Magisch geheimnisvoll wie Staub

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Magisch geheimnisvoll wie Staub
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Caroline Opatz, geboren am 08. Februar 2001 in Bremen. Sie hat schon als kleines Kind viele Geschichten geschrieben & kleine Bücher gebastelt und wollte gerne Autorin werden.

Caroline Opatz

MAGISCH

Geheimnisvoll

wie Staub

ROMAN

Casimir-Verlag

Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über:

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1. Auflage Ebook Dezember 2020

© by Casimir-Verlag, Carsten Krause, Unkel 2020

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen und fotomechanischen Nachdrucks, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Cover-, u. Umschlaggestaltung: ©VercoDesign, Unna

Lektorat: Marie Eichenberg & Carsten Krause

Satz & Layout: Carsten Krause

Hergestellt in Deutschland

ISBN 978-3-940877-33-8

www.casimir-verlag.com

Für meine Familie

1.

Es war ziemlich voll auf dem Weihnachtsmarkt. Überall standen Leute und redeten und lachten oder drängten sich durch die Menge und aus den zahlreichen Buden tönten Weihnachtslieder. Es roch nach gebrannten Mandeln, Lebkuchen, Punsch und kalter Winterluft.

Ich schlenderte zum Getränkestand und entdeckte hinter dieser noch eine weitere Reihe an Ständen. Nachdem ich mich erfolgreich durch das Gedränge bis zur Theke vorgeschoben hatte, wandte ich mich nun vorsichtig auf meinen Kakao achtgebend einem schmalen Gang zwischen zwei Läden zu und gelangte auf einen kleineren Weg. Meinen Kakao schlürfend schlenderte ich ein Stückchen weiter, da meine Mama möglicherweise doch auf mich wartete. Also kehrte ich durch den schmalen Gang zwischen den beiden Buden zurück, als ich plötzlich auf dem vereisten Boden ausrutschte.

Zum Glück konnte ich mich noch auffangen, aber mein rechter Arm wurde dabei ruckartig nach hinten gezerrt, so als würde jemand an mir ziehen, was mich ganz aus dem Gleichgewicht brachte. Ohne mich umzudrehen hielt ich mich an einem Mülleimer fest, um nicht hinzufallen. Aber mit einem Mal lockerte sich mein Arm wieder und ich fiel unsanft auf den harten Boden.

»Aua«, stöhnte ich und sah mich verdutzt um. Ich war auf meinem Ellbogen gelandet, der schrecklich schmerzte. »Was sollte das denn?«, rief ich wütend und wandte den Kopf, aber da war niemand. Ein junger Verkäufer vom Kuscheltierstand kam angelaufen und half mir hoch.

»Alles klar bei dir?«, fragte er besorgt. »Es ist hier schon ziemlich glatt!«

»Danke«, sagte ich und rieb mir den Ellenbogen. »Aber mich hat doch jemand festgehalten... Am Arm, um mich nach hinten zu ziehen!«

»Nein hier war aber niemand.« Der Verkäufer blickte sich genauso verwundert um wie ich. »Du bist bloß ausgerutscht und hattest dich tatsächlich etwas eigenartig nach hinten gelehnt.« Er grinste, obwohl ich das gar nicht witzig fand. »Das sah aus, als habe jemand an dir gezogen, da hast du recht. Ich dachte schon du wirst bewusstlos. Ich habe mich echt erschrocken.« Der Mann blickte mich jetzt wieder besorgter an. »Hast du dir denn gar nicht wehgetan?«

»Nein«, sagte ich etwas abwesend, obwohl das nicht stimmte, denn mein Ellenbogen tat immer noch ziemlich weh. Ich bedankte mich erneut bei dem Verkäufer und verabschiedete mich. Während ich mir den restlichen Schnee von meiner Hose klopfte, blickte ich mich ein letztes Mal zu allen Seiten um.

Seltsam.

»Linea!«, rief plötzlich eine bekannte Stimme und riss mich so aus meinen Gedanken. Ich wandte meinen Kopf zur Seite und entdeckte meine Mutter am Ende der schmalen Gasse zwischen den zwei Ständen.

»Linea, jetzt komm doch bitte! Wir wollen langsam nach Hause.« Ich seufzte und dachte mir insgeheim, dass ich es nicht gewesen war, die mit meiner seltsamen Freundin ewig lange, unnötige Gespräche geführt hatte. Als ich bei ihr angekommen war, machten wir uns gemeinsam auf den Weg zum Ende des Weihnachtsmarktes.

»Ich dachte, du wolltest dir noch was zu trinken kaufen«, merkte meine Mutter an und sah fragend auf meine leeren Hände. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich meinen Kakao nicht mehr in der Hand hielt. Ich musste ihn wohl bei dem Sturz verloren haben. Der Becher lag da sicher noch.

»Ach so ja, ich habe mir auch was gekauft. Einen Kakao, den habe ich aber schon ausgetrunken«, sagte ich unsicher und war ehrlich verwundert. Irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, den Becher verloren zu haben. Es war, als hätte ihn mir jemand weggenommen.

Wind kam auf und der Schnee knirschte unter unseren Stiefeln. Meine Mutter zog den Reißverschluss ihrer Jacke noch etwas höher, doch mir wurde auf einmal ganz heiß. Wo war der Becher hin?

Es war mir ein Rätsel, wie er verschwinden konnte. Er musste verschwunden sein und nicht verloren. Ich merkte wie mir ein Schauder über den Rücken lief und sich eine Gänsehaut ausbreitete. Trotzdem...

Abrupt blieb ich stehen und blickte zurück zum Weihnachtsmarkt. Ich musste noch einmal zurück und den Verkäufer vom Kuscheltierstand fragen, ob er wirklich nichts gesehen hatte. Möglicherweise hatte er beobachtet, wo der Becher gelandet war. Ich drehte mich um und rannte ohne ein Wort auf der asphaltierten Straße, die nach dem Kehren wieder zugeschneit war, Richtung Weihnachtsmarkt.

»Linea! Was machst du? Jetzt komm!«, rief meine Mutter hinter mir her.

»Bin gleich wieder da, habe nur was vergessen!«, antwortete ich bereits jetzt schon außer Atem und hastete so schnell, wie der rutschige Untergrund und die letzten Menschengruppen es ermöglichten, davon.

»Du bist in zehn Minuten wieder zuhause! Hast Du mich verstanden?«, rief mir meine Mutter nach, was ich jedoch nur mit einem Nicken beantwortete und ich bezweifelte, dass sie das gesehen hatte. Ich schlängelte mich zwischen den nun fast menschenleeren Buden hindurch immer weiter Richtung Getränkestand, wobei ich mich ganz dicht am Rand hielt, an dem kein Eis lag, um nicht wieder auszurutschen. Der Verkäufer vom Kuscheltierstand war gerade dabei seinen Stand zu schließen und wollte schon gehen, als ich auf ihn zukam und ihn aufhielt.

»Entschuldigung, ich muss Sie noch einmal etwas fragen.« Ich war völlig aus der Puste und stützte mich am Tresen seiner Bude ab.

»Erst einmal musst du durchatmen, ganz ruhig«, sagte der Verkäufer mit einem freundlichen Lächeln. Bis mein Atem sich allerdings wieder beruhigt hatte, wollte ich aber nicht warten. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, keuchte ich also. »Ich hatte doch vorhin einen Kakao in der Hand, oder?«

»Ja, ich glaube schon. Wieso ist das so wichtig?«, fragte er mich.

»Als ich zurückgegangen bin, bin ich doch hingefallen und davor wurde mein Arm nach hinten gezogen! In der Hand hatte ich aber noch den Kakao und als ich dann auf den Boden gefallen bin, hatte ich keinen Becher mehr in der Hand -«

»Okay ganz ruhig.« Hätte der Mann mich nicht unterbrochen, hätte ich wohl noch ewig weiter geredet. »Du bist dir also sicher, dass du ihn auf dem Rückweg in der Hand hattest?« Er schaute mich nachdenklich an. »Ich meine, das ist doch nicht so schlimm -«, fing er an, aber da unterbrach ich ihn.

»Mein Problem ist nicht der Kakao. Der ist mir völlig egal. Ich frag mich nur, wo er hingekommen ist«, erwiderte ich aufgebracht und war noch längst nicht in der Lage zu verstehen, dass der Verkäufer mich möglicherweise nicht so ernst nahm wie es zunächst den Anschein hatte.

»Also als ich zu dir kam, war da kein Becher und auch kein ausgelaufener Kakao. Tut mir leid, da kann ich dir leider nicht weiterhelfen.«

Ich seufzte, verabschiedete mich wieder von dem freundlichen Verkäufer und ging zwischen den beiden Buden hindurch, durch die ich gekommen war. Extra langsam, um nicht wieder auszurutschen. Und da passierte es wieder.

Als würde jemand wie wild an mir zerren, wurde mein Arm nach hinten gezogen und kurz darauf wieder losgelassen. Ich stolperte und stützte mich an einem Stehtisch, der am nächsten stand, ab. Mein Herz raste. Was zur Hölle war das? Ich sah mich nach hinten um, kam mir dabei aber endgültig dumm vor.

»Du gehst jetzt besser nach Hause. Es ist schon fast ganz dunkel. Und geh langsam, wenn du dir nicht noch alle Knochen brechen willst.«

Der Verkäufer wirkte ebenfalls etwas verwirrt, war jedoch besser darin, seine Verwunderung zu überspielen als ich. Er zwinkerte mir zu, als wäre das alles nur ein Spaß, und ging.

2.

»Er ist weg«, sagte der Weihnachtsengel leise. Er tauchte neben dem Weihnachtsmann auf, der nachdenklich vor dem Fenster stand und in das Schneetreiben starrte, und berührte mit zitternden Fingern seine Schulter. Der Weihnachtsmann fuhr herum und schaute seinen Engel fragend an.

 

»Was meinst du?«, fragte er.

Der Weihnachtsengel machte eine lange Pause und sein Gesicht begann einen immer traurigeren Ausdruck zu bekommen.

»Der Staub«, stammelte der Weihnachtsengel schließlich mit Tränen in den Augen.

»Nein«, erwiderte der Weihnachtsmann, ebenso leise, beinahe so als hätte er es gewusst. »Nein, Amaliel. Sag, dass das nicht wahr ist!« Er fasste sich an die Stirn und sein Blick fuhr zerstreut durch den Raum, ehe er sich auf einen Stuhl fallen ließ. Es waren noch weniger als zwei Wochen bis Heiligabend und wie es bis jetzt aussah, galt es bis dahin ein weiteres, riesiges Problem zu beseitigen.

~

»Es tut mir leid! Mir ist noch eingefallen, dass ich das Weihnachtsgeschenk für Finn beim Getränkestand liegengelassen hatte«, rief ich, noch während ich mir die Schuhe auszog. Das war natürlich nicht wahr, aber es war das Einzige, was mir auf die Schnelle einfiel. Ich setzte mich zu meinen Eltern und meinem kleinen Bruder an den Tisch. Meine Mutter tat mir ein Stück Lasagne auf und wandte sich dann meinem Bruder zu.

»Was hast du ihm denn gekauft?«, fragte meine Mutter, während sie Gabel für Gabel in den stets sperrangelweit geöffneten Mund von Finn schaufelte.

»Ein Kuscheltier«, antwortete ich ausweichend und fühlte mich unglaublich schlecht. Dass ich wegen dieser Merkwürdigkeiten auch noch anfangen musste so unnötig zu lügen! Finn spielte mit seinem Essen herum und lenkte dadurch erfolgreich von meinem Herumgestammel ab.

Ich beobachtete Finn und meine Mutter nachdenklich, dann schwenkte mein Blick nach draußen. Alles war dunkel und die Straßenlaternen warfen nur ein kaltes, hässliches Licht auf die Straßen. Was für ein gruseliger Tag.

Nach dem Abendessen räumte ich mit meinen Eltern den Tisch ab, um dann meinem Bruder noch etwas vorzulesen. Möglicherweise verstand er nicht viel, mir machte es aber Spaß und brachte mich vor allem heute auf andere Gedanken, der wichtigste Aspekt an der Sache.

Als ich schließlich auch in meinem Bett lag, kam ich nicht umhin, erneut an die Ereignisse von heute zu denken. Vielleicht war an der Stelle, an der ich ausgerutscht war, ja ein Loch.

So was wie ein Schwarzes Loch im Weltall. Und in dem verschwanden andauernd Sachen.

Aber gleich darauf schob ich den Gedanken wieder weg. Das war ja Blödsinn, viel zu absurd, aber die Idee packte mich dennoch mit eigenartiger Hartnäckigkeit. Möglicherweise sollte ich morgen einfach noch einmal auf den Weihnachtsmarkt gehen und etwas durch das unsichtbare Portal werfen. Dann verschwand es vielleicht. Ich musste selbst ein bisschen grinsen bei dem Gedanken. Ich zog mir meine Decke bis ans Kinn, knipste das Licht aus und kuschelte mich in mein Kissen. Schluss mit dem Schwachsinn.

Aufgrund eines enormen Schneesturms setzte mich mein Vater heute direkt vor der Schule ab und fuhr dann weiter zur Arbeit. Es war kälter als in den letzten Tagen. Eine dicke Schneeschicht inklusive unberechenbarer Schneewehen, denen der Hausmeister, mit seiner Schneeschippe bewaffnet, längst nicht mehr Herr werden konnte, lag vor der Schule und es drohte mehr zu werden. Es gongte bereits, als ich die Treppen zu meinem Klassenraum erklomm. Gerade rechtzeitig vor meiner Lehrerin huschte ich in den Klassenraum und setzte mich neben Mette ans Fenster. Als ich meine beste Freundin sah, kam mir der Gedanke, sie in die Geschehnisse des gestrigen Tages einzuweihen, immerhin nutzte ich sie als Ausrede für meine Eltern.

Ich hatte meinen Eltern nämlich heute morgen gesagt, dass ich nach der Schule mit zu Mette gehen und dort essen wollte. Stattdessen hatte ich allerdings vor noch einmal zum Weihnachtsmarkt zu gehen.

~

Mein Herz schlug ziemlich schnell. Schneller als erwartet. Ich war nervös, aber warum genau konnte ich mir selbst nicht erklären. Ich hatte Mette nichts erzählt, aber jetzt wünschte ich mir, ich wäre nicht allein.

Da war ich also an meinem »Schwarzen Loch«. Wie lächerlich das klang. Dennoch musste ich mich überwinden, um durch den schmalen Gang zwischen den zwei Buden hindurchzugehen.

Etwas hektisch kramte ich einen Bleistift aus meiner Schultasche und warf ihn probeweise ein Stück weit nach vorne. Nichts passierte. Ich wagte mich einige Schritte weiter vor, drehte mich und ging wieder zurück, ohne jedoch einen Stoß oder Schubser zu spüren.

Ich sah mich noch einmal um. Eigentlich sah diese Stelle ganz normal aus. Ich war es, die hier wie bescheuert Stifte auf den Boden schmiss. Hatte ich vielleicht gehofft, dass der Stift verschwand? Das wäre auf jeden Fall aufregend gewesen. Allerdings befand sich vor mir offensichtlich doch kein unsichtbares Loch, welches Sachen verschluckte. Mir blieb nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen.

Es war immer noch eiskalt, aber der gestrige Sturm war vorüber und ein blauer, wolkenloser Himmel erstreckte sich über der Stadt. Wieder einmal stand ich vor dem Getränkestand und trat unschlüssig in die Gasse. Offenbar war ich den Gedanken von einem schwarzen Loch immer noch nicht losgeworden.

Im selben Moment kam wieder mehr Wind auf und ein schrecklich lautes Rauschen ertönte. Erschrocken wirbelte ich herum, aber keinen schien der plötzliche Sturm hier zu interessieren. Niemand von den Marktbesuchern sah so aus, als würde ihn der heftige Wind und das enorme Rauschen stören oder als würden sie es auch nur mitbekommen.

Etwas überfordert schüttelte ich den Kopf, als könnte ich die Geräusche auf diesem Weg loswerden, und wandte mich dem Markt zu, da packte es mich. Es war wie eine Anziehungskraft, von der ich mich nicht losreißen konnte. Ich wurde nach vorn, dann zur Seite gezerrt. Meine Versuche, mich irgendwo festzuhalten, scheiterten. Es war, als entglitten mir alle Gegenstände, noch bevor ich sie berührt hatte. Panisch schloss ich die Augen und merkte, wie ich herumgewirbelt wurde. Immer wilder wurde ich geschüttelt und ich spürte, dass ich den Boden unter den Füßen verlor.

Ich fiel unsanft auf den Boden, wobei mein Gesicht im Schnee landete. Sofort fing die Haut unangenehm an zu brennen. Langsam hob ich den Kopf und schob meine Mütze zurecht.

Ich sah mich um. Es war eine Art Straße oder Gasse, in der ich gelandet war. Sie war nicht sehr breit und es war auch keine Menschenseele zu sehen. Ein Anflug von Angst kam in mir auf. Etwas völlig Verrücktes war gerade passiert und ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, was. Ein magisches, statt eines schwarzen Loches?

Etwas steif rappelte ich mich auf. Vor mir erstreckte sich eine Art Einkaufsgasse, mit dem Unterschied, dass es keine Geschäfte waren, die sich nebeneinander reihten, sondern kleine Häuschen mit Werkstatt-Charakter. Unsicher näherte ich mich den Zimmerchen. Es schienen tatsächlich kleine Werkstätten zu sein, überall gab es Arbeitsbänke, Bohrmaschinen, Hämmer, Kisten und herumliegende Schrauben. Die Gasse war nicht sehr lang, was sie umso geheimnisvoller machte.

So unbemerkt wie möglich wanderte ich weiter und schaute dabei durch die Schaufenster in alle Räume hinein, die aber sehr dunkel waren und mehr als ein paar Werkzeug nicht zu erkennen waren An manchen Eingängen hingen Fackeln, die alles in ein gemütliches Licht tauchten. Meine Angst und Unsicherheit schwanden, als hätten dieses Licht und der Ort eine beruhigende Wirkung auf mich, auch wenn ich immer noch etwas ziellos war. Am Ende der Gasse blieb ich unschlüssig vor einer Holztür stehen. Ein rotes Schild mit goldenen, verschnörkelten Buchstaben markierte das Haupthaus.

Haupthaus? Wo zum Teufel war ich hier gelandet? Ich zögerte erst, doch dann klopfte ich an. Es regte sich nichts. Konnte es denn sein, dass der Ort hier trotz brennender Fackeln völlig verlassen war? Gerade als ich mich wieder umdrehen wollte, hörte ich ein Klappern hinter der Tür. Mit einem Ruck wurde sie geöffnet und ein kleiner Mann, der mir bestimmt nur bis zum Bauchnabel reichte, stand vor mir. Er blickte mich mit leuchtend grünen Augen an und ein Schmunzeln breitete sich auf seinem runden Gesicht aus.

»Was machst du denn hier?«, fragte er freundlich und so als könnte er es kaum glauben, dass ich vor ihm stand. Und vor allem, so als würde er mich kennen.

»Ich fürchte, das weiß ich genauso wenig wie Sie«, antwortete ich und wich verunsichert zurück.

»Ein Kind ist hier!«, rief der Mann offenbar zu den anderen Mitbewohner des Hauses. Aufgeregt sprang er zurück und schien sich nur schwer davon abhalten zu können, begeistert ein Rad zu schlagen. Aus einer Tür am Ende des Raumes kamen noch mehr solcher kleinen, aufgeregten Männchen gelaufen. Sie alle waren kein Bisschen größer als ihr Kumpel und wuselten mindestens genauso wild durch den Raum. Nach ein paar Sekunden im unübersichtlichen Chaos bauten sie sich vor mir in einer Reihe auf, setzten rote, grüne und blaue Mützen auf und fingen an zu singen. Ich hätte am liebsten eine Kamera herausgeholt und diese filmreife Szene aufgenommen, wobei mir der Gedanke kam, dass das hier nur ein Streich mit versteckter Kamera sein könnte. Irgendwie hoffte ich das sogar sehr.

»Kindelein, oh Kindelein, sei bei uns willkommen...«

Verlegen schaute ich von einem zum anderen sah ihnen dabei zu, wie sie voller Leidenschaft sangen.

Als sie fertig waren, verbeugten sie sich nacheinander. Mit einem breiten, stolzen Grinsen sahen sie zu mir auf und ich konnte nicht anders als zu applaudieren.

»Vielen Dank, das war wirklich schön«, gestand ich und musste etwas beschämt lachen. Ich wurde jedoch direkt vor der nächsten unangenehmen Stille durch ein Poltern von der Decke gerettet und ich schaute erschrocken nach oben.

»Keine Angst, das ist bloß Amaliel«, sagte der dickste der kleinen Männer.

»Amaliel?«, wiederholte ich verwundert und wurde von den kleinen Männern herein gewunken. Ich gehorchte und trat behutsam ein.

»Ja«, erwiderte einer mit einer besonders piepsigen Stimme, was zugegebener Maßen ziemlich süß klang. »Amaliel, unser Weihnachtsengel.«

Ein Weihnachtsengel? Wollten die mich etwa auf den Arm nehmen? »Ja genau und ich bin der Weihnachtsmann«, sagte ich ironisch. Die Männer blickten mich jedoch vollkommen verwirrt an. Offensichtlich verstanden die keinen Spaß. Zumindest nicht solchen, wo sie doch vorher ganz lustig gewesen sind. »Das war doch bloß ein Witz«, versuchte ich die Situation zu retten.

»Das hätten wir dir auch nicht geglaubt, denn der Weihnachtsmann liegt hinter der Tür dort und schläft«, sagte einer und wies auf die eine Tür am Ende des Raumes.

Jetzt war ich es, die total verwirrt aussah. Ich lachte vorsichtig und mir war längst klar, dass das hier kein Witz war. »Der Weihnachtsmann?«

»Ja, und wir sind seine Weihnachtskobolde: Michi, Mick, Muffel, Mattis, Maxi und Mups. Amaliel ist unser Weihnachtsengel. Sie hat nur leider momentan viel zu tun. Und wie schon gesagt, der Weihnachtsmann schläft gerade. Weihnachtsmann zu sein ist auch nicht besonders leicht, weißt du?«

Ich sah die sechs Männer völlig irritiert an und versuchte mich zu beruhigen.

Der Weihnachtsmann. Ok. Gut.

»Hier wohnt also der Weihnachtsmann? Ich bin elf Jahre alt. Da glaube ich doch nicht mehr an den Weihnachtsmann.«

Gerade in diesem Moment kam ein Engel die Treppe herunter geflogen, was mich nun vollends davon überzeugte, dass etwas schiefgegangen war mit meinem Kopf. War ich gestürzt und träumte? War ich vielleicht im Koma?

Der Engel war in etwa so groß wie die kleinen Kobolde. Er trug ein weißes Kleid und seine Haare fielen in goldenen Locken den Rücken hinunter. Zwischen den Haaren stand nach links und rechts jeweils ein Flügel ab. Genauso hatte ich mir einen Weihnachtsengel immer vorgestellt.

»Siehst du, das ist Amaliel«, sagte einer der Kobolde, dessen Namen ich mir jedoch nicht gemerkt hatte.

»Ein Kind!«, rief Amaliel erstaunt. »Ich wusste du wirst kommen.«

Sie flog direkt auf mich zu, erst kurz vor mir bremste sie ab und blickte mich aus hellblauen Augen an. Dann streichelte sie mir mit ihrer zarten Hand sanft über die Wange und lächelte.

»Du wusstest, dass ich kommen würde?«, fragte ich unsicher und wich einige Schritte zurück, doch da war bereits die Haustür.

»Naja, also ich hatte eher gehofft, dass du kommen wirst. Aber ist auch nicht so wichtig. Wir freuen uns natürlich, dass du da bist.«

 

»Ja, weil wir -« Doch weiter kam Michi nicht, denn da erntete er schon einen vorwurfsvollen Blick von Amaliel.

»Es ist alles in bester Ordnung. Fühl dich bei uns in Joulumaa der Welt von Weihnachten herzlich eingeladen. Komm doch endlich richtig rein.« Ich war in Joulumaa? Im Moment wunderte mich das gar nicht so sehr und als ich die Weihnachtskobolde ansah, die für mich erwartungsvoll zurücktraten, bestätigte sich diese Einstellung in mir.

Weihnachtskobolde!

Weihnachtsengel!

Weihnachtsmann!

Was auch immer geschehen war, ich war in Joulumaa.

Im Haus sah alles sehr gemütlich aus. In der Mitte stand ein langer Tisch, der mit acht Tellern Keksen, Lebkuchen und Marzipan sowie einer großen Teekanne gedeckt war. Amaliel fügte noch schnell einen neunten Teller hinzu, während ich mich weiter umsah. Vor dem langen Fenster stand ein ebenso langes Regal, mit Bildern, Kerzen, Büchern oder Schokoladenweihnachtsmännern darauf. Auf der anderen Seite des Raumes führte eine Treppe aus Holz nach oben und links daneben stand ein Herd. Es gab auch noch zwei weitere Türen, die jedoch geschlossen waren. Auf der rechten Tür stand mit goldener Schrift das Wort »Weihnachtsmann« geschrieben.

Ich blinzelte einige Male, um mir dem wirklich sicher zu sein und überlegte immer noch, ob das alles vielleicht nur ein Scherz war.

Ein Kobold nahm mir meine Jacke ab und legte sie auf einen Stuhl. Ein anderer bot mir einen Platz am Tisch an und ich setzte mich.

»Ich werde mal dem Weihnachtsmann Bescheid sagen, dass du da bist. Er wird es nicht glauben können«, sagte ein weiterer Kobold und huschte davon. Er klopfte an die Tür des Weihnachtsmannes und kurze Zeit später öffnete sich die Tür knarzend.

Ein großer, kräftiger Mann trat heraus.

Er hatte silbergraues, dickes, schulterlanges Haar und einen Bart. Er sah genauso aus wie ich mir den Weihnachtsmann immer vorgestellt hatte und wie man ihn von Bildern und Büchern kannte. Eigentlich glaubte ich gar nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber jetzt musste ich es wohl tun. Das konnte nicht möglich sein. Der Weihnachtsmann kam mit großen, schweren Schritten auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen.

»Was für eine Ehre.«

Seine Stimme war tief und grummelig und um meine Überforderung noch weiter zu verstärken, verbeugte er sich auch noch vor mir. Ich spürte wie mir die Röte in die Wangen stieg und mich plötzlich alle anzustarren begannen, während ich versuchte, einfach ganz zu wirken. Ich stand auf und machte einen kleinen Knicks.

»Ich bin Linea«, sagte ich etwas unsicher.

»Das wissen wir«, erwiderte Amaliel und lächelte immer noch ihr sanftes Engellächeln.

Ich runzelte die Stirn. »Was?«

»Natürlich wissen wir, wer du bist. Wir kennen jedes einzelne Kind auf dieser Welt. Und du bist das einzige Kind auf dieser großen Welt, was die Ehre besitzt, uns besuchen zu dürfen«, erklärte der Weihnachtsmann und setzte sich zu uns allen an den Tisch. Ich tat es ihm gleich.

»Aber warum ich? Und warum heute? Es klingt ja beinahe so, als wäre es unmöglich euch besuchen zu können.«

»Das ist Schicksal, mein liebes Kind«, sagte ein Kobold. »Du bist das Kind, das uns helfen kann.« Ich starrte den Weihnachtskobold mit weit aufgerissenen Augen an. Meine Gedanken begannen sich auf einmal nur noch im Kreis zu drehen.

»Ja, ist ja schon gut. Wir wollen Linea ja nicht noch mehr verwirren«, sagte der Weihnachtsmann und goss mir heißen Kakao in eine bunte Tasse. Ich bedankte mich und trank einen Schluck.

»Ich verstehe nur nicht, wie ich hierher gelangt bin«, begann ich, doch dann stockte ich plötzlich, denn in diesem Augenblick entdeckte ich einen Kakaobecher auf der Fensterbank. Das war doch mein Kakaobecher, der da stand!

»Es gibt bei euch eine Art unsichtbares Loch oder auch unsichtbares Portal, welches hierher führt. Nur Kinder und einige Gegenstände können zu uns gesogen werden. Das Loch würde Erwachsene gar nicht bemerken. Und du warst diejenige, die zu uns kommen sollte«, erklärte mir Amaliel und stopfte sich ein Marzipanbällchen in den Mund.

»Aber ich war gestern auch an dieser Stelle und da wurde ich nicht hergezogen und neulich habe ich nur meinen Becher in dem Loch verloren, ohne selber darin zu verschwinden«, sagte ich und zeigte auf den Becher auf der Fensterbank.

»Das lag wahrscheinlich daran, dass wir gestern den Durchgang von eurer Welt zu dieser Welt geschlossen haben. Gestern war es fürchterlich stürmisch bei euch und das kann dazu führen, dass kleine Gegenstände zu uns gelangen, so wie zum Beispiel dein Kakaobecher. Es könnte aber auch passieren, dass der Sturm hier bei uns Schaden anrichtet. Das wollen wir verhindern«, erzählte der Weihnachtsmann. »Heute war der Durchgang wieder offen. Als du deinen Kakaobecher verloren hast, hatte das Loch wohl einfach nicht genug Kraft, um dich mitzureißen.«

So langsam fing ich an, alles zu verstehen. Aber so richtig glauben konnte ich noch nicht, dass ich mit dem Weihnachtsmann, Kobolden und einem Weihnachtsengel an einem Tisch in Joulumaa saß.

Das Telefon, welches neben Mette auf dem Tisch lag, klingelte und sie ging ran.

»Hallo Mette. Hier ist Lineas Mutter. Ist Linea vielleicht bei dir?«, fragte sie besorgt.

»Nein, bei mir ist sie nicht«, antwortete Mette.

»Sie hat mir nicht gesagt, wo sie hinwollte und an ihr Handy geht sie auch nicht. Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«

»Das stimmt. Ich werde sie versuchen zu erreichen und melde mich wieder«, sagte Mette und verabschiedete sich.

Wo war Linea nur und warum war sie nicht erreichbar?