Palast aus Gold und Tränen

Text
Aus der Reihe: Die Hexenwald-Chroniken #2
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Palast aus Gold und Tränen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Palast aus Gold und Tränen
Die Hexenwald-Chroniken
Christian Handel

Copyright © 2020 by


Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: info@drachenmond.de

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-518-2

Alle Rechte vorbehalten

Für Jessi & für Stephan

Inhalt

1. Grimoire

2. Zu Hause

3. Das Frühstück mit der Ziege

4. Die Mühlenhexe

5. Pflanzenmagie

6. Das Ritual

7. Die Hüterin der Toten

8. Der Bär auf dem Dachboden

9. Markttag

10. Das Feentor

11. Schwanensee

12. Die Gemahlin des Steinernen Königs

13. Die Gänsehirtin

14. Dämonen

15. Die Eisfrau

16. Die Reise durchs Zarenland

17. Der Bergpalast des Zaren

18. Die Audienz bei der Zarenfamilie

19. Die königlichen Gärten

20. Der Feuervogel

21. Die Erste Hexe des Reiches

22. Wie ein schlagendes Herz

23. Der Weg zur Baba Yaga

24. Handel mit einer Hexe

25. Das Märchen von den zwei Schwestern

26. Die verschwundene Prinzessin

27. Der Geheime Hof

28. Der Zorn des Schneeadlers

29. In der Palastküche

30. Geständnisse

31. Geisterbraut

32. Die Gemächer der Tränenzarin

33. Die Sternengrotte

34. Das Lager der Steppenreiter

35. Vorbereitungen

36. Das Reittier in die Geisterwelt

37. Geisterbeschwörung

38. Brennende Totenschädel

39. Das Angebot der Baba Yaga

40. Traum oder Wirklichkeit?

41. Das Geständnis

42. Die Knochen der Geisterfrau

43. Die Erpressung

44. Gold und Tränen

45. Weißdorn und Vogelfedern

46. Das Ultimatum

47. Der Rat einer Königin

48. Keine Zeit für Trauer

49. Auf in den Kampf

50. Alles hat seinen Preis

51. Königin aus Eis und Schnee

Nachwort

Grimoire

Das Zauberbuch lag in der Mitte des Raums, direkt auf dem Boden der kleinen Dachkammer. Ein Dutzend Kerzen spendete flackerndes Licht. Wachs rann an ihnen herunter und tropfte auf die Dielen. Im ganzen Zimmer duftete es nach Honig. Ich schloss den Kreis, den ich in großzügigem Abstand um das Buch gezogen hatte, und kniete mich neben Rose. Sie schenkte mir ein nervöses Lächeln und ich drückte kurz meine Lippen auf ihren Mund. »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich und wünschte, ich würde mich so selbstsicher fühlen, wie ich mich gab.

»Mach ich nicht.«

Rose log, das wusste ich. Vor uns lag das Zauberbuch einer Hexe, die unzählige Kinder abgeschlachtet hatte. Es war so lang wie mein Unterarm und so dick wie ein Ziegelstein. Seine Seiten bestanden aus vergilbtem Pergament und das Leder, in das es gebunden war, schien schwarz wie die Nacht. In den letzten Monaten hatte ich mich oft gefragt, welche finsteren Geheimnisse es beherbergte. Bisher hatte ich dem Drang, es aufzuschlagen, widerstehen können. Vermutlich half es, dass Rose das Buch in ihrem Rucksack verwahrte, und nicht ich.

Seit mehreren Monden suchten wir nach der Eigentümerin des Grimoires – erfolglos. Jede noch so kleine Spur war im Sand verlaufen und allmählich gingen uns die Ideen aus. Das Zauberbuch musste uns einfach einen Hinweis darauf liefern, wohin die Hexe geflohen war.

Nervös blickte ich zur Tür.

Rose legte mir die Hand auf die Schulter. »Keine Bange. Nach dem Abendessen stört uns hier niemand mehr.«

Bei dem Gedanken, dass uns ihre Mutter oder ihre Schwester unvorbereitet erwischten, wurde mir gleichzeitig heiß und kalt. Rose und ich waren bereits seit mehreren Jahren ein Paar und ihre Familie hatte das längst akzeptiert. Es gab dennoch Dinge, von denen es mir lieber war, dass sie sie nicht zu Gesicht bekamen. Dazu zählte auch die Zauberei. Noch hatte ich nicht den Mut aufgebracht, ihnen zu gestehen, dass ich magische Kräfte besaß. Es war schwer genug gewesen, Rose die Wahrheit zu sagen, und sie liebte mich bedingungslos.

Deshalb hatte ich auch den Salzkreis gezogen. Ich wollte nicht, dass irgendwelche Geräusche, die bei dem entstanden, was wir vorhatten, nach außen drangen.

»Ich bin so weit.« Entschlossen schlug ich das Buch auf.

Seltsame Schriftzeichen, Symbole und Illustrationen zogen sich über das Papier. Sie waren mit roter und blauer Tinte gemalt, in einer schön geschwungenen, regelmäßigen Handschrift. Die wenigsten davon konnte ich lesen.

Neben einem Text, der dem Versmaß zufolge ein Gedicht oder Spruch war, ringelte sich die Silhouette einer Schlange. Auf der nächsten Seite war erstaunlich detailverliebt eine Waldpflanze gemalt, ihre einzelnen Bestandteile mit winzigen, akkuraten Buchstaben beschriftet.

Das half mir nicht. Ich blätterte um. Weitere Schriftzeichen, weitere Symbole. Auch sie konnte ich nicht lesen. Also blätterte ich noch einmal um. Und noch mal.

»Verstehst du, was dort steht?«, fragte Rose.

Ich schüttelte den Kopf. Mit den Fingern fuhr ich die Linie einer Eulenzeichnung nach.

»Schlag es weiter hinten auf. Vielleicht steht da ja etwas, was wir lesen können.«

Ich schlug das Buch in der Mitte auf und blätterte einige Seiten vorwärts. Die Handschrift blieb die gleiche, auch wenn die Linienführung aggressiver geworden war und die Zeichnungen immer düsterer. Statt Pflanzen und Vögel bedeckten nun seltsame Hybridwesen die Seiten. Eine Kreatur besaß den Rumpf und die Schwanzspitze eines Raben, aber einen reptilienartigen Hals und Kopf. Es gab Totenköpfe, aus deren Augen Flammen loderten. Und ein menschliches Herz, durch dessen Muskelfleisch sich Würmer fraßen.

Als ich die nächste Seite umblätterte und eine Pastete erkannte, musste ich würgen. Auch Rose hinter mir stöhnte auf. Wir hatten das Grimoire in der Hütte einer Waldhexe gefunden, die ihre Zauberkraft dadurch genährt hatte, dass sie sich von Kindern ernährte. Die Geister ihrer Opfer hatten mich durch Visionen daran teilhaben lassen, was mit ihnen geschehen war. Die Zeichnung der Pastete weckte in mir die Erinnerung an Margarete und ihren Bruder Hans, die von der Hexe gezwungen wurden, mit menschlichen Innereien gefülltes Backwerk zu verspeisen.

 

»Du musst das nicht tun.« Rose streichelte meinen Oberarm. »Wir können aufhören. Vermutlich ist das Grimoire auch nichts anderes als eine weitere Sackgasse.«

Margarete und Hans waren die letzten Opfer der Hexe gewesen. Ich hatte geschworen, sie zu rächen. Dazu musste ich ihre Mörderin jedoch erst einmal finden.

Deshalb beugte ich mich nach vorn. »Eins haben wir noch nicht probiert.«

»Du willst eine Vision heraufbeschwören.«

Ich nickte.

»Ich weiß nicht …« Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.

»Du hast mich auch in der Hütte beschützt.«

»Damals hatten wir keine andere Wahl.«

Das stimmte. Warum die Visionen damals zu mir gekommen waren, wusste ich bis heute nicht. Sie hatten mich dann überkommen, wenn ich einen bestimmten Gegenstand berührte. Damals hatte ich geglaubt, dass die Visionen mich gesucht hatten; dass die Geisterkinder sie vielleicht geschickt hatten. In meinem ganzen Leben war ich nie zuvor von Visionen übermannt worden. Aber Hellsicht war eine Fähigkeit, die man den Selkies nachsagte, und ich fragte mich, ob ich sie, wie so vieles andere, von meiner Mutter geerbt haben könnte. Ich erinnerte mich an einen Spruch, den sie geflüstert hatte, wenn sie vor einer mit Meerwasser gefüllten Schüssel stand oder im Dunkeln vor einem Fenster, gegen das von außen der Regen peitschte. Manchmal hatte sich dann statt ihres Abbildes etwas anderes in der Scheibe gespiegelt: schaumgekrönte Wellenkämme, eine geheimnisvolle Unterwasserwelt, in der sich farbenprächtige Fischschwärme tummelten, das kleine Boot meines Vaters im Sturm. Solange meine Mutter bei uns lebte, war er immer sicher nach Hause gekommen. War es ihr Zauber gewesen, der uns beschützt hatte?

»Ein Versuch«, drängte ich. »Du hast es mir versprochen.«

Rose grummelte. Trotzdem rappelte sie sich auf und ging hinüber zu der eisenbeschlagenen Truhe, die am Fußende des Bettes stand. Sie hielt es für keine gute Idee, mit meinen magischen Fähigkeiten zu experimentieren. Missmutig öffnete sie den Deckel, kramte darin herum und kam mit einer bronzenen Schüssel und einer kleinen Glasphiole zurück.

»Wehe, du bist nicht vorsichtig.«

Achtsam stieg sie über die Salzlinie und drückte mir die Gegenstände in die Hand. Ich lächelte und wartete, bis sie sich wieder neben mich gesetzt hatte. Dann stellte ich die handtellergroße Schale vor mir auf den Boden und schüttete getrocknete Mondraute aus der Phiole hinein. Ich überlegte, ob ich die Pflanzenblätter mit einem Zauber zum Brennen bringen sollte, entschied mich aber dagegen. Rose mochte akzeptiert haben, dass Magie in meinem Blut floss. Deshalb musste sie das noch lange nicht mögen. Ich wollte den Bogen nicht überspannen. Also griff ich nach einer der Kerzen und entzündete mit deren Flamme vorsichtig das Kräutergemisch. Wachs tropfte mir dabei auf die Hand. Ich zischte, mehr erschrocken als vor Schmerz, und reichte Rose die Kerze. Dann beugte ich mich über die Schale. Rauch stieg auf, tanzte als dünne Säule der Decke entgegen. Sein säuerliches Aroma kitzelte mir in der Nase. Ich war froh, den Salzkreis gezogen zu haben, denn so würden weder Geräusche noch der Geruch der verbrennenden Kräuter nach außen dringen.

Ich zwang mich dazu, langsam und tief einzuatmen, und ließ den Rauch seine Wirkung entfalten. Mein Herz begann schneller zu schlagen, Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Nach einem halben Dutzend Atemzügen schob ich die Schale beiseite und legte die Handflächen auf das Pergament. Rau wie poröser Stein fühlte es sich unter meinen Fingern an, schuppig und warm wie die Haut einer Schlange.

Was hatte meine Mutter damals immer geflüstert?

Seit sie mich und meinen Vater vor vielen Jahren verlassen hatte, um zu ihrem Volk zurückzukehren, hatte ich mich nach Kräften bemüht, alles zu vergessen, was mit ihr zu tun hatte. Es war nicht leicht, sich jetzt wieder an Einzelheiten zu erinnern.

Der Geruch der verbrennenden Kräuter veränderte sich. Er wurde weniger würzig, dafür frischer, salziger.

»Tha mi airson fhai cinn«, flüsterte ich. Die Worte waren plötzlich da. Lass mich sehen.

Zunächst geschah nichts. Ich heftete meinen Blick fest auf die Seiten vor mir und zwang mich, geduldig zu bleiben. Zauber brauchten ihre Zeit. Dann spürte ich ein Kribbeln in meinem Bauch und unter meinen Handflächen und wusste: etwas geschah.

Der Salzgeruch wurde schwächer und die Symbole auf dem Pergament begannen plötzlich an Kontur zu verlieren. Mein Blick trübte sich, als hätte ich Tränen in den Augen, und Rose und die Dachkammer traten in den Hintergrund. Die Tintenschlange, deren Schwanzspitze zwischen meinen Fingern hervorlugte, zuckte auf dem Pergament. Plötzlich gaben die Seiten nach. Meine Hände versanken im Grimoire wie in Flussschlamm. Der Rauch aus der Schale …

verwandelt sich in Schnee.

Eiskristalle tanzen um mich herum und ein scharfer Wind bläst mir ins Gesicht. Sonst ist da nichts. Ich kneife die Augen zusammen, um mich vor den Flocken zu schützen, die die Böen mir entgegenwehen. Ihr Kuss brennt auf meiner Haut. Alles um mich herum ist weiß. Obwohl ich keine Ahnung habe, wo ich bin, weiß ich instinktiv, dass ich mich inmitten einer riesigen Ebene befinde, schutzlos den Launen der Natur ausgeliefert. Ich blicke mich nach Rose um, vergeblich. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich will

»Muireann! Lass sofort das Buch los!«

Rose’ Stimme holte mich zurück in die Gegenwart. Die Schneelandschaft um mich herum verschwand. Ich befand mich wieder in der Dachkammer. Rose hatte meine Hände gepackt und vom Buch gezerrt.

Ich blinzelte, brauchte einen Moment, bis ich wieder richtig bei mir war.

»Es war seltsam«, sagte ich träge. »Ich habe etwas gesehen. Anders, aber auch ähnlich der Visionen im Hexenhaus …«

»Muireann«, unterbrach mich Rose scharf und die Furcht in ihrer Stimme ließ mich zusammenzucken. »Deine Hände!«

Verwirrt blickte ich nach unten. Eine dunkelblaue Tintenspur schlängelte sich um die Finger meiner rechten Hand. Ich erstarrte. Es handelte sich um die Kreuzotter aus dem Buch. Während ich ungläubig auf sie hinunterstarrte, sah ich, dass sie ihren Kopf zwischen meinem Ringfinger und Mittelfinger hindurchsteckte und sich langsam über meinen Handrücken schob. Reflexartig schüttelte ich die Hand, doch das störte die Schlange nicht. Sie kringelte sich um mein Gelenk und wanderte weiter nach oben. Sie war nicht das einzige Symbol, das seinen Weg vom Buch auf meine Haut gefunden hatte.

Die beiden aufgeschlagenen Pergamentseiten vor mir waren leer. Stattdessen wuselten auf meinen Händen und Unterarmen Buch­staben, Linien und unverständliche Symbole wie lebendige Tätowierungen. Tatsächlich spürte ich sie gar nicht, aber sie machten mir Angst.

»Was ist das?!« Rose klang panisch.

Ich streckte die Hände weit von mir. Ich hatte keine Ahnung. »Verschwinde aus dem Salzkreis!«

Rose schüttelte den Kopf.

Im Kerzenflackern schienen die flachen Tätowierungen Schatten zu werfen.

»Du musst«, presste ich so ruhig wie möglich hervor. »Ich sollte die Linie nicht übertreten. Bring mir Salbei. Und Rosenwasser. Aus der Truhe. Schnell.«

Ohne ein weiteres Wort stand Rose auf und sprang zur Truhe hinüber. Beinahe hätte sie dabei den Salzkreis mit dem Fuß verwischt. Das hätte gerade noch gefehlt.

Während Rose hinter mir herumkramte, heftete ich meinen Blick wieder auf die Symbole aus dem Hexenbuch, die an meinen Armen höher und höher kletterten. Inzwischen hatten sie fast meine Ellenbogen erreicht. Ich versuchte, tief durchzuatmen und so die Angst zu unterdrücken, die in mir aufstieg. Verzweifelt zermarterte ich mir das Hirn. Was auch immer wir jetzt taten, wir mussten schnell handeln.

»Bring mir die roten Bänder von deiner Schwester mit.«

Leni hatte mir zum Winterfest zwei dunkelrote Haarbänder geschenkt, die sie selbst mit einem aufwendigen Muster aus goldenem Faden bestickt hatte. Die Bänder hatten beinahe die Farbe von Rose’ Haaren. Sie waren wunderschön.

Mein Herz verkrampfte sich, als ich daran dachte, was als Nächstes zu tun war.

»Schneide sie in vier Teile. Bitte beeil dich!«

Den Zeigefinger meiner rechten Hand drückte ich vorsichtig auf eine dunkelblaue Rune, die auf der Innenseite meines linken Unterarms zitterte. Nichts. Ich spürte gar nichts. Und das Symbol ließ sich von meiner Berührung nicht beeindrucken.

Da war Rose wieder heran und ließ Stoffbeutelchen und ein mit Wachs zugepfropftes Tongefäß zu Boden gleiten. Sie zog ihren Dolch und einen Augenblick später flatterten vier rote Bänder auf den Dielen­boden.

»Was hast du vor?«

»Du musst mir helfen.«

»Was soll ich tun?«

»Ich werde gleich ein paar Blätter Salbei kauen und einen Spruch aufsagen«, erklärte ich ihr, während ich hastig die Beutel durchsuchte. »Sobald ich damit fertig bin, musst du die Bänder nehmen und mir jeweils eins um jeden Oberarm binden, oberhalb des Bereichs, auf dem sich die Zeichen befinden. Wir müssen ihnen den Weg abschneiden.«

Ich öffnete das Tongefäß mit dem Rosenwasser und tauchte die Bänder hinein.

»Die anderen beiden Bänder binden wir danach um meine Handgelenke. Wir sperren die Tintenzeichen ein, verstehst du?«

»Nein.« Rose schluckte und griff nach den Bändern. »Aber das ist egal. Du kannst es mir später erklären.«

»Danke«, sagte ich und steckte mir ein paar getrocknete Salbeiblätter und etwas Minze in den Mund. So schnell wie möglich kaute ich darauf herum. Das intensive Aroma der Pflanzen breitete sich auf meiner Zunge aus.

»Du musst die Knoten sorgfältig knüpfen. Die Bänder dürfen nicht verrutschen.«

Mit der Rechten schob ich meinen Hemdsärmel nach oben und streckte ihr meinen Arm entgegen. Eine winzige Tintenkröte schwamm gerade auf meine Armbeuge zu.

»Stad! Chan eil an córr.«

Rose zögerte nicht. Sie wand das rote Band um meinen Oberarm, knüpfte einen Knoten und zog ihn zu. Dann griff sie nach dem nächsten Band und kümmerte sich um meinen anderen Arm. Ich unterdrückte ein nervöses Lächeln.

»Du brauchst keine Angst davor zu haben, mich zu berühren«, versprach ich ihr. »Ich glaube, der Zauber soll mich mehr aufwühlen als mir schaden. Dir sollte er nichts anhaben.«

»Seit wann bist du eine Sachkundige für Hexenflüche?« Rose’ Stimme klang scharf, doch ich war mir sicher, dass das nur an ihrer Sorge um mich lag.

»Jetzt die Handgelenke«, sagte ich, nachdem sie auch den zweiten Knoten festgezurrt hatte. »Bitte nicht so fest. Den Bändern kommt eher eine symbolische Bedeutung zu. Du brauchst mir nicht das Blut abzuschnüren.«

Rose hob eine Augenbraue. »Zu fest?« Sie blickte auf meinen Oberarm, wo sich die Tintenfiguren am Rand des roten Bandes stauten wie an einem Damm. Sie schoben sich aufeinander und überlagerten sich, bis eine Handfläche breit keine helle Haut mehr zu sehen war.

Ich schüttelte den Kopf.

»Warum auch noch die Handgelenke? Vielleicht musst du nur abwarten und die Zeichen wandern wieder in die andere Richtung und verschwinden von selbst.«

»Vielleicht. Irgendwie glaube ich das nicht. Wenn wir noch rote Bänder an den Unterarmen verknoten, stehen die Chancen gut, dass wir diese … Symbole einkesseln und sie sich nicht zum falschen Zeitpunkt über meine Finger und Handflächen schlängeln. Oder was denkst du, was deine Mutter sagen wird, wenn ich ihr beim Kochen eine Kartoffel reiche und sie plötzlich eine Schabe aus Tinte von meiner Handfläche aus anstarrt?«

Rose seufzte und griff nach dem letzten Bandstück. »Hast du schon eine Idee, wie wir die Dinger endgültig loswerden?«

»Keine, außer der offensichtlichen.«

»Irina«, grummelte Rose.

»Sie wird wissen, was zu tun ist.«

»Wir jagen Hexen. Wir sollten sie nicht um Hilfe bitten.«

Ich hätte anführen können, dass Irina keine Hexe war, sondern eine Zauberin, und dass sie uns schon mehr als einmal geholfen hatte. Aber viel genutzt hätte das nicht. Rose mochte es nicht, jemandem etwas schuldig zu sein – schon gar nicht einer Magiewirkerin.

»Ich weiß, mein Vorschlag gefällt dir nicht. Lass uns bitte heute nicht darüber streiten. Vielleicht fällt uns bis morgen ja noch etwas anderes ein. Jetzt lass uns erst mal hier aufräumen.«

Mit einem tiefen Seufzen stand Rose auf, fuhr mir im Vorbeigehen mit der Hand über die schwarzen Haare und ging hinüber zur Tür, um Besen und Kehrschaufel zu holen. Ich begann derweil damit, die Kräutersäckchen wieder in die Truhe zu räumen. Für heute hatte ich genug Chaos verursacht.

 

Zu Hause

Später lagen wir Seite an Seite in dem breiten Holzbett und beobachteten die blauen Linien, die an meinen Unterarmen wie Insekten herumkrabbelten. Ich hatte gehofft, mit der Zeit würden sie erstarren. Doch die Einzigen, die von Augenblick zu Augenblick träger wurden, waren Rose und ich. Seufzend zog ich schließlich die weißen Ärmel meines Nachtgewandes bis zu den Handgelenken hinunter, damit ich den Anblick der wandernden Symbole nicht länger ertragen musste.

Ich schwitzte, und ich war mir nicht sicher, ob das an den Symbolen lag, die vom Hexenbuch zu mir übergesprungen waren, oder nur an den Sorgen, die ich mir deshalb machte. Trotzdem kuschelte ich mich eng an Rose. Ihre Nähe beruhigte mich.

Es hätte wunderbar sein sollen, nach unzähligen Übernachtungen im Wald, auf der Straße oder auf Strohsäcken in irgendwelchen Herbergen endlich wieder ein paar Nächte in einem richtigen Zuhause zu verbringen. Dass ich das jetzt wegen des schiefgegangenen Rituals nicht genießen konnte, ärgerte mich. Ich liebte das alte, knarzende Holzbett, in dem Rose und ich schliefen, wenn wir ihre Familie besuchten. Früher hatten sie und ihre Schwester sich die kleine Dachkammer geteilt. Inzwischen war Leni ausgezogen, und auch wenn Rose viel unterwegs war, so gehörte das Zimmer doch inzwischen ganz ihr. Obwohl nicht allen in ihrer Familie die körperliche Seite unserer Beziehung ganz geheuer war, so hatten sie mich doch mit offenen Armen aufgenommen und ich fühlte mich nicht länger wie eine Fremde. Ich besaß nur wenige Habseligkeiten, an denen mir wirklich etwas lag. Jene, die ich bei der Dämonenjagd nicht bei mir trug, bewahrte ich inzwischen in der reich mit Schnitzereien verzierten Truhe am Fuß unseres Bettes auf.

Wir kamen zwischen unseren Aufträgen sehr unregelmäßig hierher, aber wann immer wir ankamen – ob angekündigt oder nicht –, hatte Rose’ Mutter Helene die Betten gelüftet und kleine Beutelchen mit Lavendel unter die Kopfkissen gelegt. Wenn ich mich in die weichen Federn sinken ließ und den beruhigenden Duft einatmete, fühlte ich mich geliebt und geborgen.

Jedenfalls für gewöhnlich.

Jetzt konnte ich nur an meinen missglückten Zauber denken.

»Es tut mir leid, dass ich darauf bestanden habe, es mit dem Grimoire zu versuchen.«

Rose griff unter der Bettdecke meine Hand und drückte sie fest. »Das muss es nicht. Ich verstehe, warum du es wolltest.«

»Trotzdem macht es dir weniger Angst, ins Zarenreich zu gehen.«

Das war nämlich Rose’ Vorschlag, die Kindsmörderin zur Strecke zu bringen. Die Hexe befand sich im Körper des Mädchens, dem ich versprochen hatte, es zu rächen. Die Hexe hatte Margarete den Körper gestohlen, ehe sie sie getötet hatte. Gemeinsam mit Rose suchte ich seit dem Frühling nach ihr. Gerüchten zufolge hatte sie inzwischen einen Prinzen verführt. Wir wussten nicht, ob das stimmte. Da es uns sonst an Anhaltspunkten fehlte, hatten wir entgegen unserer sonstigen Gepflogenheiten die Dörfer und Wälder hinter uns gelassen und zogen durch die Städte. Doch die Kindsmörderin verwischte ihre Spuren gut. Jetzt hatten wir erfahren, dass im Zarenreich bald eine königliche Hochzeit stattfinden sollte, zu der Vertreter aus sämtlichen umliegenden Ländern eingeladen waren. Seit Tagen versuchte Rose, mich davon zu überzeugen, mit ihr die Grenze nach Osten zu überqueren und an den Feierlichkeiten teilzunehmen.

»Zahlreiche Adelige werden dort versammelt sein«, pflegte sie täglich mindestens einmal zu sagen. »Wenn sie sich wirklich einen Prinzen unter den Nagel gerissen hat, werden wir sie mit hoher Wahrscheinlichkeit dort antreffen. Oder zumindest erfahren, wo sie sich aufhält.«

Anders als Rose beunruhigte mich die Vorstellung, mich mit ihr auf einer königlichen Hochzeit einzuschleichen, zu der wir nicht eingeladen waren. In einem Reich, in dem wir auf dem Scheiterhaufen brennen würden, wenn jemand herausfand, dass wir uns liebten. Hierzulande mochten gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht gern gesehen sein, doch sie wurden immerhin nicht mit dem Tode bestraft.

»Wir werden vorsichtig sein«, wischte Rose auch jetzt meine Gedanken beiseite.

Zärtlich drückte ich ihr einen Kuss in die Halsbeuge. »Das könnten wir dort nicht machen.«

»Es wäre nur für eine Weile. Und du weißt, was du mir bedeutest, auch ohne dass ich dir das ständig zeigen muss.«

»Soll das heißen, das hier würde dir gar nicht fehlen?«, fragte ich unschuldig und begann, an ihrem Ohrläppchen zu knabbern.

Rose drehte ihren Kopf und blickte mich mit funkelnden Augen an.

»Du Biest!«

Langsam beugte sie sich mit ihrem Gesicht näher und näher, öffnete die Lippen – und verzog sie zu einem spöttischen Lächeln. »Du weißt genau, wie sehr ich dich liebe.« Sie wich zurück. »Aber ich kann mich beherrschen.«

Ich musste lachen und spürte, wie sich der Druck auf meiner Brust langsam verflüchtigte. Gemeinsam würde uns schon etwas einfallen, wie ich diese verfluchten Symbole wieder loswurde. Irina würde wissen, was zu tun war.

»Vielleicht sollten wir das Grimoire bei Irina lassen.«

»Vielleicht …« Rose klang nicht überzeugt. »Hältst du es wirklich für eine gute Idee, das Buch bei einer wie ihr zu lassen?«

»Irina wirkt weiße Magie.«

»Letztes Jahr um diese Zeit hätte ich gesagt, so etwas wie weiße und schwarze Magie gibt es nicht. Sondern nur Magie. Dass es keinen Unterschied macht, ob sich jemand als Hexe, Zauberin, Fluchbringer oder Magier bezeichnet.«

»Bevor du erfahren hast, dass meine Mutter eine Selkie war.« Meine Stimme klang traurig.

Rose lehnte ihren Kopf an meinen.

»Ich liebe dich deshalb nicht weniger, das musst du mir glauben.« Sie seufzte tief. »Damals war die Welt … einfacher.«

»Sie war nicht einfacher, Rose. Es kam dir nur so vor.«

»Ich weiß«, sagte sie, und dann schwiegen wir eine Weile.

»Es ist nur …« Sie schlug die Decke zurück und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen aufs Bett, mir gegenüber, damit sie mir direkt in die Augen sehen konnte. »Seit wir im Haus der Hexe waren. Seit deinen Visionen. Du … es gefällt dir, mit der Magie zu experimentieren, habe ich recht?«

Rose’ rote Locken reflektierten das Licht der Kerze auf dem Nachttisch. Ihr Gesicht schien selbst wie in Flammen getaucht und die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen hoben sich deutlich von der sonnengebräunten Haut ab.

Unschlüssig zupfte ich mit den Fingern an einem der Bänder um mein Handgelenk, ließ das aber gleich wieder bleiben, als es sich zu lösen drohte.

»Als ich Orkney verlassen habe, dachte ich, ich könnte alles hinter mir zurücklassen. All die traurigen Erinnerungen. An meine Mutter, die gegangen ist. An meinen Vater, der ihr auf seine Art folgte. An Tante Raelyn, für die ich einfach nicht die Tochter sein konnte, die sie sich wünschte.« Ich griff nach ihrer Hand. »Eine Zeit lang ist mir das gelungen. Ich habe ein neues Leben begonnen. Mit dir habe ich endlich die Familie gefunden, von der ich immer geträumt habe.«

Rose lächelte und ich drückte ihre Hand fester.

»An jenem Morgen auf dem Grundstück der Hexe, als ich meinen ersten Zauber seit Jahren gewebt habe … Ich habe es nicht sofort bemerkt, aber inzwischen weiß ich, dass ich nicht nur die schlechten Erinnerungen in Orkney zurückgelassen habe, sondern auch die guten.

Ich weiß, ich habe oft davon erzählt, wie wütend ich auf meine Mutter bin. Weil ihr das Meer wichtiger war als ihr kleines Mädchen. Doch damals am Strand, Rose … Wenn sie sicher war, dass uns niemand beobachten konnte, brachte sie Muschelschalen dazu, vor uns im Kreis zu tanzen, und färbte durch einen Handstreich und einen gemurmelten Zauber die Federn einer Möwe von weiß zu rosa. Um mich zum Lachen zu bringen. Es lag nichts Arglistiges in ihrer Magie.«

»Und du meinst, der Möwe hat es gefallen, rosafarbene Federn zu besitzen?«

»Es war doch nur für ein paar Augenblicke«, sagte ich und zog mich von ihr zurück. »Vielleicht habe ich es auch schlecht erklärt.«

»Tut mir leid, wenn ich den Finger in die Wunde lege, Mui­reann. Aber es ist längst an der Zeit, dass wir darüber sprechen. Früher sind wir nur mit Messern und Bögen auf Jagd gegangen. Den letzten Mühlenkobold hast du mit einem deiner Sprüche aus seinem Versteck getrieben.«

»Und es hat uns eine Menge Zeit gespart.«

Rose nickte. »Das hat es. Aber es fühlt sich falsch an, die Dinge so zu erledigen, wenn wir eigentlich diejenigen sind, die Monster, Hexen und Dämonen jagen. Wenn wir uns ihre Methoden zu eigen machen …«

»Gegen einen Schutzkreis hast du allerdings ganz und gar nichts«, unterbrach ich sie beleidigt.

Sie ließ den Kopf hängen. »Da hast du wohl recht. Vielleicht sollten wir auf ihn künftig ebenfalls verzichten.« Sie fuhr sich unschlüssig durchs Haar. »Er erschien mir so harmlos.«

»Er ist nicht nur eine Linie aus Salz, wenn es das ist, was du glaubst.« Meine Stimme klang angriffslustiger, als ich es beabsichtigt hatte. »Ohne den richtigen Spruch und den entsprechenden Einsatz von Magie wäre er vollkommen nutzlos.«

»Vielleicht hast du recht. Vielleicht gibt es wirklich Zauberei, die nicht schadet. Aber ich mag es nicht, wenn du einfach so mit der Magie herumexperimentierst.«

»Ich weiß genau, was ich tue.«

»Tust du das?« Mit hochgezogenen Augenbrauen richtete sie ihren Blick auf meine Unterarme.

»Das ist gemein«, sagte ich und zupfte verlegen an den Ärmel­säumen meines Schlafgewands. »Du warst damit einverstanden, dass wir es versuchen.«

»Das war ich. Und es war ein Fehler.«

In diesem Moment war ich so wütend und enttäuscht von ihr, dass ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Dabei hätte mich ihre Reaktion eigentlich nicht überraschen dürfen.

Einen Moment später lenkte sie ein. »Vielleicht war es auch kein Fehler, Muir. Ich will mich nicht mit dir streiten. Ich gebe zu, dass uns deine kleinen Zaubertricks in den letzten Wochen oft geholfen haben. Das ändert nichts daran, dass sie mir Angst machen.«

»Angst? Vor mir?«

»Nicht vor dir! Um dich.«

Sie griff wieder nach vorn und zog meine Hände in ihren Schoß. »Denk daran, was Irina gesagt hat, als wir sie das erste Mal um Hilfe gebeten haben: Magie hat immer ihren Preis.«

»Meine Mutter hat jahrelang …«

»Du bist aber keine Selkie.«

Ich wollte meine Hände zurückziehen, Rose ließ jedoch nicht los. Stattdessen sah sie mir tief in die Augen. »Ihr Blut mag in deinen Adern fließen. Trotzdem bist du keine von ihnen. Du bist ein Mensch. Und jeden Zauber, den du sprichst, bezahlst du mit einem Stück deiner selbst.«

Dem konnte ich nichts entgegensetzen. Nicht viele Menschen konnten Magie wirken. Die, die es taten, wurden vor ihrer Zeit alt und welk, bekamen schmerzende Buckel, triefende Nasen und wässrige Augen. Die Magie war das Feuer, das sie nach und nach auffraß. Es war die eigene Lebensenergie, mit der ein Magiewirker für jeden Spruch bezahlte. Oder die Lebensenergie eines anderen. Das taten die verabscheuungswürdigen Kreaturen, die wir jagten. Sie bezahlten ihre faulen Zauber mit fremder Währung. Sie stahlen die Energie anderer. Sie bluteten Kinder aus, um durch fremdes Leben selbst jung und schön zu bleiben. Wie es die Hexe getan hatte, deren Grimoire bei uns in der Dachkammer lag. Wie ich es aber nie, nie, niemals tun würde. Was bedeutete: Wenn ich Magie einsetzte, alterte ich ein winziges Stückchen schneller, als es die Natur vorsah.