Management der Rehabilitation

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Management der Rehabilitation

Case Management im Handlungsfeld Rehabilitation

Nina Lichtenberg

Christian Rexrodt

Edwin Toepler

September 2017

Vorwort

Mit dem Paradigmenwechsel im Verständnis von Rehabilitation, weg von der rein defizitorientierten, medizinischen Sichtweise hin zur selbstbestimmten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, der mit dem Inkrafttreten des SGB IX im Jahr 2001 in Deutschland, der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009, der Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts und der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetztes im Jahr 2016 endgültig vollzogen wurde, haben sich die Anforderungen an die Strukturen und Prozesse derjenigen Institutionen verändert, die mit der Organisation, Durchführung und Finanzierung von Rehabilitation befasst sind.

Rehabilitation entwickelt sich damit von einer nachgelagerten (Teil-)Leistung zu einer der Schlüsselstrategien für die gesundheitliche Versorgung und soziale Sicherung.

Diese neue Sichtweise bedarf auch neuer Vorgehensweisen bei der Planung und Durchführung rehabilitativer Maßnahmen. Um eine effektive und effiziente Rehabilitation planen zu können, müssen einerseits zunächst eine große Zahl an Einflussfaktoren erfasst und beurteilt und andererseits eine Vielzahl an Leistungsträgern und Leistungserbringern koordiniert werden. Eine Herausforderung, der mit dem Handlungskonzept Case Management begegnet werden kann. Wie und warum, das soll in diesem Lehrbuch erläutert werden.

Das neue Verständnis von Rehabilitation erfordert auch verstärkte Anstrengungen in der Aus- und Fortbildung. Rehabilitation ist ein multidisziplinär geprägtes Arbeitsfeld. So wichtig dies angesichts der Breite der Aufgaben ist, so sehr ist die Rehabilitation auf ein gemeinsames Verständnis und übergreifende Verständigung angewiesen. Das Lehrbuch richtet sich daher trägerübergreifend an alle Institutionen, die mit dem Management der Rehabilitation (oft kurz „Reha-Management“ genannt) befasst sind. Es dient der grundlegenden Qualifizierung der SachbearbeiterInnen und zukünftigen Case ManagerInnen, FallmanagerInnen oder RehabilitationsmanagerInnen insbesondere der Sozialversicherungsträger und deren Netzwerkpartnern im Zuge der Erbringung von Leistungen zur Teilhabe.

Wir haben dieses Lehrbuch in vier Hauptteile gegliedert. Die ersten beiden Teile (Kapitel zwei und drei) bieten einen Überblick über die begrifflichen, theoretischen und gesetzlichen Grundlagen zu den Themen Gesundheit, Rehabilitation und zum Handlungsansatz Case Management. Der dritte Teil (Kapitel vier) stellt das Managementmodell der Rehabilitation vor. Zu den einzelnen Ebenen werden jeweils ausgewählte Instrumente und Methoden vorgestellt. Diese sind weder vollständig noch abschließend. Sie sollen einen Grundstock liefern, der im Lauf der beruflichen Erfahrungen ausgebaut und verfeinert wird. Der vierte Teil (Kapitel 5) widmet sich der Praxis des Reha-Managements bei unterschiedlichen Reha-Trägern. Auch wenn wir uns freuen würden, wenn das Buch tatsächlich von Anfang bis zum Ende gelesen wird, haben wir darauf geachtet, dass die einzelnen Kapitel für sich aussagefähig sind.

Wir wünschen allen LeserInnen viel Erfolg und Spaß beim Lesen und Lernen.

Nina Lichtenberg

Christian Rexrodt

Edwin Toepler

1 Gesundheit, Rehabilitation und Teilhabe

Bevor wir uns mit Begriffen wie Rehabilitation, Teilhabe oder Case Management befassen, müssen wir uns zunächst des Themas Gesundheit annehmen. Denn alles, was in diesem Lehrbuch dargestellt, erläutert oder diskutiert wird, dreht sich letztendlich um die unser Leben maßgeblich bestimmende Sache: Unsere Gesundheit.

Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit

Worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Gesundheit sprechen? Genau genommen hören oder sprechen wir viel häufiger von Krankheit als von Gesundheit. Mal abgesehen von einer Erkältung, die jede oder jeder von uns irgendwann hat, zwickt es doch hier und dort, der eine hat die eine, die nächste eine andere Krankheit. Und wenn wir selbst etwas haben, dann finden sich sehr schnell einige Verwandte und Bekannte, die ebenfalls davon berichten können. Ja, sind wir denn alle krank? Vielleicht sogar chronisch? Wenn wir genau hinsehen, wird das wohl mal mehr mal weniger so sein. Irgendetwas haben wir alle. Ist Gesundheit also ein Idealzustand, von dem wir nur träumen können? In ärztlichen Fachkreisen kursiert daher die Erkenntnis, dass nur derjenige gesund ist, der nicht ausreichend untersucht wurde. Wenn man nur gut genug diagnostiziert, dann wird man auch bei denen etwas finden, die sich selbst als kerngesund bezeichnen. Das ist statistisch bewiesen. Die Zahl der erkrankten Menschen korreliert mit der Zahl der Untersuchungen.

Gesundheit und Krankheit, Zusammenhänge und die Dynamik von Gesundheit und Krankheit beschäftigten die Menschen bereits in ganz früher Zeit. Die Definitionen sind untrennbar mit der jeweiligen Betrachtungsweise verbunden. So sind spirituelle Betrachtungsweisen ebenso zu finden, wie rein wissenschaftlich-medizinische. Weitergedacht bedeutet das aber auch, dass es sich weder bei dem empfundenen gesunden noch dem kranken Zustand um eine rein individuelle Wahrnehmung handelt, sondern dass hier zusätzlich die gesellschaftliche Komponente definierend wirkt. Es gibt Ansätze, die diese Thematik von Geschlecht, Alter, Ethnie angehen oder das jeweilige Umfeld in den Vordergrund stellen. Mitte des 19. Jahrhunderts gewannen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften so großen Einfluss in weiten Teilen der Welt, dass der Mensch in der Medizin objektiviert wurde. Der Körper wird eine objektiv messbare Größe. Der Organismus wird als ein funktionierendes System reibungsloser Abläufe angenommen. Eine Analogie zu Maschinen kann nicht von der Hand gewiesen werden. Der Krankheitsbegriff verdrängt hier den Gesundheitsbegriff. Jede Störung des Systems wird als krankhaft angenommen.1

Eine Definition von Gesundheit liefert uns die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Ottawa-Charta (1986) mit der folgenden Formulierung:

Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlseins und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Schwäche.

Zunächst fällt am Gesundheitsbegriff der Ottawa-Charta auf, dass Gesundheit nicht als das einfache Gegenteil von Krankheit beschrieben wird. „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selber und um andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selbst Entscheidungen zu fällen und Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit … ermöglichen“.2 Daraus resultiert ein eigenständiger Gesundheitsbegriff, der „in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten“3 und sich auch darin äußert, dass der Begriff Krankheit in der Ottawa Charta nicht weiter vorkommt.

Gesundheit wird in der Ottawa Charta prozesshaft definiert: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“.4 Gesundheit wird über das Ausbleiben von Krankheiten hinaus als „positive Gesundheit“ verstanden. In Abgrenzung zum krankheitsorientierten, pathogenetischen Verständnis von Gesundheit wird dieses eigenständige oder positive Gesundheitsverständnis salutogenetisch genannt.

Die Salutogenese beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung von Gesundheit und ist verbunden mit dem Namen Aaron Antonovsky5, einem israelischen Medizinsoziologen und Stressforscher. Er hat untersucht, wie Menschen, u. a. Überlebende aus Konzentrationslagern im dritten Reich, negative und zerstörerische Erfahrungen verarbeitet und ihr weiteres Leben bewältigt haben (1997). In der Erforschung der vielfältigen persönlichen Widerstandsquellen gelangte Antonovsky zu einem Konzept generalisierter Widerstandsressourcen, das er hinter den einzelnen Widerstandskräften, z. B. Immunsystem, Wissen, Ich-Stärke, Bewältigungskompetenzen, sozialer Unterstützung, Eingliederung ins soziale Netzwerke, soziokulturelle Widerstandsquellen etc., vermutet.

Dieses Konzept nennt Antonovsky den Kohärenzsinn (Sense of Coherence). Der Kohärenzsinn hat die Qualität einer zuversichtlichen und vertrauensvollen Grundeinstellung zum Leben, dass die Dinge im Leben sich gut entwickeln werden und dass man auf die eigenen Fähigkeiten sowie auch auf die Unterstützung anderer Menschen vertrauen kann. Das Konzept des Kohärenzsinns umfasst die drei Komponenten Verstehbarkeit (comprehensibility), Handhabbarkeit (manageability) und Bedeutsamkeit (meaningfullness):

► Verstehbarkeit: Die Ereignisse im Leben sind geordnet, vorhersehbar, und in irgendeiner Weise auch verständlich und nachvollziehbar

► Handhabbarkeit: Das Vertrauen darauf, dass Lebensaufgaben aus eigener Kraft oder mit Hilfe sozialer Unterstützung gemeistert werden können

► Bedeutsamkeit: Die Freude am Leben und das grundlegende Gefühl, dass das Leben auf dieser Welt einen Sinn ergibt.

Hiernach ist ein Mensch gesund, der seine eigene Lebenswelt als verstehbar, sinnhaft und beeinflussbar begreift. Die Ausprägung des Kohärenzsinns ist entscheidend dafür, dass Ressourcen zur Erhaltung der Gesundheit und des Wohlbefindens eingesetzt werden können. Ist der Kohärenzsinn stabil ausgeprägt, entsteht ein positives Selbstbild mit Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Der Kohärenzsinn wird durch Lebenserfahrungen beeinflusst.

 

Gesundheit in der Definition der Gesundheitswissenschaften ist ein Balanceakt, ein Abstimmungsakt zwischen drei Anforderungsbereichen6:

► Der physische und psychische Bereich des Körpers (Leistungsfähigkeit, Veranlagung, Konstitution etc.) und des Selbst (Selbstbild, Selbstwirksamkeit, Erwartungen etc.)

► Der soziale Bereich der Lebenswelt (der Einflussbereich der Familie, Gruppen, FreundInnen7, KollegenInnen etc.)

► Der Bereich der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt (Wohnen, Freizeit-verhältnisse etc.).

Diese drei Bereiche stellen Anforderungen an die persönliche Gesundheit als der individuellen Balance dieser Anforderungen. Das Maß dieser Balance liegt in der persönlichen Handlungsfähigkeit und Lebensbewältigung.

Bei genauer Betrachtung lässt sich eine hierarchische Gliederung dieser Einflussbereiche erkennen. Wir haben als untere Ebene die individuelle Gesundheit, die beeinflusst wird durch die Arbeits- und Lebensbedingungen, zwar nicht direkt kausal beeinflusst, aber doch in einem hierarchischen Verhältnis. Und ganz oben steht die soziale und gesellschaftliche Umwelt, die wiederum die Lebens- und Arbeitsbedingungen beeinflusst und darüber die individuelle Gesundheit beeinflusst.

Der Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann letztendlich definiert Gesundheit wie folgt (2000):

Gesundheit bezeichnet den Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist beeinträchtigt, wenn sich in einem oder mehreren dieser Bereiche Anforderungen ergeben, die von der Person in der jeweiligen Phase im Lebenslauf nicht erfüllt und bewältigt werden können. Die Beeinträchtigung kann sich, muss sich aber nicht, in Symptomen der sozialen, psychischen und physisch-physiologischen Auffälligkeit manifestieren.

Diese Definition behalten wir im Hinterkopf, wen wir uns im Folgenden der Rehabilitation, der UN-Behindertenrechtskonvention und der Frage zuwenden, was eigentlich der Begriff „Behinderung“ besagt.


Abbildung 1: Das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in Anlehnung an Antonovsky

Ein weiterer im Kontext von Gesundheit oftmals verwendeter Begriff ist „Prävention“. Prävention zielt im Gegensatz zur Gesundheitsförderung nicht auf eine verbesserte Gesundheit, sondern hat die Aufgabe, eine Verschlechterung der Gesundheit zu verhindern. Präventive Maßnahmen können als „Schutzmauer“ vor Einflüssen dargestellt werden, die die Gesundheit bedrohen. In Abbildung 1 sind Gesundheit und Krankheit als Kontinuum im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung und Prävention dargestellt.

Gesundheit und Krankheit sind demnach als die Endpunkte eines Kontinuums zu sehen. Jeder Mensch bewegt sich in seinem Leben innerhalb dieses Kontinuums. Er ist immer gesund und krank zugleich und mal überwiegt das Gefühl gesund zu sein, mal das Gefühl krank zu sein.

Die Gesundheitsstrategie „Rehabilitation“

Im Folgenden wenden wir uns der „Rehabilitation“ zu und gehen auf die Begriffe Beeinträchtigung, Behinderung, Teilhabe und Selbstbestimmung, Inklusion und Integration sowie Empowerment ein.

„Rehabilitation“ wird in Quellen seit 1493 mit dem spätlateinischen Wort rehabilitatio genannt8, übersetzt also Wiederherstellung. Gemeint ist die Gesamtheit aller Maßnahmen medizinischer, schulisch-pädagogischer, beruflicher und sozialer Art, die erforderlich sind, um chronisch kranken Menschen oder solchen mit Behinderungen die bestmöglichen körperlichen, seelischen und sozialen Bedingungen zu schaffen.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellt folgende Definition vor9:

Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkter Erwerbsfähigkeit haben Anspruch auf Unterstützung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Diese umfasst Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (z. B. ärztliche Behandlungen, Kuren, Therapien), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft [sic!]. Alle Rehabilitationsträger (in Deutschland, beispielweise die Bundesagentur für Arbeit , Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe ) sind verpflichtet, Menschen mit Behinderungen umfassend über mögliche Maßnahmen zu informieren und zu beraten.

Der Begriff Rehabilitation kann als der gesamte Prozess verstanden werden, der zur Herstellung oder Wiederherstellung sowie auch zur Erhaltung vollumfänglicher Teilhabe erforderlich ist. In diesem Prozess der Rehabilitation werden, idealerweise exakt aufeinander abgestimmt, verschiedene Leistungen zur Teilhabe erbracht. Welche Leistungen genau unter „Leistungen zur Teilhabe“ zu verstehen sind, ist vor allem im neunten Buch (SGB IX) des deutschen Sozialgesetzbuchs festgehalten. Die einzelnen Leistungsgesetze der jeweiligen Sozialversicherungszweige konkretisieren bzw. ergänzen dies.

Das SGB IX definiert dabei als Zielgruppe für Leistungen zur Teilhabe „behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen“. Als von Behinderung bedroht gilt bereits jeder, bei dem eine Beeinträchtigung der Teilhabe zu erwarten ist. Wichtig ist, dass dies bereits nach einem gar nicht allzu schweren Unfall oder einer mittelschweren Erkrankung der Fall sein kann. Im Rahmen dieses Lehrbuchs spielt dies eine besondere Rolle, da beim „Management der Rehabilitation“ der Fokus immer auf den Menschen mit Behinderung und den von Behinderung bedrohten Menschen liegt.

Zu beachten ist weiterhin, dass Leistungen zur Teilhabe nur dann erbracht werden können, wenn prognostiziert wird, dass sich dadurch der aktuelle Gesundheitszustand und die Teilhabesituation verbessern lassen. In jedem Fall gilt das Prinzip „Reha vor Rente“. Wenn nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die Rehabilitation bieten kann, doch noch eine Beeinträchtigung verbleibt, ist in Abhängigkeit von deren Ausprägung ggf. eine Rente zu zahlen.

Wichtig also ist zunächst festzuhalten, dass mit Rehabilitation der Prozess gemeint ist, der notwendig ist, um selbstbestimmte Teilhabe herzustellen und zu sichern, dass die damit verbundenen Leistungen zur Teilhabe allen behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen zustehen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention

Eine wichtige Rolle im Kontext der Rehabilitation stellt das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-BRK) dar.

Die UN-BRK fordert eine Gesellschaft, in der es selbstverständlich ist, dass Menschen mit Behinderung die gleichen unveräußerlichen Rechte wie alle anderen Menschen genießen. Allem voran gehört die gleichberechtigte Teilhabe und Selbstbestimmung in freier Entfaltung dazu.

Noch im ausgehenden 20. Jahrhundert wurden Menschen mit Behinderung als, Behinderte, Schwer- oder Schwerstbehinderte bezeichnet und im Sinne einer umfassenden Fürsorge fremdbestimmt und entmündigt. Nicht selten wurden Menschen mit Behinderungen ungeachtet ihrer tatsächlichen Beeinträchtigungen und vor allem ihrer Fähigkeiten in Heimen und Anstalten separiert. Das Führen eines selbstbestimmten Lebens wurde ihnen viel weniger zugetraut, als es eigentlich bei geeigneter Förderung möglich gewesen wäre.

Mit der Jahrtausendwende wurde diesbezüglich in Deutschland ein klarer Paradigmenwechsel eingeleitet. Mit Inkrafttreten des neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) am 1. Juli 2001 ist der Begriff der selbstbestimmten Teilhabe in die Sozialgesetze eingezogen. Durch die Ratifizierung der UN-BRK am 26. März 2009, die damit in den Rang eines einfachen Bundesgesetztes gehoben wurde, ist ein weiterer großer Schritt in Richtung gleichberechtigter Teilhabe für Menschen mit Behinderung getan worden. Am 16. Dezember 2016 wurde vom Deutschen Bundestag das Bundesteilhabegesetz (BTHG) verabschiedet, das als Artikelgesetz eine Reihe der durch die UN-BRK aufgestellten Forderungen für die deutsche Sozialgesetzgebung konkretisiert.

Die UN-BRK definiert Behinderung in Artikel 1 Satz 2 wie folgt:

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

In der Präambel der UN-BRK ist allgemein festgelegt:

„…dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht”. 10

Behinderung ist also keine Eigenschaft, die an einen Menschen gebunden ist, wie sein Alter, seine Hautfarbe oder sein Fingerabdruck. Behinderung ist vielmehr das Ergebnis einer Wechselwirkung von bestimmten Eigenschaften eines Menschen mit seiner Umwelt.

Eine Gesellschaft gestaltet ihre Umwelt in der Regel orientiert an bestimmten Normwerten. Da aber keine Norm alle Besonderheiten einzelner Individuen berücksichtigen kann, wird es immer Personen geben, für die die auf diese Weise gestalten Rahmenbedingungen ungeeignet sind. So werden Menschen, die über eine außergewöhnliche große Körperhöhe verfügen zum Beispiel ständig mit zu niedrigen Türen konfrontiert und können in Bussen, Bahnen und Flugzeugen kaum aufrecht stehen und gehen oder ergonomisch sitzen. Sie treffen also in unserer Umwelt ständig auf sogenannte Barrieren, die ihnen Probleme bereiten. Dies lässt sich auf andere besondere Merkmale und Eigenschaften übertragen. Denken wir nur an die Barrieren, denen hör- oder sehbeeinträchtige wie auch gehbeeinträchtige Menschen ausgesetzt sind. Die Behinderung entsteht dabei erst durch die Wechselwirkung mit der Umwelt. Wären Türen und Betten grundsätzlich 2,20 hoch bzw. lang, würde ein 2,10 Meter „großer“ Mensch wesentlich weniger behindert.

Für die Rehabilitation in Deutschland ist der Behinderungsbegriff maßgebend, wie er im §2 Abs. 1 SGB IX verankert ist. Dieser hat zum 1.1.2018 durch das BTHG eine Neuformulierung erfahren. Bislang galt folgene Definition:

Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensjahr typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Mit dem BTHG wurde der Begriff der Behinderung dem Verständnis der UN-BRK entsprechend angepasst. Im Fokus steht nun nicht mehr ausschließlich die funktionelle Beeinträchtigung des Menschen und die dadurch verursachten Einschränkungen, sondern es werden die oben genannten Wechselwirkungen mit der Umwelt einbezogen. Menschen mit Behinderungen sind gemäß §2 Abs. 1 SGB IX (neu) demnach

Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.