ADHS

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


UTB 3289

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien

Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills

facultas.wuv · Wien

Wilhelm Fink · München

A. Francke Verlag · Tübingen und Basel

Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien

Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn

Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart

Mohr Siebeck · Tübingen

Orell Füssli Verlag · Zürich

Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel

Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich

Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen

vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich


Prof. Dr. Caterina Gawrilow lehrt und forscht am Zentrum für Individuelle Entwicklung und Lernförderung (IDeA) in Frankfurt am Main.

Lektorat / Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlags: Ulrike Auras, München

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

eISBN 978-3-8463-3289-4

© 2009 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand

Umschlagumsetzung: Atelier Reichert, Stuttgart

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Diese EPUB-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn einer neuen Seite dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenzahl an der Stelle angegeben ist, an der in der gedruckten Ausgabe der Text dieser Seite beginnt. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, kann diese Seitenzahl mitten in einem Wort stehen. Dies sieht etwas ungewohnt aus, sichert aber die Zitierfähigkeit dieses E-Books.

Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Einführung Hauptteil

1 - Was ist ADHS? 2 - Was sind Ursachen der ADHS? 3 - Was hat Selbstregulation mit ADHS zu tun? 4 - Wie entwickelt sich ADHS über die Lebensspanne hinweg? 5 - Wie kann ADHS festgestellt werden? 6 - Wie kann ADHS behandelt werden? 7 - Unterscheidet sich ADHS bei Frauen von ADHS bei Männern? 8 - Welche Auswirkungen hat ADHS auf Ausbildung, Studium und Beruf?

Anhang Sachregister

Einführung

„Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?“, heißt es in der berühmten Geschichte „Der Zappelphilipp“ (Hoffmann 1845 / 46).

Schon immer und in allen Kulturen stellen sich Eltern hyperaktiver Kinder Fragen dieser Art, und bereits seit über hundert Jahren beschreiben europäische Kinderärzte Kinder mit ADHS-ähnlichen Symptomen (Still 1920). In den 1970er bzw. 1980er Jahren hat die ADHS unter dem Namen Hyperkinetisches Syndrom der Kindheit bzw. Aufmerksamkeitsdefizitstörung Eingang in die gängigen Diagnosemanuale → ICD (Internationales Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation ICD-8 1974) und → DSM (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen DSM-III 1980) gefunden. Seit den 1990er Jahren wird die Störung als Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bezeichnet und gilt als eine der häufigsten Störungen des Kindes- und Jugendalters (DSM-IV 1994; ICD-10 1990). Die drei Kernsymptome der ADHS sind:

• Unaufmerksamkeit,

• Hyperaktivität,

• Impulsivität.

Kinder mit ADHS haben demzufolge Probleme sich eine längere Zeit auf nur eine Aufgabe zu konzentrieren, sind leicht durch Reize aus der Umgebung ablenkbar und träumen häufig (Unaufmerksamkeit). Zudem sind sie motorisch überaktiv, zappeln viel, rennen und hüpfen mehr als Kinder ohne ADHS (Hyperaktivität). Kinder mit ADHS können auch häufig nicht abwarten und entscheiden oftmals, ohne über die Konsequenzen nachzudenken (Impulsivität).

Weiterhin zeigen die Betroffenen Schwierigkeiten bei Aufgaben, die → exekutive Funktionen verlangen. Zu exekutiven Funktionen gehören Kontrollmechanismen wie beispielsweise: Planen, Organisation von Arbeitsabläufen, flexibler Aufgabenwechsel oder auch Selbstregulation (d.h. die Fähigkeit, sein eigenes Handeln, Denken und Fühlen zu kontrollieren und zu beeinflussen).

Diese Probleme (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität und Defizite in den exekutiven Funktionen) führen oft zu weitgreifenden Schwierigkeiten im Umgang mit Familienmitgliedern oder Gleichaltrigen 8und im Unterricht. Kinder mit ADHS haben demzufolge häufiger Interaktionsprobleme mit ihren Bezugspersonen. Außerdem haben Kinder mit ADHS des Öfteren Probleme, Freundschaften zu Gleichaltrigen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten.

Trotz all der beschriebenen Probleme haben Kinder mit ADHS auffallende Stärken: Sie sind kontaktfreudig, neugierig, helfen gern, können witzig und einfallsreich sein, sind begeisterungsfähig, belastbar, selten zimperlich und auch nicht nachtragend (Krowatschek 2004).

Das vorliegende Buch soll helfen, die ADHS und ADHS-Betroffene zu verstehen. Es gibt einen Überblick über die ADHS als Störungsbild und die Ursachen der ADHS. Darüber hinaus wird aktuelle Forschung zu Selbstregulationsfähigkeiten von ADHS-Betroffenen rezipiert und die Entwicklung der ADHS über die Lebensspanne dargestellt. Nach einem Einblick in aktuelle Methoden der Diagnostik wird zum Abschluss vertiefend auf Therapiemöglichkeiten, die Effektivität verschiedener Therapieansätze, die Unterschiede der ADHS bei Frauen und Männern und die Auswirkungen der ADHS in Ausbildung / Studium und Beruf eingegangen.

Die Thematik ist für Studierende der Psychologie, Erziehungswissenschaften, des Lehramtes und angrenzender Bereiche äußerst relevant, da alle Tätigen dieser Berufsgruppen mit ADHS-Kindern, -Jugendlichen oder -Erwachsenen konfrontiert werden. Weiterhin ist der professionelle Umgang mit ADHS-Betroffenen zumeist emotional sehr aufreibend. Darum ist es von Bedeutung, dieses Thema bereits im Studium zu bearbeiten.

Hauptteil

1

Was ist ADHS?

ADHS gilt als eine der häufigsten psychiatrischen Störungen des Kindes- und Jugendalters. Im folgenden Kapitel werden die Symptome und Kennzeichen der ADHS verdeutlicht sowie Störungen, unter denen viele ADHS-Patienten zusätzlich leiden und von denen ADHS abzugrenzen ist, beschrieben. Darüber hinaus wird auf die Häufigkeit von ADHS in der Bevölkerung eingegangen.

Symptome und Kennzeichen der ADHS

Die Kernsymptome der ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Unaufmerksamkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kind:

• häufig Einzelheiten nicht beachtet oder Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit (z. B. Hausarbeit, Bastelarbeiten) oder anderen Tätigkeiten macht,

• oft Schwierigkeiten hat, bei Aufgaben oder beim Spiel längere Zeit die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten,

• häufig nicht zuzuhören scheint, wenn andere es ansprechen,

• häufig Anweisungen nicht vollständig durchführt und Schularbeiten oder andere Aufgaben nicht zu Ende bringen kann,

• häufig Schwierigkeiten hat, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren,

• sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben beschäftigt, die länger andauernde geistige Anstrengung erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben),

• häufig Gegenstände verliert, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z.B. Stifte, Turnbeutel, Hausaufgabenheft),

10

• sich oft durch äußere Reize ablenken lässt,

• hinsichtlich Alltagstätigkeiten häufig vergesslich ist.

Von diesen genannten Symptomen der Unaufmerksamkeit müssen mindestens sechs Symptome aufgetreten sein, um Unaufmerksamkeit im Zusammenhang mit einer ADHS zu diagnostizieren (nach → DSM-IV-TR, APA 2008). Hyperaktivität zeigt sich dadurch, dass ein Kind:

 

• häufig mit Händen oder Füssen zappelt oder auf dem Stuhl herumrutscht,

• in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig aufsteht,

• häufig herumläuft oder exzessiv klettert in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen mit ADHS besteht dann oft lediglich ein subjektives Unruhegefühl),

• häufig Schwierigkeiten hat, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen,

• häufig „auf Achse“ ist oder oftmals handelt, als wäre es „getrieben“,

• häufig übermäßig viel redet.

Impulsivität liegt vor, wenn das Kind:

• häufig mit den Antworten herausplatzt, bevor die Frage zu Ende gestellt ist,

• nur schwer abwarten kann, bis es an der Reihe ist,

• unterbricht und andere häufig stört.

Von diesen genannten Symptomen der Hyperaktivität und Impulsivität müssen insgesamt mindestens sechs Symptome aufgetreten sein um Hyperaktivität/Impulsivität im Zusammenhang mit einer ADHS zu diagnostizieren (nach → DSM-IV-TR). Für die Diagnose einer ADHS müssen darüber hinaus folgende weitere Kriterien erfüllt sein:

• Die Kernsymptome müssen seit sechs Monaten und in mindestens zwei Lebensbereichen (z. B. zu Hause, in der Schule, im Umgang mit Gleichaltrigen) bestehen,

• sie müssen vor dem Alter von sieben (nach → DSM-IV-TR) bzw. sechs Jahren (nach → ICD-10-GM) das erste Mal aufgetreten sein,

• sie müssen inadäquat bezüglich der Entwicklungsstufe des Kindes sein und 11


Abb. 1: ADHS-Diagnosen nach DSM-IV-TR (APA 2008)

• signifikante Beeinträchtigungen im sozialen und schulischen Bereich nach sich ziehen.

Das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (→ DSM-IV-TR) beschreibt drei Subtypen der ADHS:

• den ADHS-Mischtypus, der vorliegt wenn die Kriterien der Unaufmerksamkeit und der Hyperaktivität-Impulsivität während der letzten sechs Monate erfüllt sind,

• den ADHS vorwiegend unaufmerksamen Typus, wenn die Kriterien der Unaufmerksamkeit, aber nicht die der Hyperaktivität-Impulsivität während der letzten sechs Monate erfüllt sind,

• den ADHS vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typus, der vorliegt, wenn die Kriterien der Hyperaktivität-Impulsivität, aber nicht die Kriterien der Unaufmerksamkeit während der letzten sechs Monate erfüllt sind.

Für diese Unterteilung in drei ADHS-Subtypen konnten empirische Belege gefunden werden. Das Internationale Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (→ ICD-10-GM, WHO 2009) unterscheidet bezüglich des Hyperkinetischen Syndroms: 12

• die einfache Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung und

• die hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens.

Beide Störungen beinhalten sowohl Aufmerksamkeitsstörungen, als auch Auffälligkeiten bezüglich der Hyperaktivität-Impulsivität. Kinder, die nur an einer Aufmerksamkeitsstörung leiden, können nach dem → ICD-10-GM als unter einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität leidend diagnostiziert werden. Ein Überblick über die unterschiedlichen Herangehensweisen an eine ADHS-Diagnose des → DSM-IV-TR und → ICD-10-GM findet sich in Abbildung 1 bzw. Abbildung 2.

Zu den weiteren, häufigsten Kennzeichen der ADHS gehören akademisches Underachievement, Non-Compliance und Aggressionen sowie Schwierigkeiten im Umgang mit → Peers.

Definition

Als akademisches Underachievement wird Minderleistung (z.B. in den Hauptfächern) trotz durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz bezeichnet. Das heißt, die betroffenen Kinder zeigen Leistungen unter dem Niveau, welches man bei ihrer gegebenen Intelligenz erwarten würde.


Definition

Der Begriff Non-Compliance bezeichnet das Nicht-Befolgen von Anweisungen von Eltern und / oder Lehrern.

Lehrer und Eltern berichten oft, dass Kinder mit ADHS im Vergleich zu ihren Klassenkameraden ohne ADHS schlechtere Schulleistungen zeigen (Frazier et al. 2007). Das rührt daher, dass Kinder mit ADHS sich dem Unterricht weniger konzentriert zuwenden und dies sowohl in Phasen der Instruktion durch den Lehrer als auch in Phasen der Stillarbeit. Kinder mit ADHS beschäftigen sich also weniger mit den schulischen Aufgaben und dem schulischen Material als ihre Mitschüler ohne ADHS. Schließlich zeigen Kinder mit ADHS häufiger chronischen akademischen Misserfolg (z. B. schlechte Noten, Schulabbruch) als Kinder ohne ADHS (Barry et al. 2002).

Der Zusammenhang von ADHS und Aggressionen ist in der Literatur gut belegt. Die Schwierigkeiten, die diesbezüglich am häufigsten mit der ADHS verbunden sind, sind Nichtbefolgen von Regeln (Non-Compliance), welche durch Autoritäten (z. B. Lehrer) aufgestellt wurden, eine 13problematische Stimmungskontrolle (z. B. sichtbar durch häufigen Stimmungswechsel und Launenhaftigkeit), Streitsüchtigkeit und verbale Feindseligkeit. Demzufolge überrascht es nicht, dass eine der häufigsten → komorbiden Störungen der ADHS die → oppositionelle Verhaltensstörung ist. Ernsthaftere antisoziale Verhaltensweisen zeigen ca.25 % der Kinder mit ADHS: Dazu gehören Diebstahl, körperliche Aggressionen und Schulschwänzen. Kinder, die ADHS und Aggressionen zeigen, weisen ein größeres Risiko auf, interpersonelle Konflikte mit den Eltern, Geschwistern, Lehrern und Mitschülern hervorzurufen als Kinder, die nur unter ADHS leiden. Beispielsweise berichten Lehrer über erhöhten eigenen, d.h. selbst wahrgenommenen, Stress im Umgang mit ADHS-Kindern, die gleichzeitig aggressive Verhaltensweisen zeigen.


Abb. 2: ADHS-Diagnosen nach ICD-10-GM (WHO 2009)

Für viele Kinder mit ADHS gestaltet es sich als äußerst schwierig, Freundschaften mit ihren Klassenkameraden zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Kinder mit ADHS und vor allem die Kinder, die zusätzlich 14aggressive Verhaltensweisen zeigen, werden von den Gleichaltrigen oft abgelehnt. Zudem zeigen ADHS-Kinder häufig soziale Funktionsstörungen, d.h., sie verhalten sich im sozialen Kontext (z.B. im Klassenzimmer) nicht altersentsprechend, sondern wie jüngere Kinder. Weiterhin gibt es Befunde, die dafür sprechen, dass Kinder mit ADHS sich häufig an der Peripherie des sozialen Netzwerks aufhalten und aus diesem Grund gemeinsam mit auffälligen Kindern (z.B. Kindern, die → Störungen des Sozialverhaltens zeigen) „herumhängen“, was das Auftreten von Verhaltensstörungen noch verstärkt. Abbildung 3 verdeutlicht die Affinität von ADHS-Kindern mit auffälligen Personen.


Abb. 3: ADHS-Kinder halten sich oft in der Peripherie des sozialen Netzwerkes auf (Ramsland /Konstantinov 2007; © 2007 Boje Verlag GmbH, Köln)

15

Komorbide Störungen

Bis zu ⅔ der Kinder mit ADHS weisen neben den Kernsymptomen für diese Störung noch weitere Störungen auf. Die Häufigkeit → komorbider Störungen bei Kindern mit ADHS verteilt sich wie folgt:

• →oppositionelle Störung des Sozialverhaltens: 50 %

• →Störungen des Sozialverhaltens: 30–50 %

• →affektive Störungen: 10–40%

• Angststörungen: 20–25 %

• Lernstörungen, Teilleistungsschwächen: 10–25%

• →Tic-Störungen, → Tourette Syndrom: bis zu 30 %

Zu diesen komorbiden Störungen gehören die → externalisierenden Verhaltensstörungen mit aggressiven und → dissozialen Symptomen (ca. 43–93 % der Fälle). Aggressivität und Dissozialität zeigt sich beispielsweise im Umgang mit Gleichaltrigen: Kinder mit ADHS ärgern ihre → Peers häufiger als Kinder ohne ADHS. Aber auch → internalisierende Störungen, wie Angststörungen und Depressivität können auftreten (in 13–51 % der Fälle). Alle komorbiden Störungen stellen für die Entwicklung der Betroffenen einen zusätzlichen Risikofaktor dar. Dies bedeutet, dass der Verlauf der ADHS für Patienten mit zusätzlichen komorbiden Erkrankungen zumeist schwerwiegender und beeinträchtigender ist als für Patienten ohne komorbide Erkrankungen (siehe Kapitel 4).

Abgrenzung von anderen Störungsbildern

Mit Hilfe einer → Differenzialdiagnose muss die ADHS von anderen Störungen abgegrenzt werden. Dies bedeutet, dass bei einer Diagnosestellung sorgfältig abgewogen werden sollte, ob tatsächlich eine ADHS oder aber eine andere Störung die auftretenden Probleme verursacht. Zu diesen anderen Störungen bzw. Erkrankungen gehören:

• Körperliche Erkrankungen

• →oppositionelle Verhaltensweisen und → Störungen des Sozialverhaltens versus altersgemäßes Verhalten aktiver Kinder

• →Anpassungsreaktionen auf belastende familiäre Verhältnisse oder schulische Überforderung

• Emotionale Störungen

16

Das heißt, körperliche Erkrankungen, wie z.B. Sehstörungen, Hörstörungen, epileptische Anfälle, Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas oder auch mangelnder Schlaf, können ADHS-ähnliche Symptome produzieren. Auch die Einnahme von Medikamenten (z. B. die Antiepileptika Carbamazepin und Phenobarbital oder das Antiasthmatikum Theophyllin) kann dazu führen, dass Kinder sich wie ADHS-Kinder verhalten, ohne die Diagnosekriterien für das Störungsbild eindeutig zu erfüllen.

Weiterhin muss eine differenzialdiagnostische Abgrenzung von oppositionellen Verhaltensstörungen und altersgemäßen Verhaltensweisen bei aktiven Kindern erfolgen. Kinder mit oppositionellen Verhaltensauffälligkeiten können auf schulische Aufgaben oder Anforderungen der Eltern mit Widerstand reagieren, da sie nicht gewillt sind, sich diesen Forderungen anzupassen. Die Abgrenzung der ADHS von oppositionellen Verhaltensstörungen erweist sich allerdings als schwierig, da viele Kinder mit ADHS → komorbid an solchen Verhaltensstörungen leiden. Jedoch konnte empirisch belegt werden, dass ADHS und oppositionelle Verhaltensstörung zwei voneinander differenzierbare Verhaltensmuster sind (Barkley et al. 2001).

Vor allem bei jüngeren Kindern ist die Grenze zwischen einem normalen Bewegungsdrang und klinisch auffälligem ADHS-Verhalten schwer festzumachen. Diesbezüglich ist man sich einig, dass ADHS-Verhalten ein Kontinuum darstellt, an dessen einem Pol extrem auffälliges und an dessen anderem Pol extrem unauffälliges Verhalten steht.

Merksatz

ADHS ist keine diskrete, eindeutige Störung, die entweder ganz oder gar nicht auftritt, sondern wir beobachten in der Praxis fließende Übergänge von verschiedenem ADHS-Verhalten.

ADHS-typisches Verhalten kann auch eine Anpassungsreaktion auf belastende familiäre Verhältnisse oder schulische Überforderung sein. In diesem Fall trifft aber zumeist das geforderte Diagnosekriterium, dass die Störung bereits vor dem sechsten bzw. siebten Lebensjahr aufgetreten sein muss, nicht zu.

Weiterhin können emotionale Störungen (Angststörungen, agitierte Depressionen) ADHS-typisches Verhalten auslösen und damit den ungerechtfertigten Verdacht auf eine ADHS-Diagnose nahelegen.

17

Häufigkeit der ADHS in der Bevölkerung

Differenzen in der Angabe der → Prävalenz der ADHS in unterschiedlichen Studien oder in unterschiedlichen Ländern sind hauptsächlich durch verschiedene Diagnosekriterien und verschiedene Ansätze der Diagnostik verursacht. Bei Zugrundelegung der Kriterien des → DSM-IV-TR wird eine höhere Zahl von Betroffenen erfasst als bei Zugrundelegung des → ICD-10-GM, da die Gruppe der nur aufmerksamkeitsgestörten Patienten in Letzterem nicht zur ADHS gehört. Zu einer Vereinheitlichung der Diagnostik der ADHS wurden von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie Leitlinien veröffentlicht, die aber in der Praxis nicht in jedem individuellen Fall angewendet werden (siehe Kapitel 5).

Laut einer Zusammenfassung und Bewertung → epidemiologischer Untersuchungen sind weltweit etwa 6–10 % aller Kinder von ADHS betroffen, bei einem deutlich höheren Anteil von Jungen im Vergleich zu Mädchen (Verhältnis 3:1 bis 6:1; Wender 1995). Gründe für die Dominanz des männlichen Geschlechts bei der ADHS werden vielfältig diskutiert (siehe Kapitel 7). Bei dieser Häufigkeit sollte also in einem typischen deutschen Klassenzimmer (mit etwa 20 Schulkindern) mindestens eines der Kinder, und eben vor allem einer der Jungen, ADHS haben.

 

Während Forscher und Kliniker bis vor einigen Jahren davon ausgingen, dass die ADHS im Jugendalter langsam verschwindet und im Erwachsenenalter nicht mehr vorhanden ist, wissen wir heute, dass dem nicht so ist (siehe Kapitel 4). Allerdings ist es wiederum schwierig, die Prävalenz der ADHS im Erwachsenenalter eindeutig anzugeben, denn bisher existieren noch keine exakten epidemiologischen Untersuchungen der Häufigkeit von ADHS im Erwachsenenalter (Trott 2000). Aufgrund vorhandener Längsschnittstudien wird von einer Persistenz (d.h. einem Bestehen bleiben) der ADHS bei etwa ⅓ bis ⅔ der betroffenen Kinder ausgegangen.

Merksatz

Im Vergleich zu anderen psychiatrischen Störungen des Kindes-und Jugendalters ist die ADHS eine sehr häufig auftretende Störung, von der Jungen öfter als Mädchen betroffen sind und die bei vielen Betroffenen lebenslang andauert.

18

Mit Hilfe der folgenden Internet- und Literaturquellen können die allgemeinen Aspekte zur Charakteristik der ADHS vertiefend studiert werden.

Internet

DSM-IV-TR:

http://www.dsmivtr.org/index.cfm ICD-10-GM: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2009/index.htm#V. Stellungnahmen der Bundesärztekammer zur ADHS: http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.47.3161 Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte: http://www.ag-adhs.de Netzwerk zur Verbesserung der Versorgung von ADHS-Betroffenen: http://www.zentrales-adhs-netz.de

Literatur

Döpfner, M., Frölich, J., Lehmkuhl, G. (2000): Hyperkinetische Störungen – Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie.

Krowatschek, D. (2001): Alles über ADHS – Ein Ratgeber für Eltern und Lehrer.

Skrodzki, K., Mertens, K. (Hrsg.) (2000): Hyperaktivität – Aufmerksamkeitsstörung oder Kreativitätszeichen?

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?