Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

|►2|

UTB 3454

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien

Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills

facultas.wuv · Wien

Wilhelm Fink · München

A. Francke Verlag · Tübingen und Basel

Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien

Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn

Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart

Mohr Siebeck · Tübingen

Orell Füssli Verlag · Zürich

Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel

Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich

Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen

vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

|2◄|


Dr. Carsten Burhop ist Dipl.-Volkswirt und Professor am Seminar für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte der Universität zu Köln.

Mit 24 Tabellen und 11 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783846334546 (utb-e-book)

© 2011 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.

www.v.-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen

Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne

vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich

gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für

Lehr- und Unterrichtszwecke. – Printed in Germany.

Coverillustration: Telefonzentrale bei Merck in Darmstadt, 1908; Merck-Archiv Y1/01875

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978-3-8252-3454-6 (UTB-Bestellnummer)

Hinweis zu Zitierfähigkeit

Diese EPUB-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn und das Ende jeder Seite gekennzeichnet. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, kann diese Seitenzahl mitten in einem Wort stehen. Dies sieht etwas ungewohnt aus, sichert aber die Zitierfähigkeit dieses E-Books.

Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Hinweis zu Zitierfähigkeit Vorwort Übersicht der Tabellen Übersicht der Zeichnungen I. Einleitung II. Politik, Gesellschaft und Verfassung III. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft aus nationaler Perspektive IV. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft in internationaler Perspektive V. Die Konjunktur VI. Fiskalpolitik VII. Außenhandels- und Zollpolitik VIII. Geld- und Währungspolitik IX. Unternehmen X. Unternehmenskonzentration und Kartellierung XI. Banken und Finanzmärkte XII. Die Wirtschaft im Ersten Weltkrieg XIII. Schluss Literatur

|►7|

Vorwort

Viele Jahre habe ich mich mit der Idee beschäftigt, dieses Buch zu verfassen. Gelungen ist es mir, weil ich mich einige Jahre aus dem Universitätssystem zurückziehen und mich voll auf meine Forschung konzentrieren konnte. Daher möchte ich an erster Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft danken, die mich im Rahmen des Heisenberg-Programms großzügig gefördert hat.

Besonderer Dank gilt auch Martin Hellwig, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn, für die Möglichkeit, an seinem Institut zu forschen und von dem hervorragenden Forschungsumfeld zu profitieren. Mein Dank gilt ebenfalls Timothy W. Guinnane, der mich für mehrere Monate ans Economic Growth Center der Yale University eingeladen hat. Während dieser Monate im Frühjahr 2009 wurde der Grundstein für diese Monographie gelegt.

Wichtig war auch die Unterstützung von Freunden, die große Teile des Manuskripts gelesen und kritisch kommentiert haben. Dafür möchte ich mich bei Andreas Jüngling, Sibylle Lehmann, Benedikt Viertelhaus und Vera Ziegeldorf ganz herzlich bedanken.

Schließlich haben zahlreiche hilfsbereite Kollegen einzelne Kapitel des Manuskripts gelesen und mit Anmerkungen versehen. Daher gilt auch Marcel Boldorf, Steve Broadberry, Mark Spoerer, Richard Tilly und Martin Uebele mein Dank. Gleichwohl übernehme ich die uneingeschränkte Gesamtverantwortung für das Manuskript.

Bonn, im Juli 2010

|7◄|

Übersicht der Tabellen

Tabelle T1 Tabelle T2 Tabelle T3 Tabelle T4 Tabelle T5 Tabelle T6 Tabelle T7 Tabelle T8 Tabelle T9 Tabelle T10 Tabelle T11 Tabelle T12 Tabelle T13 Tabelle T14 Tabelle T15 Tabelle T16 Tabelle T17 Tabelle T18 Tabelle T19 Tabelle T20 Tabelle T21 Tabelle T22 Tabelle T23 Tabelle T24

Übersicht der Zeichnungen

Abbildung A1 Abbildung A2 Abbildung A3 Abbildung A4 Abbildung A5 Abbildung A6 Abbildung A7 Abbildung A8 Abbildung A9 Abbildung A10 Abbildung A11

|►11|

I. Einleitung

Während der nahezu fünf Dekaden zwischen Reichsproklamation und Novemberevolution wandelte sich Deutschland vom wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch rückständigen Agrarstaat zum wirtschaftlich modernen sowie zum gesellschaftlich und politisch revolutionären Staat. Wirtschaftliches Wachstum und ökonomische Modernisierung waren mit gesellschaftlich-politischer Rückständigkeit nicht mehr zu vereinbaren und die gesellschaftlich-politischen Gruppen begaben sich während des Ersten Weltkriegs zunehmend in eine innenpolitische Frontstellung zueinander. Während die Wirtschaft in jahrzehntelangen Trippelschritten in die Moderne gewandert war, kollabierte das politisch-gesellschaftliche System und wurde in ein neues, republikanisches Gewand gekleidet. In dieser Monographie zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs geht es nicht um die großen Wendemarken an seinem Anfang und Ende, sondern um die zahlreichen kleinen Wendungen und Bewegungen der Gesamtwirtschaft, der Wirtschaftspolitik und der in der Wirtschaft handelnden Unternehmen und Menschen. Es ist somit ein Buch über die Trippelschritte des wirtschaftlichen Fort- und Rückschritts zwischen 1871 und 1918.

 

Viele methodische Wenden, die in der historischen Forschung in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen wurden, werden in meinem Buch nicht nachvollzogen: weder eine kulturalistische noch eine linguistische oder eine räumliche. Vielmehr verfolge ich einen geradezu traditionell anmutenden sozialwissenschaftlichen Ansatz der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichtsschreibung. Die den Argumenten in diesem Buch zugrundeliegenden sozialwissenschaftlichen Modelle sind der Volks- und Betriebswirtschaftslehre entnommen, sodass grundlegende Kenntnisse dieser Disziplinen für das Verständnis des Buches sicherlich hilfreich, aber keinesfalls notwendig sind, da die zentralen theoretischen Konzepte im Text erläutert werden.

Der wirtschaftswissenschaftliche Ansatz bedingt, dass die beiden zentralen ökonomischen Aktivitäten – Produktion und Konsum – im Zentrum des Buches stehen. Aus den primären Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Land werden mit Hilfe verschiedenster Produktionstechnologien Güter erzeugt, die ihrerseits entweder als Zwischengüter im weiteren Produktionsprozess untergehen, als Investitionsgüter in den Kapitalstock der Wirtschaft eingehen oder als Konsumgüter der Bedürfnisbefriedigung zugeführt werden.

Dementsprechend behandelt der erste Hauptteil des Buches, bestehend aus den Kapiteln III bis V, die großen Strömungen von Produktion und Konsum zwischen 1871 und 1918. Wie entwickelten sich das deutsche Sozialprodukt und seine Komponenten? Können wir genau abschätzen, wie sich die Gütererzeugung,|11◄ ►12| die Verteilung der Einkommen auf die primären Produktionsfaktoren und die Einkommensverwendung in diesem Zeitraum veränderten? Wie stellten sich Niveau und Verlauf der deutschen Wirtschaftsentwicklung in international vergleichender Perspektive dar? War Deutschland ein Nachzügler der industriellen Revolution, der zur Jahrhundertwende zur Wirtschaftslokomotive Europas oder der Welt wurde? Schließlich stellt sich die Frage, ob die Wirtschaft gleichmäßig wuchs oder ob der Wachstumsprozess von markanten konjunkturellen Zyklen überlagert wurde.

Der zweite Hauptteil des Buches umfasst die Kapitel VI bis VIII und beinhaltet Darstellungen zentraler Felder der Wirtschaftspolitik. Steuern, Zölle, Staatsausgaben und Geldversorgung setzen den Rahmen, in dem Wirtschaftssubjekte handeln und sie stellen die Infrastruktur bereit, die ökonomisches Interagieren ermöglicht. In Kapitel V, das sich mit der Fiskalpolitik beschäftigt, wird zunächst der Frage nachgegangen, in welchem Umfang der Staat Einkünfte erzielte und welche Leistungen er dafür dem Bürger zur Verfügung stellte. Des Weiteren werden die politischen Prozesse untersucht, die die Gestaltung von Steuer- und Leistungssystemen determinierten. Schließlich werden einige Folgen der Fiskalpolitik, insbesondere die steuerliche Belastung unterschiedlicher Einkommen und der Steuerwettbewerb zwischen Regionen und Städten beleuchtet. Eng mit der Fiskalpolitik verknüpft war die Zoll- und Außenhandelspolitik des Deutschen Reichs, die in Kapital VII dargestellt wird. Die Zollpolitik war eines der wichtigsten Politik- und Konfliktfelder im Deutschen Reich. Einerseits gab es Konflikte zwischen dem Zentralstaat und den Bundesstaaten über die Aufteilung der Zolleinnahmen. Andererseits wurden Konflikte auch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ausgetragen, wie die aus Zöllen resultierenden Lasten auf inländische Konsumenten und Produzenten zu verteilen wären. Schließlich folgt in Kapital VIII ein Abschnitt über die Geld- und Währungspolitik, ein relativ konfliktarmes Politikfeld, dem jedoch eine zentrale ökonomische Funktion zukommt. Ein stabiles Geldsystem ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für wirtschaftliche Prosperität. Daher gilt es darzustellen, wie stabiles Geld im Deutschen Reich geschaffen und erhalten wurde.

Der dritte Hauptteil des Buches, der die Kapitel IX bis XII umfasst, widmet sich Unternehmen und Märkten. Güter werden in Unternehmen erzeugt, dort werden die Einkommen auf Unternehmenseigentümer und Arbeitnehmer verteilt. Über Gütermärkte fließen die Waren von den Firmen zum Konsumenten und über Finanzmärkte fließen nicht für Konsum verwendete Haushaltseinkommen den Unternehmen oder dem Staat als Kredit zu. In Unternehmen und auf Märkten finden somit die Basisprozesse statt, die die Grundlage für Produktion und Konsum sind. Kapitel IX stellt den Aufstieg der zumeist als Aktiengesellschaft organisierten Großunternehmen in den Mittelpunkt. Es wird unter anderem untersucht, welchen Bedeutungszuwachs diese Unternehmen in verschiedenen|12◄ ►13| Branchen im Zeitablauf hatten, wie innerbetriebliche Informations- und Organisationsschwierigkeiten angegangen wurden und wie sich die Beziehungen zwischen Unternehmensleitung, Eigentümern und Arbeitnehmern gestaltet haben. Ein Teilaspekt der Beziehungen zwischen Unternehmen bildet den Mittelpunkt von Kapitel X, das sich mit Unternehmenskonzentration und Kartellen beschäftigt. Insbesondere wird den Fragen nachgegangen, inwieweit horizontale und vertikale Unternehmenszusammenschlüsse, internes Wachstum und Kartellabsprachen die Unternehmensentwicklung im Kaiserreich mitbestimmten und welche Auswirkungen Konzentration und Kartellierung auf die Performanz von Unternehmen und die Gesamtwirtschaft hatten. Kapitel XI widmet sich schließlich einer wichtigen Teilmenge von Unternehmen und Märkten, nämlich Banken und Börsen. Die klassische Historiographie zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs hat vor allem die wichtige Rolle von großen Aktienkreditbanken für die deutsche Wirtschaftsentwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert herausgestellt. Diese Sichtweise wird in dieser Monographie kritisch beleuchtet: Hatten die großen Aktienkreditbanken tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung? Welche Relevanz hatten andere Kreditinstitute und der Wertpapiermarkt für die Unternehmensfinanzierung? Welche Interaktionen bestanden zwischen Banken und Börsen?

Kapitel XII widmet sich der Wirtschaftsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Auch in diesem Kapitel stehen die zentralen ökonomischen Kategorien Produktion und Konsum im Zentrum: Wie haben sie sich während des Krieges verändert? Welche Verteilungswirkungen hatte die Kriegswirtschaft? Wie reagierte die Wirtschaftspolitik auf die Herausforderung eines langwierigen und materialintensiven Stellungskriegs? Die Kriegswirtschaftsgeschichte als integralen Bestandteil der Wirtschaftsentwicklung des Kaiserreichs zu betrachten hebt die vorliegende Monographie von vielen anderen ab – unter anderen Knut Borchardt, Friedrich-Wilhelm Henning, Hans-Ulrich Wehler, Karl-Erich Born sowie Hubert Kiesewetter sehen eine Zäsur im Jahre 1914.1 Da der Erste Weltkrieg sowohl Kontinuitäten zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs als auch zur Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik aufweist, habe ich mich dafür entschieden diese Übergangsperiode mit zu behandeln.

Wie in Knut Borchardts knapper Darstellung der Industriellen Revolution in Deutschland stehen auch bei mir gesamtwirtschaftliche Aspekte im Vordergrund. Er wies bereits 1972 auf die Probleme der Historischen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hin, verwendet aber trotzdem die damals gerade neu erstellten Zeitreihen. Dem damaligen Forschungsstand entsprechend überschätzt |13◄ ►14| Borchardt die Wachstumsdynamik. Allerdings arbeitet er zentrale strukturelle Kennzeichen heraus: Verschiebung der Einkommen zugunsten von Kapitaleinkommen, hohe Bedeutung steigender Gesamtfaktorproduktivität für das Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitsproduktivität als Ursache von Reallohnsteigerungen. 2 Borchardt fundiert die makroökonomische Perspektive mit Hilfe sektoraler Entwicklungen, die bei mir nicht in einzelnen Kapiteln untersucht werden. Für mich bilden nicht Sektoren, sondern Unternehmen und Märkte die Basisprozesse. Zudem nimmt die Betrachtung der Wirtschaftspolitik bei mir einen wesentlich breiteren Raum als bei Borchardt ein. Die als relevant erachteten Felder der Wirtschaftspolitik – Staatsfinanzen, Geldordnung und Außenwirtschaft – stimmen überein. In meiner Monographie konnten jedoch wirtschaftshistorische Erkenntnisse der vergangenen vier Dekaden verarbeitet werden.

Andere Gesamtdarstellungen der deutschen Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind kaum mit der vorliegenden Monographie vergleichbar. Beispielsweise behandelt Friedrich-Wilhelm Henning gesamtwirtschaftliche Aspekte nur am Rande und fokussiert seine Darstellung auf die Entwicklung im Agrar- und Dienstleistungssektor. Wirtschaftspolitische Gesichtspunkte werden von Henning kaum gewürdigt, und unternehmenshistorische werden nahezu vollständig ausgeblendet.3 Auch Hans-Ulrich Wehlers monumentale Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914 hat einen gänzlich anderen Ausgangspunkt. Für Wehler bildete nicht Wachstum, sondern schufen Krisen und Konjunkturen den Basisprozess wirtschaftlicher Entwicklung.4 Begünstigt von der jeweiligen konjunkturellen Entwicklung entstanden ein Interventionsstaat sowie Großunternehmen und Kartelle .5 Karl-Erich Born wie auch Hubert Kiesewetter wählen in ihren Monographien einen strukturell-chronologischen Aufbau. Kiesewetter behandelt zunächst in chronologischer Reihenfolge Konjunkturschwankungen und wirtschaftspolitische Ereignisse, gefolgt von einer systematischen Behandlung der Entwicklung einzelner Sektoren und Branchen.6 Ebenso wie bei Wehler und im Gegensatz zur vorliegenden Monographie formten also konjunkturelle Entwicklungen den für die Wirtschaftsgeschichte relevanten Basisprozess. Dieser wurde durch die technologischen, organisatorischen und ökonomischen Wandlungen einzelner Branchen und Sektoren gestützt. Bei Karl-Erich Born bewirkten schließlich Demographie und Technologie den Basisprozess wirtschaftlicher Entwicklung, der sich auf die Evolution einzelner Sektoren auswirkt.7 Parallel dazu liefen wirtschaftspolitische Prozesse ab, deren zentrale |14◄ ►15| Politikfelder – die Zoll- und die Sozialpolitik – von realwirtschaftlichen Prozessen beeinflusst wurden.8

Weitestgehend besteht somit Einigkeit darüber, dass gesamtwirtschaftliche und wirtschaftspolitische Fragen in einer Monographie zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs behandelt werden müssen. Im Detail ergeben sich jedoch Unterschiede: Dominierte der langfristige Wachstumstrend oder dominieren die kurzfristigen konjunkturellen Schwankungen? Ich stelle das langfristige Wachstum in den Vordergrund und behandle den Konjunkturverlauf als nachrangiges Phänomen. Auch hinsichtlich der relevanten Felder der Wirtschaftspolitik bestehen divergierende Ansichten. Alle Autoren behandeln die Außenwirtschaftspolitik. Darüber hinaus bilden Fiskalpolitik, Sozialpolitik, Geldpolitik und Bildungspolitik Interessenfelder einzelner Autoren. Auch ich habe hier eine Auswahl getroffen. Für viele Autoren sind Strukturwandel und sektorale Wirtschaftsentwicklung wichtige Teilaspekte. Diese werden bei mir nachrangig behandelt. Dafür stelle ich unternehmenshistorische Aspekte stärker in den Vordergrund, da Produktion meistens in Unternehmen stattfindet und die Faktoreinkommen zu großen Teilen in Unternehmen erzielt und verteilt werden.

|15◄|

|►17|

II. Politik, Gesellschaft und Verfassung

Wirtschaftliche Handlungen werden in einem durch gesellschaftliche und politische Strukturen, Verfassungen und außerökonomische Ereignisse begrenzten Rahmen vollzogen. Entsprechend setzt die Beschreibung und Analyse ökonomischer Gegebenheiten und Entwicklungen Grundkenntnisse der zentralen gesellschaftlichen Strukturen, verfassungsrechtlicher Normen und politischer Ereignisse voraus.

Die gesellschaftliche Struktur lässt sich anhand des Bevölkerungsaufbaus beschreiben, wobei im Deutschen Kaiserreich zwei Entwicklungen herausstechen: Bevölkerungswachstum und Urbanisierung. Zwischen 1871 und 1913 wuchs die Reichsbevölkerung von rund 40 auf circa 67 Millionen Menschen, also um rund 1,2 Prozent jährlich. Auch die Lebenserwartung stieg deutlich an. Im ersten Jahrzehnt des Kaiserreichs hatte ein männlicher Neugeborener eine Lebenserwartung von 35 Jahren, kurz vor Kriegsausbruch hingegen bereits von mehr als 47 Jahren. Für diese deutliche Veränderung kann man vor allem den signifikanten Rückgang der Säuglings- und Kleinkindsterblichkeit verantwortlich machen. Die deutsche Bevölkerung wurde zwischen 1871 und 1913 somit größer und älter. Das natürliche Bevölkerungswachstum aufgrund der Differenz zwischen Geburten- und Sterbeziffern wurde aber durch Migration insgesamt gebremst. Einerseits wanderten zwar 1,1 Millionen Ausländer, vor allem aus Osteuropa, in das Reich ein, andererseits aber verließen drei Millionen Deutsche ihre Heimat dauerhaft, vornehmlich Richtung Nordamerika.9 Von größerer Bedeutung als die internationale Wanderung war jedoch die Binnenmigration, insbesondere von den ostelbischen Agrargebieten ins Rheinland, nach Westfalen und in den Großraum Berlin. Zudem konzentrierte sich die Bevölkerung zunehmend in größeren Städten. Der Anteil der Menschen, die in Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern lebten, ging zwischen 1871 und 1910 von 64 auf 40 Prozent zurück. Gleichzeitig erhöhte sich der Bevölkerungsanteil, der in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern zu Hause war von 4,8 Prozent auf 21,3 Prozent. Die einzige Millionenstadt blieb jedoch Berlin, deren Einwohnerzahl zwischen 1880 und 1910 von 1,1 auf 3,7 Millionen Menschen anstieg. Kurz vor Kriegsausbruch näherte sich auch Hamburg der Millionenmarke. München, Leipzig, Dresden, Köln und Breslau hatten jeweils 500.000 bis 600.000 Einwohner. 10

 

|17◄ ►18|

Die nackten demographischen Ziffern sagen nichts über die ausgeprägte Klassenstruktur des Kaiserreichs. Zunächst einmal bestanden zur Zeit der Reichsgründung erhebliche Einkommens- und Vermögensunterschiede, die trotz des deutlichen Wachstums des Pro-Kopf-Einkommens bis 1918 nicht ausgeglichen werden konnten. Selbst 1914 mussten noch 60 bis 70 Prozent der Lohnempfänger ein Auskommen mit einem Einkommen unterhalb der Einkommensteuergrenze haben.11 Die Gesellschaft des Kaiserreichs kann anhand zahlreicher Gegensätze stratifiziert werden: Arm und Reich, Stadt- und Landbevölkerung, Evangelisch und Katholisch, abhängig Beschäftigter und Selbstständiger, Arbeiter und Angestellter, Bürgerlicher und Adliger, Akademiker und Analphabet. Sozialer Aufstieg war kaum möglich und zog sich, wenn er denn stattfand, oft über mehrere Generationen hin. Beispielsweise fanden sich an Gymnasien und Universitäten kaum Kinder aus Arbeiterhaushalten – ihr Anteil an den Universitätsabsolventen lag unter einem Prozent. Ein sozialer Aufstieg vollzog sich somit eher innerhalb einer Klasse, beispielsweise vom ungelernten Arbeiter zum Facharbeiter, vom kleinen Beamten zum Bildungsbürger.12

An der Spitze der deutschen Klassengesellschaft stand der Adel, dessen ökonomische Bedeutung zwar langsam schwand, der aber gleichwohl erhebliche politische Macht besaß und zentrale Funktionen in Militär und Verwaltung innehatte. Kurz vor Kriegsausbruch stand an der Verwaltungsspitze fast aller preußischen Provinzen und der Mehrheit der Regierungsbezirke ein Adliger, zwei Drittel der Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes waren Adlige und die Hälfte der höheren Offiziere stammte ebenfalls aus dem Adel. Zudem gelang es dem Adel, Aufsteiger aus dem Bürgertum durch Nobilitierung zu integrieren.13

Das Bürgertum selbst ist eine höchst amorphe Kategorie und lässt sich am ehesten anhand von Normen, Mentalitäten und Lebensweisen charakterisieren. Grenzt man das Bürgertum anhand der von Bürgern ausgeübten Berufe ein, dann zählten Unternehmer, Rentiers, Direktoren, Ärzte, Anwälte, Professoren, Pfarrer, Richter und höhere Verwaltungsbeamte dazu. Dieses Wirtschafts- und Bildungsbürgertum umfasste vor dem Weltkrieg dreieinhalb bis vier Millionen Menschen, also rund sechs Prozent der Reichsbevölkerung. Rechnet man kleinbürgerliche Schichten und den neuen Mittelstand hinzu – also Handwerker, Händler, Gastwirte, einfache Angestellte und Beamte – dann gehörten ihm fast zehn Millionen Menschen an.14 Im Kaiserreich kam es zu einer zunehmenden Differenzierung innerhalb des Bürgertums, vor allem weil sich die Durchschnittseinkommen des Wirtschaftsbürgertums und des Bildungsbürgertums deutlich auseinanderentwickelten. Die Bildungsbürger versuchten ihren ökonomischen |18◄ ►19| Statusverlust durch gesellschaftlichen Statusgewinn auszugleichen, beispielsweise mit einer Karriere als Reserveoffizier und der damit einhergehenden Annäherung an den Adel.15

Den dritten Stand im Staate bildete die Arbeiterschaft, zu der am Anfang des 20. Jahrhunderts rund zehn Millionen Beschäftigte zu zählen sind. In sich war die Arbeiterschaft wiederum weit differenziert, etwa hinsichtlich des Alters und der Qualifikation. Der ungelernte, von Altersarmut betroffene Arbeiter im fünften Lebensjahrzehnt hatte wenig mit dem jungen Facharbeiter gemein. Zudem spielte die Religion in der Arbeiterschaft eine relativ große Rolle, bot sie doch Halt in einem Leben, das durch Binnenmigration und Abtrennung von der früheren Lebensgemeinschaft in der kleinen eigenen Welt auf dem Land gekennzeichnet war. Andererseits schweißten abhängige Lohnarbeit, lange Arbeitstage und monotone Tätigkeit die Arbeiterschaft zusammen, sodass zunehmend gemeinsame Interessen in festgefügten Organisationen vertreten und die karge Freizeit gemeinsam verlebt wurden. Gewerkschaften und Wirtshäuser blühten in den Arbeitersiedlungen auf.16

Der Stand der Bauern und Landarbeiter schrumpfte, ihre Anzahl ging absolut, vor allem aber relativ zurück. Die Bewohner der bäuerlich-ländlichen Lebenswelt unterschieden sich anhand ihres Landbesitzes: Großgrundbesitzer, Großbauern, Mittelbauern, Kleinbauern, Parzellisten und landlose Landarbeiter lebten unterschiedlich. Im Reich gab es rund neun Millionen Männer auf dem Land. Davon waren allein dreieinhalb Millionen Landarbeiter und weitere viereinhalb Millionen besaßen weniger als fünf Hektar – nicht genug, um davon zu leben. Somit gab es lediglich eine Million Bauern, die von ihrem Besitz leben konnten. Aber auch innerhalb dieser Gruppe der Besitzbauern gab es große Unterschiede zwischen den rund 20.000 Großgrundbesitzern mit mehr als 100 Hektar und den rund eine Million mittelgroßen Betrieben, die zwischen fünf und 20 Hektar bewirtschafteten. Bemerkenswert sind auch die erheblichen regionalen Unterschiede der Besitzstruktur. In Ostelbien gab es eine steile Hierarchie mit wenigen Großgrundbesitzern und vielen Landarbeitern. In Süddeutschland hingegen wurden landwirtschaftliche Betriebe im Erbfall real geteilt, d. h. auf die Erben verteilt. Dies führte dazu, dass es dort überwiegend Kleinbetriebe gab. Nordwestdeutschland rangierte dazwischen, da das dort übliche Anerbenrecht den Hof in einer Hand, in der Regel in der Hand des erstgeborenen Sohns, beließ.17

Ihre politischen Rechte übte die Bevölkerung durch Wahlen aus, dem einzigen in der Verfassung garantierten Grundrecht. Der grundsätzliche Rahmen politischer |19◄ ►20| Handlungen wurde in der Reichsverfassung vom 16. April 1871, die in wesentlichen Zügen auf die preußische Verfassung und die Verfassung des Norddeutschen Bundes zurückgeht, festgezurrt und bis zum Ende des Kaiserreichs am 9. November 1918 quasi nicht mehr verändert. Das Kaiserreich war zugleich absolutistisch und monarchisch, parlamentarisch und repräsentativ, demokratisch und plebiszitär sowie föderalistisch.18 Der deutsche Kaiser, der zugleich König von Preußen war, nahm in vielerlei Hinsicht die zentrale Rolle in der Verfassung ein:19 Er bestimmte die Außenpolitik, entschied über Krieg und Frieden, führte die Streitkräfte, ernannte und entließ den Reichskanzler, die Staatssekretäre und höheren Reichsbeamten – und er erließ Gesetze, denen jedoch sowohl der Reichstag als auch der Bundesrat zustimmen mussten. Da der Kaiser den Reichstag jederzeit mit Zustimmung des Bundesrates auflösen konnte und da er als preußischer König zugleich eine starke Position im Bundesrat besaß, verfügte er gegenüber den beiden anderen Verfassungsorganen über erhebliche Druckmittel. 20 Tatsächlich dürften die beiden wichtigen Kaiser die ihnen zugewiesene Rolle sehr unterschiedlich ausgefüllt haben. Während Wilhelm I. dem Rat seines Kanzlers Bismarck folgte, scheint Wilhelm II. eine aktivere politische Rolle gespielt zu haben.21

Für eine gestaltende Politik in denjenigen Bereichen, die durch die Verfassung dem Reich zugewiesen worden waren, war die Zustimmung von Bundesrat und Reichstag notwendig. Das Reich war unter anderem für Zoll- und Handelswesen, Münz- und Bankwesen, Patent- und Eisenbahnwesen, Post und Telegraphie zuständig. Andere wirtschaftlich wichtige Bereiche, beispielsweise die Erhebung direkter Steuern, blieben Aufgaben der Bundesstaaten.22 Der Bundesrat setzte sich aus 58 Gesandten der 25 Bundesstaaten zusammen. In diesem Gremium hatte Preußen 17 Stimmen, Bayern sechs, Sachsen und Württemberg je vier, Baden und Hessen je drei, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig je zwei, die anderen 17 Staaten je eine Stimme.23 Da eine Verfassungsänderung im Bundesrat mit einer Sperrminorität von 14 Stimmen abgelehnt werden konnte, war eine Verfassungsreform gegen den Willen Preußens unmöglich.24 Der Bundesrat |20◄ ►21| beschloss mit einfacher Mehrheit über die dem Reichstag vorzulegenden Gesetze sowie über die Ausführungsbestimmungen zu von beiden Kammern beschlossenen Gesetzen.25 Damit nahm er eine zentrale Stellung im Gesetzgebungsprozess ein, denn der Reichskanzler legte Gesetze zunächst dem Bundesrat vor. Dort wurde ein für alle Bundesstaaten akzeptabler Gesetzesentwurf erarbeitet und erst dieser bereits von vielen Konflikten entlasteter Entwurf wurde dem Reichstag vorgelegt. Otto von Bismarck, der erste Kanzler des Deutschen Reichs, versuchte freilich die Macht der Fürstenvertreter im Bundesrat zu brechen, indem er das Reich und Preußen eng miteinander verzahnte. So wurden viele Staatssekretäre des Reiches zugleich preußische Minister im selben Geschäftsbereich. Die dem Bundesrat zugeleiteten Gesetzesvorlagen wurden somit zwar formal von den Staatssekretären des Reichs ausgearbeitet, faktisch unterstützten sie aber preußische Interessen. Diese Dominanz des preußischen Informationsmonopols führte freilich regelmäßig zu Konflikten mit den anderen Bundesstaaten.26

Da die Gesetzgebung von Bundesrat und Reichstag gemeinsam ausgeübt wurde, mussten beide Verfassungsorgane Gesetzentwürfen mehrheitlich zustimmen. 27 Im Gegensatz zum Bundesrat bestand der Reichstag nicht aus Gesandten der Bundesstaaten, sondern aus 397 in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl bestimmten Abgeordneten. Im Abstand von drei, ab 1888 fünf Jahren, wurden alle männlichen Staatsbürger, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten, an die Urnen gerufen. Da Gesetze, insbesondere das jährlich zu verabschiedende Reichshaushaltsgesetz, nur in Kraft treten konnten, wenn der Reichstag zustimmte, die Gesetzesvorlagen aber von einer Regierung kamen, die vom Kaiser ernannt und nicht vom Reichstag gewählt wurde, musste die Regierung für jedes Gesetzesvorhaben neue Mehrheiten im Reichstag – wie auch im Bundesrat – beschaffen. Daher war es hilfreich, wenn es gelang, durch geschickte Wahlmanipulation regierungsfreundliche Mehrheiten zu beschaffen. Der Wahlkampfdemagogie war somit im Kaiserreich Tür und Tor geöffnet – insbesondere auch, da die Parteien keine Regierungsverantwortung übernahmen.28

Parteien kamen in der Reichsverfassung nicht vor. Es bestand das Prinzip der Persönlichkeitswahl und bei Parlamentsabstimmungen unterlagen die Abgeordneten einzig ihrem Gewissen und keinem Fraktions- oder Parteizwang.29 Daher waren viele Abgeordnete anfangs nur schwach in parteiähnlichen Organisationen zusammengeschlossen. Bald sahen aber liberale wie konservative Politiker, dass sowohl die Sozialdemokraten wie auch das katholische Zentrum mit ihrer |21◄ ►22| strafferen Organisation große Erfolge bei den Wahlen erzielten, woraufhin sich auch die Liberalen und die Konservativen enger zusammenschlossen.30