Jeden Abend Captain's Dinner

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Jeden Abend Captain's Dinner
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Brigitte Karin Becker

Jeden Abend Captain’s Dinner

Meine abenteuerlichen Frachtschiffreisen

auf Nord- und Ostsee

Reiseerzählung

Inhalt

Cover

Titel

Mister Moranez

Sonnenuntergang, Sternbilder, Häfen bei Nacht

Ein eigenartiges Volk

Kleine Kreise auf offener See

Harte Seemannsabende

Sommersturm

Kapitäne, die nicht steuern können

Impressum

Mister Moranez

Mit dreihundertundfünfzig Containern aus Finnland beladen, kämpft sich die Antares gegen den Elbstrom nach Hamburg. Norddeutsches Februarwetter, Nieselregen. Meine drei älteren Herren in ihren karierten Hemden, mit denen ich eine Woche lang auf dem Schiff gelebt habe, Kapitän, Erster Offizier und Chief, sind auf der Brücke. Der Kapitän fragt mich, ob mir die Reise gefallen habe, fürchtet, dass sie langweilig gewesen sei.

Langweilig? Mir wurde jede Schraube im Maschinenraum persönlich vorgestellt, und ich kenne die gesamte Lebensgeschichte des Chiefs. Auf der Ostsee habe ich auf das erste Eis gewartet, im finnischen Meerbusen auf den Eisbrecher. Ich habe kristalline Landschaften aus Eis gesehen und zugeschaut, wie der Kapitän sein Schiff stundenlang und mit Engelsgeduld durch sie hindurch gesteuert hat. In Helsinki habe ich mich zwischen den Containerstapeln im Hafen verlaufen, und in Kotka wäre ich fast von einer Containerbrücke angefahren worden. Ich habe die Ladegeschwindigkeiten der finnischen Hafenarbeiter gemessen und protokolliert. Der Lotse im Nord-Ostsee-Kanal hat mir jedes Sandkorn an dessen Ufern erklärt. Ich habe mich so erfolgreich beim Koch eingeschmeichelt, dass der Kapitän eine Woche lang auf seine geliebten Pilze, die ich nicht mag, verzichten musste. Und ich habe Stunden mit meinen drei karierten Herren in der Offiziersmesse verbracht und ihren wahren und erfundenen Geschichten zugehört. Nur meinen vorsorglich für den Seekrankheitsfall mitgebrachten Fernet Branca, den habe ich nicht gebraucht.

Die Schraube wühlt sich durch das trübe Elbwasser, auch der Ebbstrom ist gegen uns. Hinter uns am Horizont erscheint verwaschenes Grau. Es ist ein Schiff. Ein großes, schnelles. Es kommt näher.

Und dann ist es neben uns. Eine dunkle Wand aus Stahl. Der Kapitän schaut zum Lotsen. Der schweigt. Die Stahlwand kommt näher und näher, es sieht aus, als könne man sie anfassen. Endlich sagt der Lotse etwas: »Scheiße! – Wir kommen voll in den Sog!« Dann schnell hintereinander mehrere Kommandos, zuletzt: »Volle Kraft zurück!«

Stille. Die bleifarbene Wand kommt näher. Und dann: Ein Schlag, das schrille Geräusch von Stahl auf Stahl. Die Antares neigt sich zur Seite, weit. Richtet sich langsam wieder auf.

Das dunkelgraue Schiff hat eine lange Schramme. Es fährt weiter, als sei nichts geschehen und verschwindet voraus im Nebel. Wir liegen quer im Strom, neben uns treibt ein Container.

Der Kapitän telefoniert, notiert dann etwas auf ein DIN-A4-Blatt. Der Chief nennt ihm die Nummer des über Bord gegangenen Containers. Der Erste Offizier geht zum Bug, um die Schäden an der Ladung und am Schiff zu überprüfen. Und die Schwimmfähigkeit.

Langweilig? Und es fängt erst an: Ein Matrose stürzt auf die Brücke, blass und außer Atem: »Mister Moranez is missing!«

Der Kapitän lässt Mister Moranez ausrufen und beauftragt den Matrosen, ihn zu suchen. Das Beiboot wird klargemacht. Mister Moranez meldet sich nicht, sein Kollege findet ihn nicht.

Ein Hubschrauber und mehrere Schiffe sind gekommen. Sie suchen. Wir fahren zurück. Wir suchen auch. Irgendein dunkles Pünktchen, irgendwo im eiskalten Strom. Es gibt viele dunkle Pünktchen.

Sehr nah beim Schiff erscheint ein etwas größeres Pünktchen. Es kommt näher und wird größer, sieht aus wie ein weggeworfenes Kleidungsstück. Es treibt vorbei. Die Besatzung des nächsten Bootes fischt ein triefendes Bündel aus dem Wasser. Mister Moranez. Er stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.

Ein Beamter der Wasserschutzpolizei kommt an Bord, stellt Fragen, nimmt Personalien auf. Im pottendichten Nebel fahren wir in den Hafen, ein Polizeiboot begleitet uns. Der Kapitän steuert selbst.

Sonnenuntergang, Sternbilder, Häfen bei Nacht

Bremerhaven, vier Monate später. Auf der Spica. Ein anderes Schiff, andere Seeleute. Ein kleiner Seebär im Overall, dick, mit eisgrauem Vollbart und listigen Augen, empfängt mich und bietet mir in der Messe einen Kaffee an. Er selbst nimmt sich ein Bier. Die übliche Frage:

»Ist das Ihre erste Frachtschiffreise?«

»Nein. Ich bin vor einem Jahr auf der Toronto Star nach Kanada gefahren und … und im Winter auf der Antares.«

»Ach, Sie waren das mit dem Unfall!«

Sie kennen sich. Sie kennen sich alle. Sie kennen die anderen Schiffe, und die meisten Kollegen kennen sie auch. Ich sage nichts, und der kleine Seebär schimpft über Unfalluntersuchungen. Da käme nie ein vernünftiges Ergebnis zustande, und man solle keinesfalls verraten, was man gesehen habe. Ich lasse das unkommentiert, und er beginnt über die neuen Sicherheitsbestimmungen zu schimpfen: Völlig nutzlos! Schaffen nur Arbeit! Er ist der Erste Offizier und muss diese Bestimmungen umsetzen. Manche sind nicht nur nutzlos, sondern auch absurd: An der Kiste, in der die Schwimmwesten verstaut sind, ist jetzt ein Vorhängeschloss, denn im Hafen muss sie zugesperrt sein. Hoffentlich ist sie auf See nicht auch abgeschlossen! Ich stelle mir vor, wie das Schiff sinkt und alle hektisch durcheinander rennen und nach dem Schlüssel suchen. Auch sämtliche Türen müssen jetzt im Hafen abgeschlossen sein, die Gangway muss bewacht werden.

Und die Häfen sind zu Hochsicherheitszonen geworden. Vor ein paar Monaten noch konnte man zum Pförtner gehen, einen Shuttle bestellen und sich zum Schiff seiner Wahl bringen lassen. So war es bei der Antares, und eine Gangwaywache oder verschlossene Türen gab es dort nicht. Ich bin auf das scheinbar ausgestorbene Schiff gegangen und dort so lange umhergeirrt, bis ein ernster Philippiner erschien, der mich zum Kapitän brachte. Jetzt hingegen muss man schon am Eingang des Hafens seinen Pass überprüfen lassen und das erste Formular unterschreiben. Auf dem Schiff muss man sich noch einmal ausweisen und wieder ein Formular unterschreiben. Erst dann darf man durch die einzige unverschlossene Tür hineingehen.

Im Niedergang kommt ein massiger Mann Mitte dreißig herauf geschlurft. Er trägt schlecht sitzende Jeans und ein weißes T-Shirt, hat einen mürrischen Gesichtsausdruck. Sein Händedruck ist schlaff, er schaut zur Seite, murmelt einen einsilbigen Namen, es klingt wie ein Räuspern, und einen Halbsatz, in dem das Wort ›Kapitän‹ vorkommt, und schlurft weiter. Muffkopf! Dazu passt, dass es auf diesem Schiff zwei Gebrauchsanweisungen gibt. Die erste ist die übliche: Wann und wo gibt es Essen, wann ist wer auf der Brücke, Verhalten im Notfall. Die zweite klebt unübersehbar an der Tür und enthält weitere Verhaltensregeln sowie Brückenöffnungszeiten: Kein Brückenbesuch nach zweiundzwanzig Uhr!

Auf dem Brückendeck ist draußen eine kleine Bank, von der aus man ins Kielwasser schauen kann. Im Ruderhaus ist es ähnlich wie auf der Antares. Es riecht nach kaltem Rauch, und überall stehen schwere rote Aschenbecher: im Steuerstand zwischen dem Radar und der elektronischen Seekarte, in der Funkecke neben dem Faxgerät. Hinten ist die Kartenecke mit einem großen Tisch mit vielen flachen Schubladen, in denen die Seekarten verstaut sind. Ein Aschenbecher steht auf dem Tisch zwischen dem Logbuch, ein paar Textmarkern und einem Häufchen selbst zurechtgeschnittener Notizzettel. Ein anderer neben dem Computer in der Ecke, und ein ganzer Stapel bei der Kaffeemaschine. Die Tassen hängen an Haken über dem Ausguss, manche sind angeschlagen, alle sind verschieden.

Die Offiziersmesse ist winzig: eine kleine Anrichte in der Ecke, ein Tisch mit einer mit schlammfarbenem Kunstleder bezogenen Eckbank, auf die sich gerade fünf Leute drängen können. Schmuddelige Platzsets, klebrige Flaschen mit Ketchup und Maggi. Ein abgegriffenes Schiffsbild an der Wand aus Mahagoni-Imitat. Auf der Bank sitzt der Chief: Breit, schütteres, blondes Haar und blonder Kinnbart, verträumter Blick. Neben ihm sitzt eine solariumsgegerbte, mit schwerem Goldschmuck behängte Frau. Sie ziert sich und tut, als sei sie fehl am Platz. Schimpft über das Schiff: Zu klein, zu eng, zu schäbig. Dann schaut sie mich mitleidig an und sagt gönnerhaft, ich solle mal mit einem ›richtigen‹ Schiff fahren. Was meint sie damit? Toronto Star? Die hatte einen Aufzug, breite Treppenhäuser und riesige Messen. Ein ganzes Deck mit eigener Pantry und Lounge mit Video und Bibliothek war für die Passagiere reserviert. In der Offiziersmesse hatten die Passagiere einen eigenen Tisch, weiß eingedeckt, und wurden vom Steward bedient. Aber vom Schiffsbetrieb hat man kaum etwas mitbekommen. Und die Seeleute, die sind unter sich geblieben. Sie redet unbeirrt weiter von Schwimmbädern, Saunen und Massagen, gestikuliert und klimpert dabei mit ihren Armbändern, streut ab und zu den Namen eines exotischen Hafens ein.

 

Eine Klingel rasselt, eiliges Getrappel auf den Decks. Der Chief verschwindet in den Maschinenraum. Kurz darauf ein hohles Geräusch, dann gleichmäßiges Stampfen. Die Maschine läuft. Das Schiff vibriert, auf den Tellern klappert das Besteck. Wir legen ab. Wenige Minuten später ist alles wieder vorbei. Wir sind ein paar Hundert Meter am Kai entlang gefahren und haben wieder festgemacht. In Bremerhaven gibt es mehrere Hafengesellschaften, und jede hat ihre eigene Strecke an der langen Stromkaje. Zwei Stunden später rasselt die Klingel wieder, und wir verlassen Bremerhaven.

Am nächsten Tag sind wir in Felixstowe, einem heruntergekommenen Seebad an der englischen Ostküste. Um die neuen Sicherheitsbestimmungen kümmert sich hier wohl niemand, man verlässt den Hafen durch eine Lücke im Zaun. Draußen eine endlos erscheinende, eintönige Straße mit Reihenhäusern. Alle aus rotem Backstein, alle mit einem Dach aus schwarzen Ziegeln, alle mit einem ummauerten Vorgarten ohne Pflanzen. Kein Mensch lässt sich blicken, nicht einmal eine Katze streift durch die kargen Gärten. Dann eine Art Promenade. Auf einer Seite Spielhallen und Ramschgeschäfte, auf der anderen der Strand. Schmal, schmuddelig mit ein paar Badehäuschen, deren Farbe man nur noch erahnen kann. Kaum eins davon benutzt. Im groben Sand leere Flaschen, Plastiktüten und Papierfetzen. Vom Wasser weht der ölige Geruch des nahen Hafens. Ein gepflegtes Pub oder eine Strandbar sucht man hier vergebens.

Ich schlüpfe bald wieder durch die Lücke im Zaun und gehe auf mein Schiff. Auf der Brücke sind der Muffkopf und der kleine Seebär. Sie trinken Bier und bieten mir auch eins an. Und hier, inmitten der Technik stehend mit der Flasche in der Hand, ist es viel gemütlicher als zwischen den abgewetzten Orientteppichen in der Bar des ›Dolphin Hotel‹, meiner Noteinkehr an Land. Die Gesellschaft ist auch netter. Auch der Muffkopf. Er freut sich, weil ich seine Eindrücke von Felixstowe bestätigen kann, und der kleine Seebär freut sich, weil er hier grundsätzlich auf einen Landgang verzichtet.

Wir fahren auf Rotterdam zu. Mit gleichmäßig stampfender Maschine pflügt sich die Spica durch die Nordsee. Plötzlich fährt ein Beben durch das Schiff, das Stampfen hört auf, beginnt wieder in einem anderen Rhythmus: Volle Kraft zurück! Vollbremsung! Eine Jever-Bierflasche fliegt von der Brücke, dann wird der Anker hinab gelassen. Nur ein paar Minuten später wird er wieder aufgeholt, und wir fahren – volle Kraft voraus – weiter.

Der Muffkopf ist wieder mürrisch. Beim Mittagessen lungert er in seiner Ecke wie eine fette Drohne und murmelt vor sich hin. Er isst kaum etwas und verzieht sich bald. Plötzlich wieder das Beben und der andere Maschinenrhythmus. Der Chief schreckt auf und stürzt in den Maschinenraum. Die zweite Vollbremsung. Im Logbuch steht der Grund für die schlechte Laune des Muffkopfs: Ankern. Zehn Minuten später: Sofort weiterfahren. Und zwanzig Minuten später: Jetzt doch wieder ankern.

Stundenlang dümpeln wir am Anker, bis ein Kaugummi kauender Lotse grußlos auf der Brücke erscheint. Wir dürfen endlich in den Hafen einlaufen. Der Lotse schreitet die Brücke auf und ab, gesprächig ist er nicht, und viel zu tun hat er auch nicht. Die Automatik steuert, der Lotse kaut, der Muffkopf kommt in die Nock. Er lehnt sich neben mich an die Reling und besetzt dabei einen Großteil meines Territoriums. Schweigend. Wenn er wenigstens sprechen würde. Das aber tut er nicht. Wenn er mir wenigstens sagen würde, dass ich weggehen soll. Das aber tut er nicht. Ich weiche nicht und schweige auch.

An einem heruntergekommenen Wartekai machen wir fest. Ein Schuppen, ein Bretterstapel, am anderen Ufer eine Raffinerie. Geladen wird hier nicht. Ungewohnte Stille. Keine quietschenden Rollen, keine sirrenden Stahlseile, kein schrilles Klingeln, wenn eine Containerbrücke verschoben wird. Nur von Ferne, vom anderen Ufer, das Hallen des Stapelns von Stahl auf Stahl.

Das Ende eines warmen Sommertags, mit einem Bier im Liegestuhl an Deck. Der kleine Seebär kommt vorbei und gesellt sich auf eine Zigarette dazu. Der Chief kommt, trinkt ein Bier mit und bleibt. Er lehnt an der Reling und schaut still, wie die Sonne hinter der Raffinerie verschwindet. Es wird dunkel, die ersten Sterne erscheinen. Ab und zu streift uns der Lichtstrahl eines Leuchtfeuers. Der Chief bleibt an Deck und schaut nach den Lichtern der vorbeifahrenden Schiffe. Grün-weiß die, die kommen, rot-weiß die, die fahren. Nach Hamburg, nach Singapur, nach Valparaiso und Papeete. Ab und zu sagt er etwas. Zu dem Sonnenuntergang, den Sternbildern, zu Häfen bei Nacht.

Irgendwann zwischen Mitternacht und Morgen wieder die Klingel und das Getrappel, kurz darauf wird die Maschine angeworfen. Bald ist alles wieder ruhig, und am Morgen liegen wir an der gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens. Der Kapitän, der Chief, ein Offizier und die Matrosen. Sie alle wurden mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, weil die Spica plötzlich an dem Kai gegenüber festmachen sollte. Geladen wird erst gegen Mittag.

Eine gestückelte Hafenrundfahrt. Zwei Tage und zwei Nächte lang vagabundieren wir durch den Rotterdamer Hafen. Wir fahren von Kai zu Kai, warten, laden ein paar Container ab, ein paar auf. An den verschiedenen Liegeplätzen passiert wenig. Die philippinischen Matrosen klopfen Rost und malen, der Kadett muss an der Gangway herumlungern und sie gegen unbefugte Eindringlinge verteidigen.

Besonders schnell laden sie hier nicht. Eine viertel Stunde lang hängt ein Container zwischen Kai und Schiff, und als er endlich an Bord ist, hängt der leere Greifer zehn Minuten lang allein in der Luft. Obwohl schon neue Container angeliefert sind. Ich protokolliere Ladegeschwindigkeiten:

16.41: Ein Fässchen in einem Gestell,

16.46: Eine Plattform auf der Maschinenteile festgezurrt sind, über zwei Minuten zum Zielen,

16.50: Ein richtiger Container, orangefarben,

16.51: Schon! Ein himmelblauer, Hanjin steht in großen Buchstaben an seinen Seiten – gut, dass das ›n‹ nicht fehlt: Einen ohne ›n‹, einen ›Hanji‹ hatte die Antares bei dem Unfall verloren,

16.53: Ein Käfig mit Hafenarbeitern von Bord?

16.55: Der Käfig mit den Arbeitern doch an Bord! Sie schreiten gemächlich auf den Containern entlang und verteilen Twistlocks,

17.03: Käfig wieder weg.

Und jetzt: Nach der ersten Berührung mit der Führungsschiene fast fünf Minuten, um den Container ordnungsgemäß abzustellen. Dann geschieht geraume Zeit lang überhaupt nichts. Und das im größten und einem der modernsten Häfen Europas. Neun Container in einer Stunde laden sie hier, in Hamburg waren es dreimal so viele. Langsamer haben sie nicht einmal in dem kleinen verschlafenen Hafen von Kotka geladen. Angeliefert werden die Container hier allerdings schneller: Niedrige führerlose Wagen flitzen zwischen den Stapeln herum, lassen sich von ebenfalls führerlosen Kränen mit einem Container beladen und sausen zum Schiff. Dort bildet sich ein kleiner Stau, denn in den Kränen, mit denen das Schiff beladen wird, braucht man noch einen Menschen. Auf dem Schiff muss exakt gestapelt werden.

Am dritten Tag sollen wir Rotterdam endlich verlassen. Beim Frühstück sitzt der Muffkopf in seiner Ecke, löffelt sein Schokomüsli und murmelt etwas von Wetterbericht und Windstärke sechs, schielt dabei zu mir.

»Mehr nicht? Auf der Antares hatten wir sieben, und ich fand es sogar angenehm. Da hat man wenigstens gemerkt, dass man auf einem Schiff ist! Meine Bücher sind vom Regal gerutscht, und der Fernet ist auf dem Boden herum gerollt.«

Der Muffkopf grinst hämisch und ergänzt: »Von der Seite.«

Sch …, das könnte unangenehm werden. Aber das geht den Muffkopf nichts an.

Wesentlich später als angekündigt erscheint endlich ein kauender Lotse auf der Brücke, und wir legen ab. Der Muffkopf lässt ihn mit der automatischen Steuerung allein und kommt in die Nock. Mal wieder lehnt er sich neben mich an die Reling und mal wieder viel zu nah. Wie immer schweigend. Ich frage ihn irgendetwas zu irgendeinem Schiff, an dem wir vorbeifahren, und er gibt bereitwillig, fast freundlich, Auskunft.

Die längste Seestrecke liegt vor uns. Erst morgen, gegen Abend, werden wir in Göteborg sein. Dazwischen liegt die Nordsee, und die zeigt sich von keiner guten Seite: Es ist trüb, kalt und klamm. Das Schiff holpert durch die Wellen, der Wind pfeift. Trotzdem soll es heute Abend an Deck ein Barbecue geben.

Die Unterhaltung beim Mittagessen handelt von Seekrankheit. Alle haben ihre Erfahrungen damit gemacht, und jeder hat sein eigenes Mittel dagegen: Hinlegen, auf den Horizont schauen – der unter den Bedingungen, unter denen man seekrank wird, meist nicht zu sehen ist –, eine Scheibe Vollkornbrot so lange kauen, bis ein ekelhafter Brei entstanden ist, ein Stück Speck an einer Schnur erst schlucken und dann wieder … Einer schildert sehr anschaulich, wie er mal nach Luv … hat. Jetzt weiß ich endlich und für immer, wo Lee ist, und wo Luv: Luv ist da, wo man besser nicht hin … sollte: »Da hat man’s dann im Gesicht.«

Und dann gibt es noch ein Pflaster, das man sich hinter das Ohr klebt. Bei einem Passagier hat das Halluzinationen ausgelöst. Mit wirrem Blick kam er auf die Brücke gestürzt und deutete mit bebender Hand hinaus: »Das Wasser kommt! Das Wasser kommt!«

Er packte den Kapitän am Arm und zerrte ihn zum Steuerstand: »Das Wasser kommt!«

Als der Kapitän versuchte, ihn zu beruhigen, fing der Passagier an zu schreien und um sich zu schlagen. Es brauchte zwei Mann, um ihn zu bändigen und in seine Kammer zu bringen.

An Deck ist alles für das Barbecue gerichtet. Berge von Bratwürsten, Steaks und Schnitzeln, Hühnerschenkeln, ganzen Fischen und Fischfilets türmen sich neben dem aus einem alten Ölfass zusammengebauten Grill. Auf der anderen Seite stehen Weißbrot, verschiedene Salate und Saucen sowie mehrere Bierkästen. Der Bootsmann betätigt sich als Grillmeister. Der Koch bedeckt den provisorischen Tisch mit Küchenhandtüchern und gießt anschließend Wasser darüber. Macht man das nicht deshalb, damit bei Seegang nichts ins Rutschen kommt?

Der Muffkopf streift um den Grill herum und hat sich schon mal ein Jever-Bier genommen. Er fragt mich, ob ich seekrank sei, ich lasse diese Frage unbeantwortet. Dann bietet er mir hämisch ein Bier an. Und wenn ich die ganze Flasche Fernet auf einmal trinke: Den Gefallen, mit einer matten Geste das Bier abzulehnen, tue ich ihm nicht!

Wir verteilen uns um den Tisch. Ich erwische einen Platz zwischen dem Chief und dem kleinen Seebären. Jemand schiebt mir einen Teller und Besteck hin, der Koch kommt mit einer Platte Gegrilltem und häuft meinen Teller voll. Das Essen schmeckt! Und das Bier auch.

Um die Essensreste los zu werden, geht man an die Reling und schabt sie vom Teller, der Wind und die Möwen kümmern sich dann darum. Und auch sonst fliegt allerhand über Bord: Kronkorken, Bierflaschen, Kippen, Zigarettenschachteln. Der kleine Seebär tut so etwas nicht, er hat ordentlich einen Kronkorken vor sich liegen, in dem er seine Zigarettenkippen sammelt. Später holt er eine leere Tabakdose und entsorgt darin seinen Abfall.

Kaum ist aufgegessen, kommt die Wodka-Flasche auf den Tisch. Wodka mag ich nicht, ich hole meinen Fernet. Ein dicklicher Philippiner betrachtet neugierig die Flasche:

»German Red Wine?«

Er möchte, trotz eindringlicher Warnung, einen Schluck probieren. Und bereut es schon, als er an seinem Glas nur riecht. Er zieht ein Gesicht, als sei Spiritus darin, trinkt es aber tapfer aus. Und wer ein echter Seemann ist, der verlangt noch einen zweiten!

Nur der Chief mag Fernet, wir trinken zusammen und unterhalten uns gegen den Maschinenlärm anschreiend. Er erzählt von seiner Madame, der solariumsgegerbten Frau, die am ersten Tag mit in der Messe saß. Sie hat ihn auf vielen seiner Reisen begleitet, ist mit ihm schon auf allen Ozeanen gewesen und war noch nie in ihrem Leben seekrank. Bei einem Orkan wollte sie schwimmen und hat sich beschwert, dass kein Wasser im Pool war.

Eine Zeit lang betrieb er nebenbei eine Eckkneipe in Bremerhaven. Seine Gäste waren vor allem Seeleute und Hafenarbeiter, raue Gesellen. Manche konnten ihre Zeche nicht bezahlen, andere, nach vielen Monaten auf See das erste Mal wieder an Land, warfen Lokalrunden und verprassten an einem einzigen Abend einen Großteil ihrer Heuer. Und manche suchten Streit. Die hat der Chief am Kragen gepackt und hinausgeworfen.

 

Wenn er auf See war, hat seine Madame das Lokal geführt. Donnerstags, am Seemanns-Sonntag, gab es leckere Frikadellen, von ihr persönlich zubereitet. Und einmal hat er seiner Madame zuliebe versucht, ganz an Land zu bleiben. Die Kneipe brachte nicht genug ein, und er nahm eine Arbeit in einer Werft an. Das hat er nicht lange durchgehalten: »Jeden Tag um sieben aufstehen!«

»Aber hier: mal früh um fünf aufstehen, dann nachts um zwei?« Das stört ihn nicht: »Dann verlängere ich einfach die Mittagspause, oder ich schlafe irgendwann zwischendurch.«

Der Pegel der Fernet-Flasche sinkt, es wird acht Uhr, die Kapitänswache beginnt. Der Muffkopf lungert bei seinem Wodka und macht keine Anstalten, sich an seinen Arbeitsplatz zu begeben. Um zwanzig nach acht kippt er schnell noch ein paar Wodka und trollt sich auf die Brücke. Kurz darauf ist er schon wieder da, schickt den Kadetten nach oben und trinkt den Wodka aus. Danach hält er sich notgedrungen an den Fernet. Der Kadett kommt: »Ein Schiff! Auf Gegenkurs!«

Der Muffkopf interessiert sich aber mehr für den Fernet, den er inzwischen an seinen Platz gestellt hat.

Der kleine Seebär, der auf Wache war, kommt wieder, mit dem Arm voll Bierflaschen. Der Chief zieht sich zurück. Ich gehe an die Reling und schaue in das Kielwasser. Dann ist mal wieder jemand in meinem Territorium. Diesmal fängt er ein Gespräch an: »Zwei Lotsen, und trotzdem …«

Ich weiß sofort, was er meint: den Unfall der Antares. Deswegen ist er also ständig um mich herum geschnürt. Ein sehr passendes Thema für eine romantische Plauderei an der Reling, während man – führerlos? – mit sechzehn Knoten durch die Nordsee rauscht. Er gibt mir Anweisungen, wie ich mich gefälligst zu verhalten habe, vor allem: »Nie etwas sagen! Da darf man nie etwas sagen!«

Jetzt würde ich am liebsten nichts sagen. Aber ich sage etwas. Ich sage alles.

Dass, kaum war ich zu Hause, ein Brief aus Büttenpapier kam, von einer Anwaltskanzlei, die mich um einen Unfallbericht bat. Dass ich den Bericht schrieb, so genau wie möglich, weil ich glaubte, er könne nützlich sein. Dass zwei Wasserschutzpolizisten aus Hamburg anreisten und mich stundenlang befragten, und mir auch sagten, dass die Kanzlei meinen Bericht nur wollte, um mich notfalls bei einer Gerichtsverhandlung in Widersprüche verwickeln zu können. Dass noch ein Brief aus Büttenpapier kam, in dem die Kanzlei um einen Termin für ein Gespräch anfragte, und dass ich diesen Brief unbeantwortet in den Müll warf.

Und jetzt soll der Muffkopf mich endlich in Ruhe lassen!

Er lässt mich in Ruhe. Für den Rest des Abends und den Rest der Reise.

Kurz vor Mitternacht löst sich die Runde auf. Der Muffkopf, viel Fernet ist nicht mehr da, verzieht sich an seinen Arbeitsplatz, lange muss er ja nicht mehr. Ich schleiche mich nach oben und spähe vorsichtig in das Ruderhaus. Nicht vorsichtig genug. Alle Lichter gehen an. Sie sollen mich hinein locken, und es ist unmöglich, sie zu ignorieren. Innen sind der kleine Seebär und der Muffkopf. Mit Bier. Der Muffkopf lehnt leicht schwankend am Kartentisch und erzählt von Feiern, die auf der Brücke fortgesetzt wurden und bis in den frühen Morgen dauerten. Als der Zweite Offizier um Mitternacht zu seiner Wache kommt, schleiche ich mich hinaus; der kleine Seebär nutzt die Gelegenheit auch.

Am nächsten Morgen ist der Muffkopf schlecht gelaunt, er hat einen Kater. Und behauptet, der Fernet sei schuld. Beim Mittagessen fehlt er, angeblich macht er heute Diät.

Der kleine Seebär zeigt mir das Schiff und macht dabei vor allem auf unerledigte Arbeiten aufmerksam. Als Erster Offizier ist er für die Ladung und die Sicherheit verantwortlich, und er ist der direkte Vorgesetzte der Decksmannschaft. Die Philippiner haben beim Malen ein Kästchen nicht abgeklebt und die Schlösser nicht abgenommen. In der Tat sind an Kästchen und Schlössern Farbspuren zu sehen, und auch auf dem Boden ist ein Farbtröpfchen, das da nicht hingehört. Er zeigt mir die Rettungsringe mit den Positionsbojen, überprüft bei der Gelegenheit deren Lämpchen. Und er versäumt auch nicht, darauf hinzuweisen, dass man die einem ›Mann über Bord‹ hinterher wirft, erklärt ausführlich, wie schwer es sei, jemanden im Wasser zu finden, sogar wenn er ganz nah am Schiff vorbeitreibe. – Wem sagt er das! – Ich sage nichts, obwohl ich gern gefragt hätte, ob es auf dem Hauptdeck, dort, wo Mister Moranez über Bord gefallen war, auch so etwas gibt. Er zeigt mir das Rettungsboot und das Beiboot, Letzteres nicht ohne zu erwähnen, dass man das bei einem ›Mann über Bord‹ zum Suchen aussetze.

»Ja. Das hatten wir auch draußen.«

»Das Rettungsboot auch?«

»Nur das Beiboot.«

Mehr will er nicht wissen und geht mit mir zum Bug. Dort ärgert er sich wieder. Das Deck ist blitzblank, ohne Rostflecken und auch ohne Farbtröpfchen, aber die Schiffsglocke ist nicht poliert! Der Vormast ist schief, und im Eingang zum Kabelgatt, der Rumpelkammer am Bug, ist ein ganzer Spant verbogen. Das war die Nordsee im Winter.

Der Chief, der keine Mahlzeit auslässt, schaut bekümmert auf seinen Teller: Es gibt Leber, die mag er nicht. Auch der kleine Seebär mag keine Leber und nörgelt über den Koch. Er stellt seinen halb abgegessenen Teller auf die Sitzbank und macht sich, leise vor sich hin schimpfend, ein Brot. Der Chief stellt seinen Teller dazu und will sich einen Salat nehmen. Da kommt der Muffkopf in die Messe, baut sich vor der Anrichte auf und gießt fast die ganze Flasche Öl in den Salat. Schüttet Pfeffer darauf und mischt alles durch. Der Chief entfernt sich still vom Salat und belegt sich auch ein Brot. Der Muffkopf lässt sich einen Teller mit einem Stapel Lebern bringen und isst sie alle auf. Seinen Salat lässt er stehen.

In der Ecke hinter der Bank steht ein klebrig aussehendes Glas mit eingelegtem Knoblauch. Es gehört dem Vorgänger des Chiefs, der seltsame Vorlieben hatte: In seiner Kammer hat er noch mehr halbvolle Knoblauch-Gläser, eine lecke Kaffeemaschine, eine Zitronenpresse und einen Fleischwolf zurückgelassen. Und mehrere Blumenkästen mit den kläglichen Überresten einer missglückten Zwiebelzucht. Seine benutzten Gläser hat er ungespült in den Schrank zurückgestellt. Als der Chief kam, hat er erst mal mehrere Tage lang geräumt, gewaschen und geputzt. Geschlafen hat er auf dem Sofa, weil er auch die Matratze säubern musste.

Nach dreißig Stunden See, mit regelmäßigen Wach- und Ruhezeiten, ohne Revierfahrten und Verholungen, beginnt die Ansteuerung von Göteborg. Der Chief hat es sich neben dem Muffkopf bequem gemacht und schaut auf die von schrägen Sonnenstrahlen beleuchteten Schären. Über dem Hafen steht ein Regenbogen, im noch nassen Asphalt der Kais spiegeln sich die Kräne und die Container.

Der Handelshafen liegt weit draußen. In die Stadt hinein fahren nur die Fähren und die Kreuzfahrtschiffe. Am Abend legen wir an, und gegen zwei Uhr Nachts fahren wir schon weiter. Am nächsten Vormittag sind wir in Århus, hier ist der Hafen noch nah bei der Stadt, man kann sogar zu Fuß gehen. Trotzdem sagt der kleine Seebär wieder seinen Standardsatz: »In Århus war ich noch nie von Bord!«

In Felixstowe war er noch nie von Bord, in Rotterdam war er noch nie von Bord, und in Göteborg war er auch noch nie von Bord.

Am Kai gegenüber liegt die Stella, ein hübsches Schiff, baugleich mit der Antares. Ich schaue mit dem Fernglas auf ihre Brücke. Da ist jemand! Auch der nimmt ein Fernglas, schaut auf unsere Brücke und winkt. Ein kleiner Fernglas-Flirt. Als wir ablegen, verabschiedet uns die Stella mit einem kurzen Hupen aus dem Typhon. Später funkt ihr Kapitän uns an und plauscht mit dem kleinen Seebären.

Sie kennen alle Schiffe auf Nord- und Ostsee: Auf welcher Werft sie gebaut wurden, woher sie kommen, wohin sie fahren, wem sie gehören und wer sie gechartert hat. Auf einem steht auf der Brücke ein DGzRS-Spendenschiffchen. Der Kapitän hat es dort aufgestellt. Lotsen, Agenten und Passagiere werfen ab und zu etwas hinein. Und die Zigaretten, die man an Bord kaufen kann, haben eine DGzRS-Steuer. Ein paar andere Kapitäne schmücken ihre Schiffe in der Weihnachtszeit. Mit Lichterketten an der Reling oder den Antennen, einem Weihnachtsbaum an Deck. Auf einem Schiff spazieren leuchtende Rentiere über das Peildeck, auf einem anderen entert ein Weihnachtsmann die Brücke.