Erbe wider Erwarten

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Erbe wider Erwarten
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CAROLINE MARTIN

ERBE WIDER ERWARTEN

Impressum

Originalausgabe September 2020

Text © Caroline Martin

Copyright © 2020 der E-Book-Ausgabe by Verlag Peter Hopf, Minden

Covergestaltung: etage eins, Jörg Jaroschewitz

Titelillustration © ginasanders / de.depositphotos.com

Korrektorat: Thomas Knip

ISBN ePub 978-3-86305-298-0

www.verlag-peter-hopf.com

Alle Rechte vorbehalten

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Erbe wider Erwarten

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

CAROLINE MARTIN
Erbe wider Erwarten

Regionalkrimi

Prolog

Alles war dunkel um ihn herum. Die Feuchtigkeit der Nacht kroch in jede Faser seines Körpers, die Schmerzen wurden stärker, und er spürte, wie ihm die Kräfte schwanden. Er musste sich ausruhen, aber wohin sollte er gehen?

Angestrengt starrte er in die Dunkelheit und versuchte zu erkennen, wo er war. Die Silhouetten der Bäume erhoben sich drohend um ihn herum und Zweige knackten unter seinen Füßen, während er jetzt mit dem Gefühl, die Orientierung völlig verloren zu haben, vorwärts stolperte. Wie lange er schon herumgeirrt war, um sein Ziel zu finden, wusste er nicht mehr. Der Boden, auf den er jetzt den nächsten Schritt setzte, fühlte sich plötzlich anders an, als sei er frisch umgegraben worden. Die Luft war feucht und kühl, ungewöhnlich für die Nacht, die auf einen so schönen Frühsommertag gefolgt war.

Er fror. Müdigkeit überfiel ihn und legte sich über ihn wie ein schwerer Mantel, der ihn in die Knie zu zwingen schien.

Er verfolgte, wie der Mond sich einen Weg durch die dichte Wolkendecke bahnte. Außer Atem blieb er stehen und schaute sich um. Die Umrisse einer Hofanlage zeichneten sich im trüben Mondlicht ab. Endlich! Er blieb erschöpft stehen und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Licht schimmerte durch die Fenster und der leichte Wind trug Stimmengewirr und Tellerklappern zu ihm herüber. Dort würde er Hilfe finden.

Als er sich wieder in Bewegung setzte, durchzuckte ihn der Schmerz mit solcher Wucht, dass ihm fast die Sinne schwanden. Keuchend schnappte er nach Luft, aber seine Lungen wehrten sich, und verzweifelt versuchte er, Ruhe zu bewahren. Durchhalten, es ist ja nicht mehr weit!

Alles würde gut, wenn er nur dieses Stück noch schaffte.

Die kürzeste Strecke zum Haus führte quer durch den großen Garten. Er stolperte weiter, machte eine Pause und zwang sich, weiterzugehen. Das Gebäude rückte näher, bald … bald würde er seinem Bedürfnis nach Schlaf endlich nachgeben können.

Die Umrisse eines Schuppens tauchten plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm auf. Ein Seufzer der Erleichterung kam über seine Lippen, vielleicht könnte er dort ein wenig ausruhen. Im nächsten Augenblick jedoch verfing sich sein rechter Fuß in einer Anhäufung von Rankengewirr, das er, nach vorn gebeugt und den Blick auf das Gemäuer gerichtet, nicht rechtzeitig bemerkt hatte. Er stolperte und fiel, während der Boden ächzend unter ihm nachgab und er unaufhaltsam ins Rutschen geriet.

Augenblicke später verlor er das Bewusstsein …

1.

Es war schon nach Mitternacht, aber keiner der Gäste machte Anstalten, endlich aufzubrechen. Im Gegenteil. Alexandra konnte ein Gähnen nur mühsam unterdrücken. Wie immer war es ihr ein Anliegen gewesen, die Weinprobe zu etwas Besonderem zu machen – jeder Gast sollte sich ganz persönlich von ihr angesprochen fühlen. Ausgestattet mit Witz, Entschlossenheit, Eloquenz und einem fundierten Fachwissen verstand sie es, die Gäste nicht nur zu beeindrucken, sondern auch in ausgiebigem Umfang zum Kauf ihrer – zugegebenermaßen – ausgezeichneten Weine zu motivieren.

Der Schwerpunkt heute lag auf den Weinen der Toskana, die sich, frisch aus ihrer Heimat importiert, dicht an dicht in Tonröhren gelagert, an den alten Ziegelmauern entlang in die Höhe stapelten. Erst letzte Woche noch war Alexandra in Italien unterwegs gewesen, um die Weine auf den Gütern ihrer Wahl zu verkosten und entsprechende Mengen zu ordern. Der alte Gewölbekeller des Hofes war für Präsentationen wie geschaffen, was sich inzwischen immer mehr herumgesprochen hatte, sodass sich die Weinproben steigender Beliebtheit erfreuten.

Gleich nachdem Alexandra und ihre Freundin Marie die zum Kauf stehende alte Hofanlage im Töpferort Adendorf, im sogenannten malerischen Drachenfelser Ländchen, zum ersten Mal gesehen hatten, war ihre Entscheidung klar gewesen. Der alte, ein wenig verfallene rote Backsteinbau, der um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert herum gebaut worden war und inzwischen unter Denkmalschutz stand, forderte sie geradezu dazu heraus, ihn in seiner alten Schönheit wieder erstrahlen zu lassen.

Der Hof bestand aus einem zweigeschossigen Haupthaus, an dessen Seitenfront acht hohe Kassettenfenster symmetrisch neben- und untereinander angeordnet waren, von denen die unteren vier mit Fensterläden ausgestattet waren. Die Mitte des Gebäudes wurde horizontal durch einen dekorativen Sims unterteilt, der sich unterhalb des Daches noch einmal wiederholte. Im danebenliegenden niedrigeren Anbau befanden sich die Eingangstür und ein großes zweiflügeliges, nach oben in einem Halbrund mündendes Tor, das den Weg zum Innenhof mit seinem hinteren Gebäudetrakt freigab, in dem das Geschäft und beide Wohnungen untergebracht waren. Auf dem großen, wild bewachsenen Grundstück mit dem alten Baumbestand mutete das ganze Ensemble in seinem Gesamteindruck so romantisch an, dass die Entscheidung, es zu kaufen und liebevoll zu restaurieren, leicht gefallen war. Und als das Gutachten über die Bausubstanz ebenfalls positiv ausgefallen war, hatten die beiden Freundinnen ihren Plan in die Tat umgesetzt.

Innen und außen war aus dem alten Gemäuer nun ein richtiges Schmuckstück geworden. Die Wände des offenen Innenhofes waren weiß getüncht und Naturklinkersteine zu einem Weg verlegt worden, der durch eine mediterran anmutende Pflanzenvielfalt mit knospenden Oleanderbüschen in orange, weiß, rosa und rot sowie zwei mittelgroßen Olivenbäumen zum eigentlichen Haupteingang des Geschäftes führte. Es kam in der Tat ziemlich selten vor, dass Kunden, die dieses Tor einmal durchschritten hatten, unverrichteter Dinge wieder von dannen zogen. Das angenehme Ambiente regte zum Kauf an, was sowohl Alexandras als auch Maries Schönheitssinn zu verdanken war.

Die Innenausstattung war von Marie übernommen worden, deren Auge für ausgefallene und harmonische Dekorationen zum Tragen gekommen war.

Edle Naturmaterialien dominierten, angefangen bei den ersteigerten alten Fliesen für die Fußböden bis hin zu den in frischen Tönen gehaltenen Stoffen, die zu bodenlangen Vorhängen und Tischdecken verarbeitet worden waren. Platz gab es darüber hinaus genug, sodass sowohl Alexandra als auch Marie je eine der beiden großzügigen Wohnungen im angebauten Seitentrakt des Gebäudes bezogen, die durch die teilweise freigelegten Balken und die naturfarbenen Dielenböden eine behagliche Landhausatmosphäre verbreiteten.

Die reizvolle, waldreiche Landschaft, die den Blick auf das Siebengebirge freigab, war ein äußerst beliebtes Naherholungsziel, das gerade um den Ort Adendorf herum eine Vielzahl von Sehenswürdigkeiten zu bieten hatte. Ein besonderes Schmuckstück war die alte Wasserburg der Freiherren von Loe, deren Anfänge auf das Jahr 1337 zurückgingen. Marie und Alexandra hatten die Gegend zum ersten Mal im Rahmen des jährlich stattfindenden Wandertages, der von Bonns größter Zeitung organisiert wurde, entdeckt.

Das romantische Örtchen, in dem wegen der Tongrube vor allem das Töpferhandwerk zu Hause war, zog viele Besucher an, die besonders am Wochenende ihre Wanderungen durch die unberührte Natur mit einem Besuch der zahlreichen Töpferstuben krönten. Seitdem es den Weinhof der beiden Frauen gab, war eine weitere Attraktion dazugekommen, die sich schnell herumgesprochen hatte. Und das Engagement der Freundinnen tat ein Übriges.

Alexandra ließ jetzt ihren Blick durch den Raum schweifen. Der alte, lange Refektoriumstisch aus dunklem Holz schien sich – in einem malerischen Durcheinander – unter angebrochenen Flaschen, Gläsern und benutzten Tellern zu biegen, die immer noch mit den Resten toskanischer Vorspeisen gefüllt waren. Rote Bruchsteinwände atmeten in ihrem gemauerten Halbrund die Atmosphäre des Vergangenen, in dem sich die modernen, hellen Stühle im ersten Moment als Kontrast ausnahmen, um sich dann jedoch harmonisch mit dem Alten zu verbinden.

 

»Frau Lindner, Sie haben doch eben die Geschichte des Gallo Nero, des schwarzen Hahns, des Erkennungszeichens des Chianti Classico, erwähnt!« Die ältere Dame schaute interessiert, während sie herzhaft in eine Scheibe toskanischer Salami biss, sodass ein schwarzes Pfefferkorn sich löste und über den Tisch sprang. Die Wangen der Fragestellerin röteten sich und sie kicherte verlegen.

Alexandra griff nach ihrem Glas, in dem der rote Chianti funkelte, ließ den Wein kreisen, roch daran und nahm einen genießerischen Schluck. Die anderen folgten ihrem Beispiel.

»Die schöne Geschichte möchte ich Ihnen nicht vorenthalten«, sagte sie lächelnd. »Also: Vielleicht wissen Sie, dass es im Mittelalter eine starke Konkurrenz zwischen den toskanischen Städten Florenz und Siena gab, in deren weitläufiger Umgebung sich das Anbaugebiet des Chianti Classico befindet. Da damals die Grenzgebiete der Städte nicht eindeutig festgeschrieben waren, beschloss man, dieser Tatsache abzuhelfen und zwei edle Ritter nach dem ersten Hahnenschrei aus ihren Heimatstädten aufeinander zureiten zu lassen. Und dort, wo sie sich träfen, wollte man schlussendlich die Grenze ziehen.« Alexandra machte eine Pause, um die Spannung ein wenig zu erhöhen. »Die Sieneser taten alles, um einen schönen, weißen Hahn aufzupäppeln, während die Florentiner ihren kleinen schwarzen Hahn nur wenig fütterten, sodass er am besagten Morgen schon sehr früh krähte und der florentinische Ritter sich auf den Weg machte. Das führte dazu, dass er dem Sieneser zeitlich weit voraus war und diesen in Fonterutoli traf, das nur ungefähr 23 Kilometer von Siena entfernt liegt.« Alexandra legte eine Pause ein und schaute in die Runde. »Somit fiel ein großes Gebiet, das schließlich fast das ganze Chianti-Classico-Gebiet ausmachte, an die Florentiner, und seitdem ziert der schwarze Hahn die Flaschen dieses wunderbaren Weines.«

Applaus erhob sich und Alexandra hob noch einmal lächelnd ihr Glas, in dem der Chianti in dunklem Rot leuchtete: »Möge er Ihnen jetzt besonders gut schmecken!«

Es dauerte noch weitere zwei Stunden, bis der letzte Gast sich auf den Heimweg machte, und Alexandra warf abschließend einen zufriedenen Blick auf die Bestellungen.

»Unsere Themenabende machen sich gut«, rief sie in die benachbarte Gewölbeküche hinein, während sie die leer gegessenen Teller einsammelte. Ihre Freundin Marie Sander streckte den Kopf in den Raum. »Ich bin so froh, dass wir beide die Idee hatten, zu den Weinen auch Spezialitäten aus der jeweiligen Region anzubieten. Das ist viel gemütlicher, und die Leute fangen sofort an, miteinander zu reden, auch wenn sie sich gar nicht kennen. Hast du das auch bemerkt? Und das Kochen macht mir ja sowieso großen Spaß.«

Marie wischte sich lachend ihre nassen Hände an der Schürze ab und trat jetzt zu Alexandra an den großen Refektoriumstisch, um ihr beim Abräumen zu helfen.

Ein größeres Kontrastprogramm, als die beiden Frauen es in ihrer äußeren Erscheinung boten, konnte man sich kaum vorstellen. Alexandra Lindner, die groß, schlank und sportlich war und manchmal ein wenig burschikos daherkam, fuhr sich erschöpft mit der Rechten durch ihr kurzes, naturblondes Haar.

»Komm, lass uns zum Abschluss noch ein schönes Glas Wein zusammen trinken«, schlug Marie vor, während sie schon wieder auf dem Weg in die Küche war, um die angebrochene Flasche Grauburgunder aus dem Kühlschrank zu holen.

»Aber wirklich nur ein Glas!«, rief Alexandra ihr ergeben nach. Marie machte gern die Nacht zum Tage, aber heute fühlte Alexandra sich dazu außerstande. Im Gegensatz dazu wippten Maries dunkle Locken sogar noch nach einem so ausgefüllten Tag wie diesem bei jedem Schritt unternehmungslustig auf und ab, als sie jetzt den Raum mit der vor Kälte perlenden Flasche in der Hand wieder betrat.

Alexandra musste unwillkürlich lächeln. Quirlig, klein und ein wenig rundlich war Marie mit ihrem Puppengesicht und ihrer Fröhlichkeit, die sie nur sehr selten verließ, der Inbegriff der guten Laune. Durch ihre Offenheit und ihre warmherzige Ausstrahlung schaffte sie es immer wieder, alles und jeden um sich zu scharen – es schien so eine Art Naturgesetz zu sein, dass man sich in ihrer Gesellschaft einfach wohlfühlte.

Alexandra und Marie kannten sich seit der gemeinsamen Schulzeit und waren eigentlich immer schon Freundinnen gewesen, bis auf einige Jahre, in denen sie sich aus unerklärlichen Gründen aus den Augen verloren hatten. Damals war es Marie gewesen, die auf Alexandras Briefe nicht mehr reagiert hatte, bis diese es schließlich aufgab. Sieben Jahre hatte ihre Pause gedauert, bis sie sich im Rahmen eines Klassentreffens zum ersten Mal wieder begegneten und beidseitig das Gefühl hatten, es sei inzwischen überhaupt keine Zeit vergangen. Marie tat nun ihrerseits alles, um den Kontakt zu ihrer Freundin aufrecht zu halten, und seit einem Jahr führten die beiden inzwischen ihren gemeinsamen Weinhandel, wobei sie alle Kraft und Energie in den Neubeginn und den Auf- und Ausbau ihres Geschäftes steckten, sodass für ein ausgefülltes Privatleben im Moment wenig Zeit blieb, was aber keine von beiden beunruhigte.

Als Alexandra jetzt über den Hof zum Nebengebäude ging, in dem ihre Wohnung lag, blieb sie auf halbem Wege stehen, um sich vor lauter Müdigkeit zu strecken. Sie gähnte laut und atmete die frische Nachtluft mit Genuss ein, als sie unvermittelt stutzte. So frisch, wie sie erwartet hatte, roch es nicht, im Gegenteil. Alexandra versuchte es noch einmal und verzog augenblicklich das Gesicht zu einer Grimasse. Irgendein Bauer aus der Umgebung schien es zu gut mit der Düngung seiner Felder gemeint zu haben, igitt! Sicher, auch das gehörte zum Landleben, auch wenn sie sich nur schwer daran gewöhnen konnte. Erschöpft legte sie sich endlich ins Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen hätte Alexandra sicher verschlafen, wenn sie nicht durch lautes Schnurren geweckt worden wäre. Mia, ihre schwarze Katze mit den weißen Pfoten und dem ebenso weißen Näschen, saß neben ihrem Kopfkissen und sah sie auffordernd an, als sie die Augen aufschlug. Alexandra warf einen Blick auf das Zifferblatt des Weckers, der auf ihrem Nachttisch stand und seufzte. Schon neun! Sie hatte versprochen, Marie beim Aufräumen zu helfen, und außerdem musste sie den Laden öffnen.

»Schon gut, Miachen, ich weiß ja, dass ich verschlafen habe! Und du hast bestimmt schon großen Hunger.« Alexandra lächelte und streichelte die Katze, die ihr Köpfchen jetzt gegen ihre Hand drückte. Beide genossen die Momente der Zuwendung, dann schwang Alexandra entschlossen die Beine aus dem Bett.

»Also komm, dann gibt es jetzt erst einmal dein Frühstück und ich schaue mal, ob Marie schon einen Kaffee für mich hat.«

Als Alexandra eine halbe Stunde später ihre Wohnung verließ, prallte sie schon an der Eingangstür wieder zurück, als ob sie einen Schlag erhalten hätte. Mein Gott, was für ein Gestank! Sie würde sich beschweren! Nettekoven, der Bauer, der die Nachbarfelder um den Hof herum bestellte, hatte offensichtlich zu tief ins Jauchebecken gegriffen. Regelrecht geschäftsschädigend war das! Sie lief rasch zur Gewölbeküche, aus der schon verhaltenes Geschirrklappern zu hören war, und traf auf Marie, die bereits die zweite Ladung aus der Spülmaschine räumte. Alexandra seufzte – Marie war ein Phänomen. Auch nach nur wenigen Stunden Schlaf stand sie jetzt schon wieder fröhlich und taufrisch in der Küche, als hätte sie einen achtstündigen Schönheitsschlaf genossen, und hatte darüber hinaus das Chaos der vorabendlichen Weinverkostung schon so gut wie beseitigt.

Anstelle einer Begrüßung machte Alexandra jedoch zuerst ihrem Ärger Luft, als sie die Küche betrat.

»Sag mal, Marie, ist dir der Gestank draußen nicht aufgefallen?«, fragte sie außer sich, während Marie ihr eine Tasse Kaffee einschenkte. »Ich finde das unmöglich. Ob die Nettekovens jetzt neuerdings nachts die Jauche auf den Feldern verteilen? Also, das geht auf keinen Fall so weiter. Ich gehe gleich mal rüber und sag denen meine Meinung. Jetzt sag du doch auch mal was!« Alexandra sah die Freundin ungläubig an, die sich in aller Seelenruhe eine Brötchenhälfte mit Butter und Honig bestrich und sie genüsslich zum Mund führte.

»Stimmt.« Marie nickte, während sie die Hand, die das Brötchen hielt, wieder sinken ließ. »Ich habe mich auch schon gewundert. Aber was sollen wir machen? Schließlich sind wir hier nun mal auf dem Land.« Sie zuckte resigniert mit den Schultern. »Aber du hast recht, diesmal ist es viel schlimmer als sonst. Wie dem auch sei, jetzt komm, setz dich endlich und trink deinen Kaffee. Sonst ist die Kanne gleich schon wieder leer.«

»Wie machst du das nur, Marie?« Alexandra seufzte. »Du bist schon fast fertig mit dem Frühstück und ich bin heute früh kaum aus dem Bett gekommen! Ich hätte auch noch weitergeschlafen, wenn Mia mich nicht geweckt hätte.«

»Ich brauche eben nicht so viel Schlaf wie du. Den Laden habe ich übrigens auch schon aufgeschlossen. Deshalb habe ich den Tisch gleich hier gedeckt, dann hören wir, wenn jemand kommt.«

Nach dem Frühstück schlug Alexandra die Abkürzung zum nachbarlichen Bauernhaus ein, die quer durch ihren großen Garten führte, an den Überresten des alten Schuppens vorbei, den sie demnächst ganz abreißen wollten. Als sie ungefähr die Hälfte der Strecke hinter sich gelassen hatte, traf sie der Gestank plötzlich mit einer solchen Wucht, dass es ihr fast den Atem nahm.

Sie hustete, ruderte mit den Armen und hielt sich schließlich – lediglich für ein paar Sekunden erfolgreich – die Nase zu, um gleich darauf doch wieder Luft holen zu müssen. Augenblicklich begann sie zu würgen, bis sich ihre Aufmerksamkeit schließlich auf einen Wasserspiegel in der Nähe des Schuppens konzentrierte, der vorher nicht da gewesen war und jetzt plötzlich, wie von Geisterhand inszeniert, vor ihr lag.

Sie stutzte. Natürlich! Die Jauchegrube! Ja, tatsächlich, das musste die Jauchegrube sein, die die Vorbesitzer des Hofes erwähnt hatten, ohne dass sie diese bei der Begehung des Grundstückes jemals gefunden hatten, sodass der Umstand schließlich in Vergessenheit geraten war. Alexandra trat nun doch näher hinzu und ließ ihren Blick über das trübe Wasser gleiten. Als sie die Augen bereits wieder abwenden wollte, machte sich plötzlich ein Detail in ihrem Bewusstsein fest, das sie anscheinend übersehen hatte. Sie schaute noch einmal genauer hin und sah jetzt im von ihrem Standpunkt aus halbwegs verborgenen Teil der Grube die Hacke eines Männerschuhs, der, die Sohle aufwärtsgerichtet, dort herumzuschwimmen schien. Eigenartig! Alexandra machte einige Schritte in die Richtung, um die Sache besser in Augenschein nehmen zu können, und dann sah sie ihn.

Der Mann, der dort mit dem Gesicht nach unten in der Grube lag, war offensichtlich darin eingebrochen – die herumliegenden Holzsplitter und abgerissene, fingerdicke Bodendeckerranken sprachen für sich. Alexandra registrierte einen Fußabdruck, der sich in die feuchte Erde am Rand der Grube eingegraben hatte, und ein zerknülltes Papiertaschentuch. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, dass sie selbst vielleicht einbrechen könnte, und ungeachtet der ekligen Feuchtigkeit, ging sie neben der Grube in die Knie und versuchte, sich trotz aller Beklemmung ein Bild zu machen.

Sie erkannte, dass dem Mann nicht mehr zu helfen war. Dort, wo er mit dem Oberkörper lag, war das Jauchenwasser dunkler gefärbt, was für eine Verletzung sprechen könnte. Alexandra richtete sich auf, während ihr jetzt das Herz bis zum Halse schlug, drehte sich auf dem Absatz um und lief zum Haus zurück. Sie musste die Polizei rufen und Marie Bescheid sagen.

Eine Dreiviertelstunde später fuhr ein dunkler Kombi auf den Hof. Sie ging dem Fahrer entgegen, der inzwischen ausgestiegen war, sich bewundernd umsah und das idyllische Panorama für einen Moment auf sich wirken ließ, bis er Alexandra erblickte und lachend auf sie zukam.

»Ich dachte ja eben, ich höre nicht richtig, als ich deinen Namen hörte, Alexandra. Na, wie geht’s unserer ehemaligen Rechtsmedizinerin?« Er blieb ganz plötzlich stehen und hielt sich die Nase zu. »Ist das das Parfüm, was man jetzt hier auf dem Land trägt? Du liebe Güte!«

»Hallo, Jan. Ja, dieses Parfüm ist hier absolut en vogue.« Sie verzog den Mund zu einem verunglückten Grinsen. »Aber komm erst mal mit, ich zeige dir, wo der Tote ist, dann wirst du das auch verstehen.«

 

Jan Berger, Hauptkommissar und ein früherer Kollege Alexandras, hatte vor einem Jahr sehr bedauert, dass sie sich dazu entschlossen hatte, ihren Beruf an den Nagel zu hängen, um einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Ihre Arbeitsweisen ergänzten sich gut, und er hatte sich mit der anstehenden Veränderung schwergetan. Der neue Rechtsmediziner, Dr. Sebastian Krüger, hatte es deshalb zuerst nicht leicht damit gehabt, Bergers Anerkennung zu bekommen, aber inzwischen respektierten sie sich auf Abstand.

Über Jan und Alexandra war im Präsidium viel spekuliert worden; irgendwie hätten sie, wenn es nach den Kollegen gegangen wäre, ein Paar sein müssen, wahrscheinlich, weil sie sich äußerlich ähnlich waren. Auch Berger war groß, schlank, schlaksig und hatte dichtes, blondes Haar. Darüber hinaus besaßen beide einen ähnlichen ovalen Gesichtsschnitt. Man hätte sie für Geschwister halten können, aber da sie das nicht waren, sollte so viel Ähnlichkeit – besonders nach Auffassung der Kolleginnen – ein Zeichen dafür sein, dass sie zusammengehörten. Alexandra war dem Geflüster hinter ihrem Rücken immer rigoros entgegengetreten – es fehlte noch, dass andere darüber befanden, welcher Mann zu ihr passte! Obwohl … – aber an dieser Stelle angelangt, verbannte sie ihre Gedanken besser.

Auch Jan war das Gerede nicht verborgen geblieben. Er mochte Alexandra gern und respektierte sie, träumte aber insgeheim von einer Frau mit einer besonders weiblichen Ausstrahlung. Gefunden hatte er sie jedoch auch bis zu seinem vierzigsten Geburtstag noch nicht, den er unlängst hinter sich gebracht hatte, was seinem Optimismus jedoch keinen Abbruch tat.

Als Marie jetzt eilig aus dem Haus gelaufen kam und sich zu ihnen gesellte, ruhte sein Blick eine ganze Weile wohlgefällig auf ihr, was Alexandra schmunzelnd zur Kenntnis nahm.

»Um Gottes willen, was sagst du da, Alexandra? In einer Jauchegrube liegt wirklich ein Toter?« Maries dunkle Augen waren vor Schreck geweitet und sie begann zu zittern.

Alexandra ging auf ihre Freundin zu und nahm sie in den Arm.

»Als ich dir das eben sagte, hast du das erst gar nicht richtig begriffen, oder?«

Marie nickte. »Das muss doch dann die Grube sein, die wir bisher nicht gefunden hatten?«

»Genau, sie liegt hinten beim alten Schuppen, den wir demnächst abreißen wollen. Man konnte wirklich nichts sehen, weil die Erde und auch die Grube mit Bodendeckern zugewuchert sind. Was der Mann hier gewollt hat«, sie zuckte mit den Schultern, »keine Ahnung.« Sie schaute von Marie zu Jan. »Also los, bringen wir’s hinter uns!« Alexandra wandte sich um und schlug den Weg in Richtung Garten ein. »Ist Krüger übrigens schon verständigt worden?«, fragte sie über die Schulter gewandt zurück.

»Klar.« Jan nickte. »Der ist schon auf dem Weg. Muss gleich hier sein. Du hast dir aber doch sicher auch schon einen Eindruck verschafft? So ganz kann man doch bestimmt nicht aus seiner Haut, oder?«

»Natürlich nicht!« Alexandra zuckte die Schultern. »Als ich sah, dass er schon tot war, habe ich logischerweise nichts verändert.« Sie lächelte schief. »Hier ist es übrigens.« Sie blieb stehen und deutete auf die Grube, in der die Leiche schwamm. Jan Berger kniete sich an den Rand und betrachtete das Szenario, während Marie sich voller Abscheu und nach Luft schnappend abwandte.

»Hast du auf den ersten Blick irgendwelche Verletzungen entdeckt?«

»Nein, nicht direkt. Es kann aber sein, dass er irgendwo eine größere Wunde hat, aus der viel Blut lief.«

»Aber angenommen, er wurde vielleicht erschossen, dann hätten wir das doch gehört?« Marie hielt sich schützend die Hände vor Augen und Nase, um den Gestank abzuwehren und den Toten nicht ansehen zu müssen, während sie mit Alexandra sprach.

»Nicht unbedingt«, warf der Hauptkommissar ein, »ihr wart doch mit eurer Weinprobe beschäftigt, wie ich gehört habe. Es waren Leute da, also gab es Stimmengewirr, wahrscheinlich Musik, Gläserklirren, Tellergeklapper und so weiter.«

Marie nickte.

»Außerdem gibt es Schalldämpfer«, warf Alexandra ein. »Aber das wird die Spurensicherung hoffentlich finden, wenn wir nicht zu unvorsichtig waren.«

»Hallo, ist da jemand? Krüger, mein Name, ich bin der Rechtsmediziner. Die Leute von der Spusi sind auch schon da.«

Dr. Sebastian Krüger bestätigte Alexandras Vermutungen, und nachdem die Leiche endlich abtransportiert worden war und die Spurensicherung das Gelände durchkämmt und abgeriegelt hatte, verabschiedeten sich der Kommissar und der Mediziner, und die beiden Freundinnen setzten sich, besonders zu Maries Nervenberuhigung, zu einem Kaffee zusammen.

»Was denkst du, was der Mann hier überhaupt gewollt hat?«, fragte sie nach einer längeren Pause. Alexandra schaute von ihrer Tasse auf.

»Genau darüber denke ich auch gerade nach, aber ich kann mir überhaupt keinen Reim darauf machen. Ein Kunde, der sich zur Weinprobe verspätet hat, war es sicher nicht. Alle, die sich angemeldet hatten, waren auch da, das habe ich kontrolliert. Aber vielleicht kannte er einen unserer Gäste.« Sie zuckte unentschlossen mit den Schultern.

»Oder er war wirklich zufällig hier«, fiel Marie ihr ins Wort. »Dein Kommissar hat mich übrigens eben an der Tür noch gebeten, dir zu sagen, dass du morgen zu ihm kommen sollst, damit er deine Aussage aufnimmt.«

»Okay, trotzdem, irgendwie kommt mir das alles ziemlich irreal vor. Stell dir vor: Jetzt schaffen wir uns eine neue Existenz und dann findet man einen Toten auf unserem Grund und Boden.« Alexandra machte ein besorgtes Gesicht.

»Du meinst, wenn sich das herumspricht, könnte das abträglich für unser Geschäft sein? Ja, das habe ich mir auch schon überlegt. Und ich befürchte, dass so ein spektakulärer Fall gerne von der Zeitung aufgegriffen wird.« Marie schaute unglücklich drein.

»Ich hoffe, dass ich genau das verhindern kann, wenn ich Jan darum bitte, eine Pressesperre zu verhängen – das Ganze könnte sich sonst wirklich fatal auswirken. Am besten, ich nehme das sofort in Angriff.«

»Unser Mann ist erschossen worden.« Jan bot seiner ehemaligen Kollegin den Platz vor seinem Schreibtisch an und stellte ein Glas Wasser vor sie hin. »Papiere hatte er nicht bei sich, aber die Kollegen haben ungefähr zwei Kilometer von euch entfernt ein herrenloses Auto gefunden, das auf einem Feldweg stand. Zugelassen ist es auf einen gewissen Balduin Hafner – ungewöhnlicher Name, findest du nicht? Jedenfalls habe ich herausgefunden, dass es sich dabei wirklich um den Mann aus eurem Jauchebecken handelt. Schau mal.« Er drehte den Bildschirm seines Computers so herum, dass Alexandra einen Blick darauf werfen konnte. »Außerdem stammt der Fußabdruck zweifelsfrei von ihm.«

»Den Mann habe ich noch nie gesehen«, sagte Alexandra nach kurzer Überlegung, »außer gestern natürlich, als er geborgen wurde.«

»Der Sturz in die Jauchegrube war übrigens nicht die Todesursache, du musst dir also keine Vorwürfe machen, dass du ihm nicht mehr helfen konntest. Hafner ist tatsächlich erschossen worden. Wir haben Fußspuren einer zweiten Person in der Nähe des Wagens gefunden, die aber leider durch die Feuchtigkeit der Nacht aus der Form geraten sind. Mal sehen, ob da noch was geht.« Er schaute seine ehemalige Kollegin auffordernd an. »Dr. Krüger wird dir übrigens Näheres berichten, wenn es dich interessiert.« Alexandra nickte. »Das dachte ich mir«, grinste Jan, »deshalb habe ich ihm auch schon Bescheid gesagt, dass du gleich kommst.«

»Ich kann mir überhaupt keinen Reim darauf machen, was der Mann bei uns gewollt hat.« Alexandra verzog resigniert die Mundwinkel. »Vielleicht hatte er ja eine Panne und wollte Hilfe holen.«

Jan schüttelte den Kopf. »Das Auto ist voll funktionsfähig und der Tank war auch nicht leer, daran kann es also nicht gelegen haben.«

»Gibt es denn irgendwelche Spuren am Auto? War er vielleicht gar nicht allein? Habt ihr Blut gefunden?«

»Negativ. Im Auto gab es nur Spuren von Hafner selbst. Kein Blut.«

»Das heißt, dass er nicht im Auto saß, als er angeschossen wurde«, sagte Alexandra nachdenklich.

»Davon gehe ich aus. Und es ist – so sieht es jedenfalls aus – auch keiner mit ihm gefahren. Der Täter muss ihm also aufgelauert haben, wenn es überhaupt Absicht war.«

»Was sollte es denn sonst gewesen sein?«