine gegründet. Mutti sah es mit Sorge und Argwohn, das wusste er. Nie hatte er ihr eine Freundin vorgestellt, nicht einmal ein lustiges Urlaubsfoto von der Ostsee geschickt, das ihn verliebt gezeigt hätte in irgendeine Karin aus Kiel oder eine Wiebke aus Flensburg. Dietrich hatte einmal gelauscht, als sich Mutti im Nebenzimmer mit gesenkter Stimme an Joachim gewandt hatte: Müssen wir uns um Dietrich Sorgen machen? – Sorgen? Um Dietrich? Warum denn? – Ich meine, er wird doch wohl ein normales, gesundes Mannsbild sein. – Ach, das meinst du. – Rede du doch einmal mit ihm. Vati ist tot, du bist der ältere Bruder.

Joachim hatte nie mit ihm geredet, obwohl er längst in die Rednerrolle hineingewachsen war. Gleich wird er das Wort zur Sommersonnenwende ergreifen, das Tradition war im Hause Pernauer. Ihr Gründer war Onkel Heinz. Er hatte das großfamiliäre Sonnwendfest angeregt, damals, in den Sechzigern, als die Tracht noch obligatorischer Dresscode war und Heinz Albert klare Worte gesprochen hatte, deutsch, fest und ohne Bemäntelung.

„So hat er immer gesagt, der Heinz Albert“, erinnerte sich Mutti, „deutsch, fest und ohne Bemäntelung. Schön hat er gesprochen, von der Familie als Keimzelle, von Sippe und Blut, das noch dicker ist als Gerstensaft. O ja, der konnte schon humorvoll sein, der Onkel Heinz, aber auch ernst und würdig, wenn er von den heiligen Bräuchen der Ahnen sprach, denen die Natur göttlich war.“

„Ja, die Natur“, stichelte Reinhard, „nicht so ein beschnittener Judenbengel aus Nazareth, der sich für Gottes Liebling hielt und sozialromantischen Schwachsinn verzapfte, anstatt mit seinem Volk gegen die römischen Besatzer zu kämpfen. So sagte er das immer, unser lustiger Onkel Heinz.“

„Ach was, das hat er doch nicht böse gemeint. Das war mehr ein Witz“, versuchte Hildegard zu beschwichtigen, aber Reinhard ließ nicht locker, erhob sich und ahmte Heinz Albert nach: „Ihr wisst, ich bin alles andere als ein Judenfreund, aber dass sie diesen Volksverblöder und Jugendverführer am Kreuz sehen wollten, das verstehe ich!“

„Das hat er gesagt?“ (Rebekka, verstört)

„Na ja, manchmal war er vielleicht ein bisschen extrem, der Heinz Albert.“ (Hildegard, nachsichtig)

„Ein unverbesserlicher Nazi war er, braun bis in die Unterhose und nicht nur manchmal.“ (Reinhard, giftig)

„Halte dich bitte zurück, Reinhard, du hast getrunken.“ (Joachim, streng)

Als Vater Pernauer in den frühen Neunzigern von Onkel Heinz die Rednerrolle übernommen hatte, entschärfte er die schneidige Sonnwend-Rhetorik. Den Judenbengel und Volksverblöder erwähnte er nicht mehr, auch nicht das Germanenblut, dicker als Gerstensaft. Otto Pernauer konzentrierte sich auf die Bräuche der Ahnen, Schicksal und Natur, das einige Volk und seine Keimzelle, die Familie. Die soll uns heilig sein – zumindest in der rhetorischen Darbietung, denn im praktischen Leben erlaubte sich Vati die eine oder andere Abweichung. Auf seiner letzten Reise, hinauf in den skandinavischen Norden zum Julfest, hatte ihn, wie die Familie im Nachhinein erfuhr, eine gewisse Frau Emmeran begleitet. Ihre fürsorgliche Zuwendung hatte aber den damals Achtundfünfzigjährigen auch nicht retten können vor dem plötzlichen Herztod am Fjord, vielleicht sogar im Gegenteil.

Jetzt also Joachim. In den frühen Jahren seiner Rednerschaft hatte der erfolgreiche junge Jurist die Verschlankung und ideologische Entschärfung, die sein Vater eingeleitet hatte, diskret, aber konsequent fortgesetzt, hatte nicht nur auf Blut und Boden, sondern auch auf Sippe und Vorsehung verzichtet. Geblieben waren die Treue zu Familie und Volk und die Ehrfurcht vor Tradition und Natur. Gemäßigtes Klima sozusagen, das allerdings nicht von Dauer war. Denn das Jahr 2015 stieß europaweit so manches an, im engeren Kreis der Familie Pernauer die Re-Ideologisierung der Sommersonnenwende. Festredner Joachim erinnerte an die Türkenbelagerung von Wien anno 1683 und warnte vor drohender Umvolkung, der man hart entgegentreten werde: Wir schaffen das! Joachims forciertes Parteiengagement schärfte auch seine private Rhetorik.

„Onkel Heinz und Vati wären stolz, wenn sie dich hören könnten“, sagte Hildegard.

„Ja, das wären sie, und so schließt sich der braune Kreis“, ätzte Reinhard, „von Heinz Albert über Otto zu Joachim und wieder zurück. Dieselbe Sprache. Dieselbe Haltung. Und wir alle spielen unglücklich mit. Mitgegangen. Mitgefangen. Diese Familie …“

Dietrich triumphierte. Gleich würde er fallen, der bekannte Satz, der das wackelige Kunstgebilde zum Einsturz bringen wird: Eine Nazifamilie! Diese Familie ist eine Nazifamilie!

Dietrich hatte diesmal zu früh triumphiert. Reinhards spitzer Satz blieb abrupt hängen, denn Muttis heftiger Aufschrei kam ihm zuvor: „Hört auf!“, schluchzte sie. „Wo es doch unser letztes Sonnwendfest ist.“

Das letzte Sonnwendfest? Was soll das heißen? Niemandem in der Runde glückte eine passende Reaktion.

„Joachim soll es euch erklären“, sagte Hildegard und alle starrten das informelle Familienoberhaupt an.

„Na gut“, sagte Joachim, „ich wollte zwar heute nicht darüber reden, aber da unsere Mutter ihre Gefühle leider nicht unter Kontrolle hat, muss es wohl sein. Ich habe Mutti empfohlen, das Wutscherhäusl zu veräußern.“

Veräußern? Verkaufen? Das Wutscherhäusl? Im Familienbesitz seit 1938. Dieses romantische Juwel. Ja, warum das denn? Man bedrängte Joachim. Er war ihnen eine Erklärung schuldig.

„Weil es nur zwei Möglichkeiten gibt: Verkauf zu einem guten Preis oder eine sauteure Generalsanierung.“