Clodia

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Carsten Wolff

Clodia

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zitat:

Statt einer Widmung

Einführung

Einige Zeit später - Beerdigung

Rückblick am Grab

Der (ungelesene) Brief an Clodia

Am Grab

Mann 1 (Patrick, Freund Finn)

Mann 2 (Gerald)

Mann 3 (Gil und Kev)

Mann 4 (Harald)

Impressum neobooks

Zitat:

Abyssus abyssum invocat

Der Abgrund ruft nach dem Abgrund*

(Vers aus Psalm 41)

*das Schlechte zieht das Schlechte nach sich

Wer hat nicht schon einmal mit dem Gedanken gespielt,

den/ie Liebste/n vom Turm zu stoßen,

nur um das größtmögliche Leid zu erfahren?

(nach ETA Hoffmann)

Statt einer Widmung

Dieser Roman ist von einer durchscheinenden Person beeinflusst. Handlung und Protagonisten sind herum erträumt. Doch was bedeutet dieses: Erträumt? Durchstreifen wir nicht schlafwandlerisch während unserer psychischen Tätigkeit abwechselnd Traum-Momente wie auch Wachseins-Momente, deren Wechselwirkung wir kaum wahrnehmen (können)? Die häufig von uns nicht wahrgenommen werden wollen, nur eben immer dann, wenn wir einer bestimmten Situation eine besondere Wichtigkeit beimessen. Dann wollen wir sämtlich die angenehmen Erlebnisse darin fortgesetzt wissen als eine kontinuierliche Lösung, in der die negativen Ereignisse in die tiefen Schichten des Gehirns verdrängt werden und der Traum als Lösung grundlegender Lebensfragen dienen könne. Kann dieses Denken zum Lebenszweck erhoben werden, also zur Deutung behilflich sein, wie jeder zu seiner „Welt“ steht?

Ach, vielleicht ist es auch nur der Pragmatismus darin, der mich in der Wirklichkeit altern lässt, weil ich den Dingen gegenüber gleichgültiger gegenüberstehe.

Wer sich in der Geschichte als ein Charakter wiedererkennen sollte oder möchte, dem sei es freigestellt. Träumen ist……

Carsten Wolff

Einführung

Ganz friedlich liegt sie auf ihrem Bett, auf ihre Lieblingsseite gedreht, ihre rechte Seite. Ihr nackter Körper ist mit einem Laken bedeckt. Dennoch zeichnen sich ihre wunderschönen weiblichen Formen deutlich darunter ab.

Wie der Arzt sagt, ist ein spitzer Gegenstand von hinten in ihren Körper bis zum Herz eingedrungen. Eine kaum bemerkbare Stichwunde und kaum Blut sind zu bemerken. Ihr Gesicht ist friedlich mit einem Lächeln versehen, fast so, als hätte sie sich dieses Ende gewünscht. Fast so, als würde sie sich jetzt an dem erhofften Ort befinden, Ihrer Sehnsucht, ihrer Träume, hoch oben über uns allen schwebend, vergeistig und der Hülle entledigt. Zeit ihres Lebens war sie so schön, dass es einer mentalen Belastung gleichkam, der sie nie ausweichen oder sich darüber erheben konnte. Selbst Helena hätte verstohlene Blicke ausgesandt.

Gott hatte Clodia alles Menschenmögliche mit auf den Weg gegeben, nein, fast alles, die Liebe hatte er ihr entzogen. Sie konnte nicht lieben, sie konnte immer nur Qualen in anderen hinterlassen. 29 Jahre ist sie nur alt geworden.

Was von ihr bleiben wird? Vermutlich mentale Krämpfe, die sich bei ihren Liebhabern und Bekannten erst nach Jahren lösen werden. Dann, wenn die Erinnerung den Schmerz aufgezehrt und zum Schönen hin gewandelt hat. Dann, wenn die Träume verflogen sind und an einem fernen Ort verweilen.

Bis, bis sie eines Tages wieder zurückkehren werden……

Einige Zeit später - Beerdigung

Bei der Trauerfeier ist der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt. Zumeist befinden sich Männer unter den Anwesenden. Einer nach dem anderen tritt an den aufgebahrten weißen Sarg heran, erbietet der Verstorbenen die Ehre, legt eine weiße Rose hinzu, dreht dann nach einer Schweigeminute ab und begibt sich auf einen Platz in der Kapelle zurück. Die meisten der Herren kenne ich nicht, nur vier von ihnen, denen ich teilweise flüchtig bereits begegnet bin. Durch meine Tränen wirken sie verschwommen, fast nicht unterscheidbar. Alles im Raum wirkt unwirklich, bizarr, undeutlich, so als würde augenblicklich Nebel in die Halle eingezogen sein. Und dennoch spüre ich Deine Gegenwart, so unwirklich und unbegreiflich ist Dein Tod für Deinen Vater, für mich.

Clodia, Du bist nur 29 Jahre alt geworden und dennoch hast Du mehr erlebt als vermutlich die meisten der Anwesenden in ihrem längeren Leben. Du warst nie genügsam, wolltest immer mehr, gabst keine Ruhe, warst immer auf der Suche und gingst zumeist über die Grenzen hinaus, ja, Du warst stets eine Gehetzte Deiner Schönheit und Ansprüche von Kindheit an.

Was sind wir zusammen im Geiste durch das All gestreift. Wir haben Pläne geschmiedet, die der Unendlichkeit standhalten sollten, mussten jedoch erkennen, auch wenn es uns zeitweise verzweifeln ließ, dass diese nicht einmal der Endlichkeit genügen könnten. Was hast Du ängstlich gefragt:

„Oh Geist, oh Vater, hat denn das All kein Ende?“

Was habe ich Dir darauf geantwortet?

„Ach Liebes, ich weiß es nicht! Man könnte meinen, nein! Doch auf der Suche haben wir festgestellt, dass das Gesehene eine ewige Wiederholung unseres Vorwissens ist, eine Wiederholung gleicher Mechanismen: des „Kommens und Gehens.“ Und wenn Du es erst einmal verinnerlicht hast, wirst Du bestätigen, dass wir Gefangene des Großen, des Alls, sind und uns gleichsam in einem dunklen Kerker befinden wie dem hier bei uns im Jetzt.“

„Du meinst, es verhält sich dort wie hier bei uns auf der Erde?“

„Ja! Ich denke, das All ist zum Träumen erschaffen worden, um zeitweise aus dem eigenen Kerker ausbrechen zu können. Du bist sehr jung und willst Berge versetzen. Glaube mir: Auch Dir wird es nicht gelingen! Das Grenzenlose muss ein Bestandteil Deines Ichs sein. Dann siehst Du das Nahe wie das Ferne zugleich und begreifst zumindest einen Teil davon. Es wird Dich leiten. Es wird Dich auch verführen wollen. Das Maßvolle ist der richtige Weg. Bedauerlicherweise ist es nicht Dein Weg! Dein Weg ist die Einsamkeit ohne Liebe! Erreicht Dich ein Funken der roten Wärme, vermagst Du diese nicht als solche zu deuten, da sie nicht in Dich eindringen kann und sich sofort wieder erkaltet zurückzieht.“

Rückblick am Grab

Liebe Clodia,

geliebte Freundin und Tochter,

in tiefe Trauer gehüllt, sitze ich an Deinem frischen Grab. Die nicht trocken werdenden Tränen verschleiern mir den Blick. Unschärfe beherrscht mich und Dein Platz vor mir ist ins Schwanken geraten. Ich muss mich setzen, um nicht den Halt zu verlieren, jedoch sind meine Gedanken wieder klar. Ein paar Tage sind nunmehr vergangen, seitdem Dir jemand diese unverzeihliche Schandtat angetan hat. Ich will nicht der Richter sein, denn Gott hat es so gewollt und geschehen lassen. Es muss einen Grund geben, auch wenn ich diesen nicht nachvollziehen kann. Wieso hat er mir mein Liebstes, mein Kind, genommen? Eltern sollten immer vor ihren Kindern sterben als ein naturbedingter Vorgang. Und doch auch ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen: Wieso habe ich die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt und verhindern können, in welcher Du schwebtest? Jedoch ist dieses Verlangen übermenschlich.

Clodia, ich möchte sterben, um bei Dir zu sein. Um mit meiner liebsten Tochter vereint zu sein. Ich weiß, wie sehr Du mich geliebt hast, obgleich Du es nie gefühlvoll ausgesprochen hast. Deine Augen haben es für Dich getan. Sehnsüchtige Blicke hast Du mir nachgeworfen und mich zuvor an den Händen festgehalten, wenn wir uns getrennt haben. Deine Blicke haben mir ewige Liebe signalisiert. Wenn ich Dich danach gefragt habe, hast Du mir stets geantwortet:

„Vater, frag nicht so viel!“

Es war Dein Inneres, welches dieses Bekenntnis nicht zuließ. Dein kontrollierender Geist, der Emotionen auf ein Minimum beschränkte. Und Du fügtest an:

„Mein Beruf bringt es mit sich, als beobachtete Frau sich immer unter Kontrolle zu halten. Sollen die Männer mich versuchen, zu enträtseln!“

„Ach ja, keine Mithilfe?“ kam als Antwort von mir.

 

„Nein, keine!“

Dann hast Du meine Hände gefasst, mir einen Kuss auch die Wange gesetzt und bist gegangen, eben mit diesen wehmütigen Blicken. Ich vermisse Dich so sehr, meine liebste Tochter! Und augenblicklich spüre ich Dich ganz deutlich, wie Du von oben auf mich blickst, wieder mit diesen elegischen Blicken in Deinen Augen. Sie lassen mich wanken, ob Du doch noch lebst und Dich nur auf einer langen Reise befindest. Augenblicklich hole ich mein Handy hervor und wähle Deine Nummer.

Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar!

höre ich von einer Computerstimme. Lange Reise? Ich zweifele. Oder? Das Bewundernswerte an der Illusion ist, dass es nichts Illusionäres daran mehr gibt, es lebt nur noch das Wirkliche. Im Hier und Jetzt.

Aus der Jacketttasche hole ich einen Umschlag hervor. Er beinhaltet einen Brief an Dich, meine Tochter. Geschrieben von mir, nachdem ich Veränderungen an Dir wahrgenommen habe. Du solltest ihn erst öffnen, wenn ich sagte: „Jetzt.“ Darin habe ich für Dich eine kleine Geschichte geschrieben, die Dir zum Nachdenken Anlass geben sollte. Dazu ist es nun nicht mehr gekommen.

Ich lese ihn Dir jetzt vor in der Hoffnung, dass Du die Zeilen mitanhörst.

Der (ungelesene) Brief an Clodia

(mit prophetischen Gedanken):

Und es kamen 8 goldrote Reiter zu den Menschen, öffneten ihre Umhänge und gossen das weiße Licht der frischen Gedanken über sie aus. Es sollte die Freiheit bedeuten. Jedoch die Menschen begriffen nicht oder sie wollten und konnten nicht begreifen. Sofort entstand ein mannigfaches Gesabber darüber, so als würden Steine aneinander gerieben, als würden Hebelwerke angeworfen, Motoren gestartet oder alles gleichzeitig in Gang gebracht. Lärm, überall war Lärm zu hören. Nichts glich mehr dem Zuvor. Die Stimmung glitt dem Chaos entgegen. Und als die Menschen sich ihrem Unverständnis bewusstwurden, kam Zorn in ihnen auf, der sich gegen diese Neuankömmlinge richtete. Wer sind sie? Woher kommen sie? Was wollen sie (von uns)? Wenn eben noch Uneinigkeit herrschte, waltete nunmehr Einverständnis und Verständnis im Zorn unter ihnen und gegen die Neuen gerichtet. Jedoch waren diese 8 Reiter bereits weitergezogen und nicht mehr auffindbar, nachdem sie mitangesehen hatten, was durch sie angerichtet war. Wenig später legte sich der Sturm der Entrüstung unter den Menschen, glättete sich zu leichten Wogen. In der Folge wirkte wieder jeder Mensch für sich, so wie er es eigentlich immer getan hatte. Mit der Zeit geriet die Angelegenheit ganz in Vergessenheit, auch weil niemand mehr darüber sprach und das Vergessen eingesetzt hatte. Selbst den Ältesten der Alten war diese Begebenheit beinahe entfallen, nur manchmal blitzte diese alte Geschichte wieder auf, die mittlerweile dermaßen verfälscht war, sodass sie sich auf Reiter mit Flügeln, die aus dem Himmel auf die Erde geschwebt und von Licht umgeben waren, reduziert hatte. Ursache und Wirkung spielten keine Rolle mehr und wurde auch von niemand hinterfragt.

Irgendwann öffnete sich der Himmel und es erschien eine 8 blättrige blaue Blume am Firmament, so mächtig, dass diese mit ihrer Korolla bis zum Horizont reichte. Und obgleich viele Generationen in der Zwischenzeit geboren waren, verhielten sich die Menschen wie ehemals und liefen wieder zusammen. Diesmal erfreuten sie sich an dem Bild der riesengroßen Blume hoch oben über ihnen. Wieder entstand ein allgemeines Tohuwabohu, jedoch entwickelte sich darüber kein Zorn. Die früheren Beweggründe fielen der Lächerlichkeit anheim und der Platz für Neues war frei. Und so machte sich ein allgemeines Erstaunen breit und gleichzeitig damit etliche Meinungen, was diese wundervolle Erscheinung zu bedeuten hätte. Einige fielen auf die Knie und beteten die sichtbare Allegorie götzenhaft an, wiederum andere fürchteten sich. Sinnvollerweise wurde die Erscheinung nach gewisser Zeit derart akzeptiert, als würde diese Blume zum immerwährenden Weltbild dazugehören. Nach dem Aufwachen schauten die Menschen zuerst zum Himmel und waren sofort beruhigt, wenn diese blaue Blume am Firmament zu sehen war. Jemand meinte, sie würde das wahre Leben offenbaren. Doch was sollte es bedeuten, fragten andere daraufhin. Was bedeutet das wahre Leben? Glück, Zufriedenheit, Ruhe, Sicherheit, Frieden oder der kleinste gemeinsame Nenner, der sie, die Menschen, miteinander verbindet? Es gab keine klärende Antwort darauf. Auf jeden Fall war festzustellen: Von der Blume am Himmel ging nichts Böses, sondern eine allgemeine positive Grundstimmung aus. Sie stand dort hoch oben und zeigte die ganze Schönheit in ihrer physischen und mentalen Unerreichbarkeit.

Eines Tages passierte etwas Außergewöhnliches und nicht für möglich Gehaltenes. Die Blume verwelkte langsam. Zuerst noch kaum wahrnehmbar, an einigen Stellen entstanden kleine braune Stellen, die sich schnell vermehrten, bis sie die ganze Blume überdeckten, wodurch das wunderbare Blau durch ein hässliches Braun ersetzt wurde. Und nicht nur die welke Blume, auch die gesamte Erde wurde von diesem fahlen Licht überschattet. Wiederum knieten die Menschen ehrfürchtig nieder und bettelten um die Unversehrtheit des Lichtes. Es half alles nichts! Das düstere Licht blieb hartnäckig erhalten und gestaltete Mensch, Tier und auch die Natur zu einem Einheitsbrei an farbloser Eintönigkeit und erzeugte in allen eine depressive Grundstimmung. Fragen nach der Schuld entstanden bei den Menschen. Haben wir uns zur Bequemlichkeit und Genuss hinreißen lassen, anstatt der wunderbaren Lebensfreude zu huldigen? Offensichtlich, so wurde entschieden, musste gesühnt werden, obgleich niemand die Schuld zu definieren vermochte. Und so bauten die Menschen eine riesige blaue Blume als Abbild auf der Erde, der sie fortan huldigen konnten. Denn, wenn etwas ewig Bestand hat, so ist es die Kunst und Wahrheit, die die Menschen in ihrem Denken gleichwerden lässt. Und tatsächlich gelang mit diesem Kunstwerk ein Ausbruch aus der depressiven Stimmung. Zum allgemeinen Erstaunen wurde diese blaue Blume nicht fahl überschattet.

Viele Menschen wurden zu Pilgern, in der Hoffnung, dem Einheitsbraun entfliehen zu können. Und obgleich niemals ein Mensch von der Wanderschaft zurückgekehrt war, ließen sich weitere nicht aufhalten, ihnen gleich zu tun. Die Beweggründe für die Wanderschaft konnten nicht gegensätzlicher sein. Meinten die Einen, ihre Vorgänger müssten das ewig Schöne gefunden haben, waren andere der Ansicht, dass diese dem Tod begegnet waren und ihm hätten Rechenschaft ablegen müssen. Ein Konsens herrschte jedoch darüber, dass eine schicksalhafte Ergebenheit und einem Verneigen vor den Jahrhunderten gebrochener Geschichte der falsche Weg sei. Egal was am Ende des Weges auch geschähe, jeder Einzelne müsse die Schranke durchbrechen, die für ihn errichtet worden sei.

Und tatsächlich wurde der Strom der Pilger so gewaltig, bis eines Morgens die erst noch schwache rote Glut der aufsteigenden Sonne sichtbar wurde, die mit jeder Minute stärker und stärker wurde, bis sie die ganze Welt umfing und das Fahle wegwischte.

Ende

Am Grab

Hier an Deinem Grab sind die Blumen von der Trauerfeier am Verwelken. Fast ausschließlich weiße Rosen in verschiedenen Arrangements beherrschen den Blumenschmuck. Ohne die Lippen zu bewegen, spreche ich mit Dir. Der Nachklang meiner Worte erreicht hoffentlich Dein Ohr im Äther, Deine große Welt, die wir oft genug zusammen im Geiste durchstreift haben.

Manchmal hatten wir uns nahe des sogenannten „Altonaer Balkon“ auf den Rasen gesetzt und waren mit den Augen den großen Containerschiffen gefolgt, die so still die Elbe hinauf- und hinabzogen. Manchmal war es darüber zu einem Sonnenuntergang gekommen. Der Sonnenball hatte an Stärke verloren, sich zu karminrot abgeschwächt, bis er langsam und unaufhaltbar auf der anderen Seite der Elbe hinter den Kränen und Containerstapeln in einer Hülle von weinrot verschwunden war und es zu einem verschluckenden Dunkel, dem letzten Aufzucken des Tages, dem Abschied, geführt hatte.

In diesen Momenten sprachen wir nur wenig, sondern ließen unseren Gefühlen freien Lauf. Wie sehnsüchtig Du den Schiffen hinterherschautest. Augenblicklich denke ich, Du hast damals Deine eigene Reise vorweggesehen. Vermutlich hast Du gedacht: Die Schiffsrouten sind unseren Lebenswegen ähnlich, besitzen diese stets einen Zielhafen auf ihrer langen Reise und haben auf dem Weg dorthin große Unwägbarkeiten zu bewältigen. Plötzlich auftauchende Riesenwellen, die die Boote zu überstürzen drohen oder gefährlich ins Wanken bringen, undurchdringliche Nebel, die die Orientierung oder Navigation erschweren, Winde, Strömungen, welche das Ziel kurzzeitig schwingend undeutlich werden lassen. Nicht anders ergeht es doch jedem Menschen in seinem Leben. Waren diese Häfen Dein Ziel als eine Zwischenstation oder war es die Sucht nach dem Jenseits, dem Unbekannten als Auflösung oder Erlösung? In Träumen, so sagt man, löst sich letztlich jede Schwierigkeit auf. Wer hat es nicht selbst bereits einmal erlebt, todesdrohende Situationen durchlebt, die sich unrealistisch, traumhaft auflösten, um sie im Wachen als eine positive Erfahrung mitnehmen zu können als ein psychologischer Trick oder eine Überlebensstrategie unseres Daseins. Oder Lösung für grundlegende Lebensfragen? Ein Wechselbad der Gefühle zwischen Traum und Wirklichkeit.

Liebe Tochter,

Dich zog es seit geraumer Zeit mit großen gedanklichen Schritten zum Jenseits hin. Jedenfalls gab es Ansätze dazu in unseren Gesprächen, wahrzunehmen. Es waren sprechende, sinngefüllte plötzlich auftauchende Riesenwellen, die Dich gleichsam in den Bann zogen wie aus der Bahn warfen. Doch wen eigentlich von Euch beiden. Dich oder Deinen Zwilling? Damit hast Du häufig in mir Verwirrung gestiftet. Ja, ich denke, Du wusstest es selbst nicht einmal mehr. Einerseits standst Du mit beiden Beinen fest im Leben, während Dein Zwilling bereits eilte und nur noch dem Erfolg hinterherhechelte. Der damit verbundenen dunklen Seite den Ansporn gab, noch mehr und stärker in Dir zu wirken wie ein wunderbar dunkelglänzender Niederschlag, der so unfasslich schön sein kann und gleichsam verführerisch übersinnlich ist. Schuldgefühle besitzen darin keinen Platz. Es gab immer eine Erklärung, mit der Du Dich selbst zufrieden stellen konntest.

„Vater“, hast Du mich gefragt, „denkst Du das wir im Jenseits alle gleich sind? Ich möchte das nicht. Ich bin etwas Besonderes!“

Damals habe Dir geantwortet:

„Gott ist so weise, dass er auch dafür eine Lösung gefunden hat. Vielleicht liegt sie darin, dass er den Besonderen außergewöhnliche Aufgaben überantwortet. Doch was das Äußere, das Sichtbare betrifft, sage ich Dir, die wunderschöne Kleidung, den Schmuckglanz benötigst Du dort nicht mehr. Dies sind irdische Dinge, die für irdischen Glanz sorgen. Ja, es werden an Dich gestellte Aufgaben sein, die Dich vor anderen auszeichnen.“

In diesen Momenten huschte stets ein kurzes Lächeln über Dein Gesicht, erstarrte kurz darauf wieder. Einerseits, weil Du keinen Verzicht üben wolltest. Andererseits vermutlich, weil Du meinen Worten Glauben schenktest, obgleich ich auch nur meine Vermutungen aussprechen konnte. Wir wussten es damals beide nicht. Jetzt hingegen wirst Du es wissen. Jedoch zeigte sich, dass Deine Liebe den sogenannten schönen Dingen galt, dem Glanz des Geldes erlegen war, jedoch nicht die Menschen betraf, mit denen Du Dich umgabst, besser, die sich mit Dir umgaben.

Einmal, ich erinnere es sehr genau, wir saßen in einem Restaurant zusammen, sagte ich zu Dir:

„Clodia, Du kannst nicht lieben, Du vermagst nur zu quälen!“

Entsetzt schautest Du mich daraufhin an.

„Wie meinst Du das, Vater?“

„Weil Du in Deinen Männern Qualen erzeugst und hinterlässt. Du ziehst die Männer in Deinen Bann mit Deinem Wesen, erfüllst aber deren Fantasien nicht. Nein, ich verbessere mich. Du bist noch viel extremer: Du forderst und saugst sie aus. Du wirkst in ihnen wie eine Droge, der sich Deine Freunde nicht entziehen können. Du besitzt die Anziehungskraft des Außergewöhnlichen (sie lächelte bei meinen Worten). Vielleicht schreibst Du damit Märchen für Erwachsene, die sich eben nicht wie normalerweise in Liebe auflösen, sondern nur Qualen hinterlassen. Die Sucht nach Dir ohne Aussicht auf Erfolg. Jedoch die Hoffnung darauf hältst du viral (wieder lächelte sie). Hast Du Dich jemals gefragt, was Du damit bewirkst und was Du für ein Spiel spielst?“

 

Doch anstatt wörtlich zu antworten, fingst Du damals laut zu lachen an. Es signalisierte Deine Haltung und beschrieb, unwidersprochen, welches Spiel Du triebst und auch, dass Du es wirklich als ein Spiel ansahst. Von Deinen Lippen konnte ich damals ablesen: Wenn die Männer so dumm sind?

Mir schwante in diesem Augenblick nichts Gutes. Auch dass ich Deinen Weg als Irrweg ansah, hatte ich Dir damit zu verstehen gegeben. Damals reifte in mir der Gedanke, für Dich einen Brief, eine Geschichte zu schreiben, den ich dann Wochen später verfasste. Kein zweites Mal haben wir ein solches Gespräch geführt. An diesem Abend war alles von meiner Seite ausgedrückt worden.

Mit ihrem 27. Geburtstag hatte ich die ersten Veränderungen bei Dir bemerkt. Mit den ersten größeren beruflichen Erfolgen trafst Du eine Entscheidung, nur noch sogenannte „High Brands“, die teuerste Kleidung, zu tragen. Ganz stolz kamst Du in Hermes gekleidet und präsentiertest Dich darin wie ein Pfau, der die Federn auffächert.

„Vater, mit meinen neuen Kunden muss ich mich besser kleiden. Sie empfinden es als sehr angenehm, jedenfalls werde ich seitdem noch mehr mit Komplimenten überhäuft.“

„Bitte übertreib nicht“, sagte ich zu Dir. Du hast erst Dein 27. Lebensjahr vollendet und feierst erste Erfolge. Sei nicht so ungeduldig!“

„Das gleiche hast Du auch gemacht“, war Deine Antwort.

„Ja, Liebes, nur im Unterschied zu Dir war ich bereits knapp vierzig.“

„Die Zeiten haben sich geändert, Vater! Sie sind schnelllebiger geworden. Das Karussell des Erfolgs dreht sich schneller!“

Ich antwortete Dir damals nicht, sondern wir feierten ausgelassen Deinen Geburtstag. Jedoch von diesem Zeitpunkt an betrachtete ich meine Tochter genauer. Irgendetwas musste in ihr vorgegangen sein, als ein Auslöser. Nur beruflicher Erfolg? Oder steckte mehr dahinter? Liebes, Du hast es mir nie erzählt. Mit der Kleidung wechselten auch Deine Bekanntschaften. Die Herren wurden älter. Einige davon waren, so schätzte ich, bereits in meinem Alter und hätten leicht Dein Vater sein können. Zu alt! Dein wirtschaftlicher Erfolg legte rapide zu. Beides, High Brands und Erfolg schienen wunderbar zusammengewachsen zu sein. Scheinbar hattest Du auf das richtige Pferd gesetzt. Scheinbar?

Schein und Trug sind enge Verwandte wie Bruder und Schwester. Häufig streiten sie sich heftig, vertragen sich auch wieder sehr schnell. Und genau diesen Zwist trug Clodia in und mit sich. Allerdings trugst Du es mit Deinem Zwilling aus. Nicht, dass Du unkritisch warst, nein, Du beobachtetest Dich selbst sehr genau. Und wenn ich zu Dir sagte:

„Du hast Dich zu einer Grenzgängerin entwickelt und bist zu jung für derartige Auftritte!“ antwortetest Du mir spontan:

„Dessen bin ich mir bewusst. Ich kann damit sehr gut umgehen, Vater!“

Wenn ich mit Dir einkaufen ging, verneigten sich bildhaft die teuren Boutiquen vor Dir. Namentlich warst Du ohnehin überall bekannt. Kein Wunder, denn Du ließest Unsummen dort. Und wenn nicht Du, dann einer Deiner Begleiter.

Einmal, wir saßen bei einem Tee zusammen, geschah folgendes. Mehrfach klingelte Dein Handy. Jedoch diesmal standst Du auf und entferntest Dich ein paar Schritte weg von mir, sodass ich nichts von Deinen Worten verstehen und auch nicht dem Gespräch folgen konnte. Als Du zurückkamst, bemerktest Du lakonisch:

„Geschäftlich, Vater, ich wollte Dich damit nicht langweilen!“

Diese Situation war speziell und mir unbekannt. Nicht einmal zuvor hattest Du dieses Verhalten gezeigt. Ich vergaß diese Szene schnell und erfreute mich an diesem gemeinsamen schönen Nachmittag. Jedoch auf dem Nachhauseweg schoss mir das heiße Blut in den Kopf. „geschäftlich“ hattest Du gesagt. Was bedeutete es? Du hattest stets in meiner Gegenwart geschäftlich telefoniert und Dich dabei mit einer Handbewegung entschuldigt. Häufig zogst Du Deinen Laptop oder Unterlagen hinzu. Diesmal warst Du spontan aufgestanden, hattest Dich entfernt und warst hastig hin und her gelaufen. Meine Gedanken wogten und lehnten sich instinktiv gegen Deine Worte auf. Eine kleine Lüge? Bald beruhigte ich mich wieder.

Ich höre Schritte hinter mir. Eine alte Dame hat sich mir fast unbemerkt genähert. Sie blickt zu mir hinunter, betrachtet das Grab ruhig, lässt ihren Blick langsam über jeden einzelnen Gegenstand gleiten. Abrupt dreht sie sich ab.

„Zu früh!“

Ruhig geht sie ihren Weg weiter. Der leichte Wind träg noch ein unverständliches Gemurmel zu mir herüber. Dann verliert sie sich hinter ein paar alten Bäumen zur Unsichtbarkeit.

„Zu früh“, hat sie gesagt. Ja, ich habe es ganz deutlich verstanden. Wie kommt sie darauf? Sie hat das Alter von Clodia gelesen und interpretiert. Die alte Frau kennt doch nicht die Umstände und sagte: „Zu früh!“ Zu früh für was? Zu sterben? Weiß sie mehr? Ich möchte der Frau hinterherlaufen und sie fragen. Wenn Gott mir keine Auskunft erteilt, wieso spricht diese Unbekannte diese Worte aus. Ich versinke ins Grübeln.

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