Pelé - Warum Fußball?

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Pelé - Warum Fußball?
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Aus dem Englischen übersetzt

von Paul Fleischmann


www.hannibal-verlag.de

Widmung

Für Dona Celeste

Impressum

Die Autoren: Pelé mit Brian Winter

Deutsche Erstausgabe 2014

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Why Soccer Matters” bei Celebra, a division of Penguin Group (USA) LLC.

© Sport Licensing International, 2014

This edition is published by arrangement with NAL Signet, a member of ­Penguin Group (USA) LLC, a Penguin Random House Company.

Coverabbildung: Lichfield/Getty Images

Coverdesign, Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Übersetzung: Paul Fleischmann

Lektorat: Hollow Skai

Korrektorat: Dr. Matthias Auer

© by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-453-3

Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-452-6

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Inhalt

Vorwort

Brasilien 1950

Schweden 1958

Bildstrecke

Mexiko 1970

USA 1994

Brasilien 2014

Danksagungen


Vor meinem inneren Auge sehe ich noch immer meinen ersten Fußball.

Eigentlich war es ja nur ein zusammengebundenes Bündel Socken. Meine Freunde und ich „borgten“ sie uns von den Wäscheleinen der Nachbarn und kickten sie dann stundenlang durch die Gegend. Wir rannten laut krakeelend durch die Straßen und kämpften um diesen „Ball“, bis die Sonne unterging. Wie ihr euch denken könnt, waren manche Leute in der Nachbarschaft nicht allzu glücklich über unser Treiben! Wir aber waren verrückt nach Fußball und zu arm, um uns etwas anderes leisten zu können. Immerhin fanden die Socken stets zurück zu ihren Besitzern, obwohl sie dann ein wenig schmutziger als zuvor waren.

Später übte ich mit Grapefruits oder ein paar alten Spüllappen, die ich zu Bällen formte, oder auch einfach mit Abfall. Ich war schon fast ein Teenager, als wir schließlich mit echten Bällen zu spielen begannen. Während meiner ersten Weltmeisterschaft, die ich 1958 als Siebzehnjähriger bestritt, spielten wir mit einfach genähten Lederbällen – aber sogar die wirken mittlerweile wie Relikte. Immerhin hat sich das Spiel seither stark verändert. 1958 mussten Brasilianer einen Monat warten, bis sie das Finale zwischen Brasilien und den Gastgebern Schweden in der Wochenschau sehen konnten. Im Vergleich dazu sahen 3,2 Milliarden Menschen – ungefähr die Hälfte der Weltbevölkerung – das Finale der letzten Weltmeisterschaft zwischen Spanien und den Niederlanden via Fernsehen und Internet. Ich denke, es ist kein Zufall, dass die heutigen Bälle glatte, synthetische und bunte Kugeln sind, die in Windkanälen auf ihre Flugeigenschaften getestet werden. Auf mich wirken sie eher wie außerirdische Raumschiffe als etwas, gegen das man treten sollte.

Ich denke an all diese Veränderungen und sage mir: Mann, bin ich alt! Auch staune ich über die globalen Entwicklungen auf unserer Erde, die ich größtenteils positiv bewerten möchte. Wie konnte ein armer schwarzer Junge aus dem ländlichen Brasilien, der in staubigen Straßen gegen zusammengerollte Strümpfe und Gegenstände aus dem Müll trat, sich in das Zentrum eines weltweiten Phänomens spielen, für das sich Milliarden von Menschen begeistern?

In diesem Buch versuche ich einige der beeindruckenden Veränderungen und Ereignisse zu beschreiben, die meine Reise ermöglichten. Ich werde auch davon berichten, wie Fußball dazu beigetragen hat, die Welt zu einem etwas besseren Ort zu machen, indem er die Menschen zusammenbringt und benachteiligten Kindern wie mir Lebenssinn und ein Gefühl des Stolzes vermittelt. Dies ist keine herkömmliche Autobiografie, da ich nicht von allem, was mir je passiert ist, berichte. Stattdessen versuche ich, meine Geschichte als Spieler und als Mensch mit jener des Fußballs sowie der Welt im Allgemeinen zu verknüpfen. Daher konzentriere ich mich auf fünf verschiedene Weltmeisterschaften: Ich beginne mit jener Endrunde 1950, die in Brasilien stattfand und bei der ich noch ein kleiner Junge war, und schließe mit dem Turnier, das Brasilien voller Stolz 2014 ausrichtet. Diese Weltmeisterschaften markieren aus verschiedenen Gründen Meilensteine in meinem Leben.

Ich erzähle diese Geschichten voller Demut und großer Dankbarkeit. Ich danke Gott und meiner Familie für ihre Unterstützung. Ich danke all jenen Menschen, die sich die Zeit nahmen, mir auf meinem Weg beizustehen. Und ich danke auch dem Fußball, dem schönsten aller Spiele, dafür, dass er einem schmächtigen Jungen namens Edson erlaubte, sein Leben als „Pelé“ zu leben.

Edson Arantes do Nascimento, „Pelé“,

Santos, Brasilien, September 2013


- 1 -

„Gooooooooollllllllllll!!!!!!!!“

Wir lachten. Wir schrien. Wir hüpften auf und ab. Meine ganze Familie hatte sich in unserem kleinen Haus versammelt. Alle Familien im ganzen Land taten es uns gleich.

450 Kilometer entfernt kämpfte das mächtige Brasilien vor einem lautstarken Heimpublikum in Rio de Janeiro im Endspiel der Weltmeisterschaft gegen das winzige Uruguay um den Titel. Unser Team war der Favorit. Unsere Zeit war gekommen. Und in der zweiten Minute der zweiten Halbzeit entkam einer unserer Angreifer, Friaça, seinem Gegenspieler und schoss flach und scharf in Richtung Tor. Der Ball flog am Torwart vorbei ins Netz.

Brasilien – Uruguay 1:0.

Es war wunderschön – obwohl wir das Tor nicht mit eigenen Augen sehen konnten. Es gab kein Fernsehen in unserer kleinen Stadt. Um genau zu sein: Die allerersten Fernsehübertragungen Brasiliens fanden während genau dieser Weltmeisterschaft statt – aber nur in Rio. Also mussten wir uns, so wie die meisten Brasilianer, mit dem Radio begnügen. Meine Familie hatte ein gigantisches Gerät, das rechteckig war und runde Knöpfe sowie eine V-förmige Antenne besaß. Es stand in der Ecke unseres Wohnzimmers, in dem wir nun wie verrückt herumsprangen und johlten.

Ich war erst neun Jahre alt, aber ich werde dieses Gefühl nie vergessen: die Euphorie, den Stolz und die Vorstellung, dass meine beiden größten Lieben – Fußball und Brasilien – sich nun im Sieg vereinen würden. Ich erinnere mich an meine Mutter und ihr Lächeln. Und an meinen Vater, meinen Helden, der so rastlos in diesen Jahren war, getrieben von seinen eigenen zerbrochenen Fußball-Träumen, wie er plötzlich wieder jung war und von Freude überwältigt seine Freunde umarmte. Es sollte genau 19 Minuten lang so bleiben.

Wie Millionen andere Brasilianer musste auch ich erst noch eine harte Lektion lernen: Im Leben, wie im Fußball, ist nichts vorbei, bevor der Schlusspfiff ertönt.

Ach, aber wie hätten wir das auch wissen können? Wir waren ein junges Volk, eine junge Nation, die ein junges Spiel spielte.

Unsere Reise hatte gerade erst begonnen.

- 2 -

Vor diesem Tag, dem 16. Juli 1950, einem Datum, an das sich jeder Brasilianer wie an den Tod eines geliebten Menschen erinnert, wäre es schwer denkbar gewesen, dass es etwas gäbe, das unser ganzes Land zusammenbringen könnte.

Die Brasilianer wurden damals durch viele Dinge getrennt – die enorme Größe unseres Landes etwa. Unsere kleine Stadt namens Baurú, die hoch auf einem Plateau im Staat São Paulo liegt, schien eine ganze Welt von der glamourösen Strand-Metropole Rio, in der das entscheidende Spiel ausgetragen wurde, entfernt zu sein. Rio war ganz Samba, Tropenhitze und Bikini-Girls – eben das, was sich Leute in aller Welt vorstellen, wenn sie an Brasilien denken. In Baurú hingegen war es am Spieltag so kühl, dass Mama sich entschloss, den Ofen in unserer Küche anzufeuern – ein Aufwand, von dem sie sich erhoffte, dass er unsere Gäste vor dem Erfrieren bewahren würde.

 

Wenn wir uns schon weit weg von Rio fühlten, so kann ich mir nur vorstellen, wie es meinen brasilianischen Landsleuten im Amazonasgebiet, den riesigen Sümpfen des Pantanal oder der felsigen, kargen Sertão im Nordosten gegangen sein muss. Brasilien ist größer als die kontinentalen USA, und damals fühlte es sich sogar noch größer an. Damals konnten sich nur die Reichen Autos leisten. Es gab auch nur wenige asphaltierte Straßen, auf denen man mit ihnen hätte fahren können. Jemals etwas anderes als unsere Heimatstadt zu sehen, war ein vager Traum, der nur für wenige wahr wurde. Ich sollte erst mit 15 zum ersten Mal das Meer sehen, geschweige denn ein Mädchen im Bikini!

Aber in Wahrheit war es nicht nur die Geografie, die uns trennte. Brasilien, das auf vielerlei Arten ein reicher Ort ist, der mit Gold und Öl und Kaffee und Millionen von anderen Gaben gesegnet ist, kam einem oft wie zwei verschiedene Länder vor. Die Tycoone und Politiker in Rio hatten ihre Villen, ihre Pferderennbahnen und ihre Strandurlaube. Auf der anderen Seite hatte in jenem Jahr, 1950, als Brasilien zum ersten Mal die WM veranstaltete, gut die Hälfte der Bevölkerung nicht ausreichend zu essen. Nur jeder Dritte konnte gut lesen. Mein Bruder, meine Schwester und ich gehörten zu jener Hälfte, die üblicherweise barfuß ging. Diese Ungleichheit war in unserer Politik, unserer Kultur und unserer Geschichte verwurzelt – ich war ein Teil der erst dritten Generation meiner Familie, die als freie Menschen zur Welt gekommen war.

Viele Jahre später, nach meiner aktiven Karriere, traf ich den großen Nelson Mandela. Von den vielen Menschen, die ich kennenlernen durfte – darunter Päpste, Präsidenten, Könige und Hollywood-Stars – beeindruckte mich keiner mehr als er. Er sagte: „Pelé, hier in Südafrika gibt es viele unterschiedliche Menschen, die viele verschiedene Sprachen sprechen. In Brasilien gäbe es so viel Reichtum und nur eine einzige Sprache, Portugiesisch. Wie kommt es, dass dein Land nicht reich ist? Warum ist dein Land nicht geeint?“

Ich konnte ihm damals keine Antwort geben und habe auch heute nicht wirklich eine. Aber während meines 73-jährigen Lebens konnte ich den Fortschritt verfolgen. Und ich denke, dass ich weiß, womit es anfing.

Die Menschen können den 16. Juli 1950 verfluchen, so viel sie wollen. Ich habe Verständnis dafür. Aber ich glaube, dass wir Brasilianer uns an diesem Tag auf unsere lange Reise zu einer größeren Geeintheit begaben. Damals versammelte sich unser ganzes Land um das Radio, feierte und litt gemeinsam. Zum ersten Mal als eine Nation.

An jenem Tag begannen wir, die wahre Kraft des Fußballs zu begreifen.

- 3 -

Meine frühesten fußballerischen Erinnerungen drehen sich um spontane Spielchen auf unserer Straße, die zwischen kleinen Backsteinhäusern und Schlaglöchern auf der Fahrbahn stattfanden. Ich schoss Tore, lachte wie ein Verrückter und rang nach kalter, schwerer Luft. Wir spielten stundenlang, bis unsere Füße wehtaten, die Sonne unterging und unsere Mütter uns nach Hause riefen. Keine schmucke Ausrüstung, keine teuren Trikots. Nur ein Ball – oder eben etwas Ähnliches. Darin liegt viel der Schönheit dieses Spiels.

Fast alles, was ich mit dem Ball anstellte, lernte ich von meinem Vater, João Ramos do Nascimento. Praktisch jeder in Brasilien kannte ihn auch unter seinem Spitznamen – „Dondinho“.

Dondinho stammte aus einer Kleinstadt im Staat Minas Gerais, was auf Deutsch „Allgemeine Minen“ bedeutet. Dort wurde in den Kolonialzeiten der Großteil von Brasiliens Gold gefördert. Als Dondinho meine Mutter Celeste kennenlernte, leistete er gerade seinen Wehrdienst ab. Sie ging damals zur Schule. Sie heirateten, als sie gerade mal 15 war. Mit 16 war sie mit mir schwanger. Sie gaben mir den Namen „Edson“ nach Thomas Edison, da 1940, als ich geboren wurde, die elektrische Glühbirne erst kürzlich Einzug in ihre Stadt gehalten hatte. Sie waren davon so beeindruckt, dass sie sich mit meinem Namen vor dem Erfinder verneigen wollten. Obwohl sich herausstellte, dass sie einen Buchstaben ausgelassen hatten, gefällt mir mein Name sehr.

Dondinho nahm seinen Dienst in der Armee sehr ernst, aber sein Herz gehörte dem Fußball. Er war über einen Meter achtzig groß, ein Hüne für brasilianische Verhältnisse, und sehr versiert am Ball. Er war besonders kopfballstark. Einmal gelangen ihm während eines Spiels unglaubliche fünf Treffer per Kopf. Das dürfte wohl noch immer ein nationaler Rekord sein. Jahre später erzählten sich die Leute, nicht ganz ohne zu übertreiben, dass der einzige brasilianische Tor-Rekord, den Pelé nicht innehat, von seinem Vater gehalten wird.

Es war sicher kein Zufall. Ich bin sicher, dass Dondinho einer der besten brasilianischen Spieler hätte sein können. Er bekam nur nicht die Chance, es unter Beweis zu stellen.

Als ich geboren wurde, spielte mein Vater auf halbprofessioneller Ebene in einer Stadt in Minas Gerais namens Três Corações, was „Drei Herzen“ bedeutet. Ehrlich gesagt verdiente er nicht sehr gut dabei. Ein paar der großen Clubs bezahlten damals ganz gut, aber die große Mehrheit tat das nicht. Fußballspieler waren mit einem gewissen Makel behaftet – so wie auch Tänzer, Künstler oder jeder andere Beruf, dem Menschen aus Liebe und nicht wegen des Geldes nachgehen. Unsere junge Familie zog von Stadt zu Stadt, von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck. Einmal lebten wir ein ganzes Jahr im Hotel, aber nicht in einem sehr luxuriösen. Später scherzten wir, dass es ein Null-Sterne-Resort für Fußballer war – genauso wie für Handelsreisende und Penner.

1942, kurz vor meinem zweiten Geburtstag, sah es so aus, als würden sich die Entbehrungen bezahlt machen, als würde Dondinho der Durchbruch gelingen. Er erhielt ein Angebot von Atlético Mineiro, dem größten und reichsten Verein in Minas Gerais. Es wäre ein Fußball-Job gewesen, mit dem er die ganze Familie hätte ernähren können, vielleicht sogar mehr als das. Mein Papa war 25, er hatte seine Karriere also noch vor sich, aber in seinem ersten Match gegen São Cristóvão, einem Team aus Rio, ereilte Dondinho ein Schicksalsschlag. Er krachte in vollem Tempo gegen einen gegnerischen Verteidiger namens Augusto.

Das war nicht das Letzte, was man von Augusto hören sollte. Er erholte sich und setzte seine Karriere fort. Traurigerweise war dieser Vorfall aber auch so etwas wie der Höhepunkt in der Spielerlaufbahn meines Vaters. Sein Knie war irreparabel beschädigt. Es waren die Bänder, vielleicht der Meniskus. Ich schreibe „vielleicht“, da es damals noch keine Kernspintomographie gab. Eigentlich gab es damals auch noch gar keine nennenswerte Sportmedizin in Brasilien. Wir wussten oft nicht, was nicht mit uns stimmte, und schon gar nicht, was wir dagegen hätten tun können. Wir packten einfach Eis auf unsere schmerzenden Körperteile, lagerten sie hoch und hofften auf das Beste. Ich muss wohl nicht hinzufügen, dass Dondinhos Knie nie mehr wirklich heilte.

Da er nicht in der Lage war, ein zweites Spiel zu bestreiten, verlor Dondinho seinen Platz im Kader und wurde zurück zu Três Corações abgeschoben. Damit begannen unsere eigentlichen Wanderjahre, eine Phase, in der meine Familie permanent kämpfen musste, um über die Runden zu kommen.

Sogar wenn es uns relativ gut ging, war es hart. Dondinho war nun oft zu Hause, um sein Knie zu schonen. Er hoffte, dass es wieder irgendwie zusammenwachsen würde und er zurück zu Atlético könnte bzw. sich vielleicht eine andere lukrative Option auftäte. Ich kann ihn gut verstehen. Er hielt diesen Weg für die beste Möglichkeit, seiner Familie ein gutes Einkommen zu bieten. Aber wenn es ihm nicht gut genug ging, kam fast gar kein Geld herein. Und natürlich gab es im Brasilien der 1940er-Jahre auch keine soziale Absicherung. In der Zwischenzeit gesellten sich noch mehr hungrige Mäuler zu uns, mein Bruder Jair und meine Schwester Maria Lucia. Die Mutter meines Vaters, Dona Ambrosina, und der Bruder meiner Mutter, Onkel Jorge, zogen auch zu uns.

Meine Geschwister und ich trugen gebrauchte Kleidung, die manchmal auch aus Getreidesäcken genäht war. Für Schuhe reichte das Geld nicht. An manchen Tagen bestand das einzige Mahl, das uns unsere Mama bieten konnte, aus einem Stück Brot und einer Banane. Dazu vielleicht ein bisschen Reis und ein paar Bohnen, die Onkel Jorge von seiner Arbeit bei einem Gemischtwarenhändler mitbrachte. Nun, damit ging es uns im Vergleich zu sehr vielen Brasilianern ziemlich gut – wir gingen nie hungrig ins Bett. Unser Haus war nicht klein und stand auch nicht in einem Slum – oder einer Favela, um das brasilianische Wort zu benutzen. Aber das Dach war undicht, und Wasser rann während jedes Sturms auf unseren Fußboden. Und dann war da noch die ständige Unruhe, die wir alle, auch die Kinder, verspürten, da wir nicht wussten, woher die nächste Mahlzeit kommen würde. Jeder, der in Armut gelebt hat, kennt diese Unsicherheit, diese Angst, die, sobald sie erst einmal in deine Knochen gekrochen ist, dich nie mehr loslassen wird. Ganz ehrlich, manchmal spüre ich sie heute noch.

Die Dinge wendeten sich zum Besseren, als wir nach Baurú übersiedelten. Papa bekam einen Job in der Casa Lusitania – einem Gemischtwarenhandel, der demselben Mann gehörte, der auch den BAC, den Baurú Athletic Club, besaß. Dieser Club war einer von zwei halbprofessionellen Vereinen in der Stadt. Unter der Woche arbeitete Dondinho als Bote, kochte und servierte Kaffee und verteilte die Post. Was eben so anfiel. Am Wochenende war er der Star-Angreifer des BAC.

Auf dem Feld zeigte mein Papa, wenn er fit war, ansatzweise die Genialität, die ihn einst beinahe bis fast ganz nach oben gebracht hatte. Er schoss viele Tore, womit er BAC zu einem Meistertitel der halbprofessionellen Liga in São Paulo verhalf. Er hatte auch ein gewisses Charisma, eine elegante und fröhliche Art, die er trotz der Rückschläge, die er als Fußballer hinnehmen musste, stets behielt. So ziemlich jeder in Baurú wusste, wer er war. Er war sehr beliebt. Egal, wo ich hinging, kannte man mich als Dondinhos Sohn – ein Titel, auf den ich heute ebenso stolz bin, wie ich es damals war. Aber die Zeiten waren immer noch schwierig. Ich erinnere mich, dass ich mir schon damals dachte, es sei unnütz, berühmt zu sein, wenn man kaum genug zum Überleben verdient.

Vielleicht hätte sich Dondinho nach einer anderen Beschäftigung umsehen können. Aber der Fußball kann sowohl großzügig als auch grausam sein. Diejenigen, die sich von ihm verzaubern lassen, können sich nie mehr wirklich lösen. Als Dondinho merkte, dass sein eigener Traum nicht mehr wahr werden würde, begann er, sich mit Herz und Seele in den Dienst des Traumes eines anderen zu stellen.

- 4 -

„Du glaubst also, dass du was draufhast?“

Ich starrte auf meine Füße und lächelte.

„Kick den Ball hier hin“, sagte er, während er auf einen Fleck an unserer Hausmauer zeigte.

Wenn es mir gelänge zu treffen, was üblicherweise der Fall war, würde er kurz grinsen, nur um dann ganz abrupt wieder ernst zu werden.

„Sehr gut! Jetzt mit dem anderen Fuß!“

Volltreffer!

„Jetzt mit dem Kopf!“

Volltreffer!

So ging das viele Stunden, manchmal bis spät in die Nacht, nur wir zwei, er und ich. Das waren die fundamentalsten Grundlagen: dribbeln, schießen, passen. Wir durften in der Regel nicht auf das örtliche Spielfeld, also nutzten wir die Plätze, die sich uns boten. Das waren unser winziger Innenhof und die Straße, in der sich unser Haus befand, die Rubens-Arruda-Straße. Manchmal erzählte er mir Geschichten von Spielen, die er bestritten hatte. Dann zeigte er mir Tricks, die er gelernt oder selbst erfunden hatte. Gelegentlich erzählte er mir auch von seinem älteren Bruder, einem Mittelfeldspieler, der aber schon mit 25 gestorben war – eine weitere vielversprechende Karriere eines Nascimentos, die nie zur vollen Blüte hatte reifen dürfen.

Meistens ließ er mich fußballerische Grundlagen trainieren. Rückblickend waren einige seiner Übungen ziemlich witzig. So band er etwa den Ball an den Ast eines Baumes und ließ mich stundenlang mit dem Kopf dagegenspringen. Aber das war ein Kinderspiel im Vergleich zu Dondinhos Methode, mir beizubringen, einen Ball richtig ins Tor zu köpfen. Er schnappte sich den Ball und donnerte ihn mir mit voller Wucht immer wieder gegen die Stirn. Er schrie: „Nicht blinzeln! Nicht blinzeln!“ Sein Ansatz war, dass ich lernen müsse, die Augen offen zu halten, um den Ball gut platzieren zu können. Er befahl mir sogar, mir den Ball selbst gegen den Kopf zu knallen, wenn ich alleine sei. Nun, das tat ich dann auch. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, wie albern das ausgesehen haben muss. Allerdings hielt Dondinho das für sehr wichtig – und er hatte recht. Diese Übung sollte mir später sehr zugutekommen.

 

Dondinho wollte, dass ich mich neben dem Kopfballspiel auf zwei Fertigkeiten besonders konzentriere: Erstens sollte ich den Ball während des Dribbelns ganz eng am Körper führen und zweitens auf meine Beidfüßigkeit achten.

Warum betonte er diese Dinge? Vielleicht wegen der kleinen Plätze, auf denen wir kickten – den Straßen, Gassen und Höfen von Baurú. Aber womöglich auch, weil meinem Vater auffiel, wie klein und schmächtig ich war. Als Erwachsener sollte ich lediglich einen Meter siebzig groß werden, und es zeichnete sich damals schon ab, dass ich eher kurz geraten würde. Also würde ich ganz anders als Dondinho über keinerlei körperliche Vorteile auf dem Spielfeld verfügen. Da ich meine Gegenspieler weder umrennen noch höher als sie würde springen können, musste ich lernen, den Ball zu einer Verlängerung meines Körpers zu machen.

Dondinho brachte mir alle diese Dinge bei, wobei man anmerken muss, dass dies für ihn durchaus riskant war. Denn meine Mutter verabscheute die Vorstellung, dass ihr ältester Sohn ein Fußballer werden könnte. Und wer konnte ihr das verdenken? Für Dona Celeste war Fußball eine Sackgasse. Es war ein Weg, der in die Armut führte. Sie war eine starke Frau, die stets über uns wachte. Sie bewahrte stets einen klaren Kopf in einem Haushalt voller Träumer. Sie wollte, dass ich in meiner Freizeit für die Schule lernte, damit ich es später zu etwas brächte. Damals wie heute war sie der gute Engel auf unseren Schultern, der uns ermutigte, das Richtige zu tun. Sie wollte ein besseres Leben für uns. Deshalb rügte sie mich jedes Mal scharf, wenn sie mich beim Fußballspielen erwischte. Mitunter nicht nur verbal!

Obwohl sie es nur gut meinte, konnte meinen Vater und mich nichts bremsen. Was hätte sie tun sollen? Wir waren beide infiziert. Und schließlich kam der Zeitpunkt, als Dona Celeste aus dem Haus kam, uns beim Kicken sah, ihre Hände in die Hüften stemmte und resignierend seufzte:

„Wunderbar. Dein ältester Sohn! Komm bloß nicht angerannt, wenn er später hungert statt Medizin oder Recht zu studieren!“

Dondinho legte daraufhin einen Arm um sie und lachte.

„Sorge dich nicht, Celeste. Bis er seinen linken Fuß nicht unter Kontrolle hat, gibt es nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest!“

Der Elternteil, dessen eigene sportlichen Ambitionen zum Scheitern verurteilt waren und der nun eine Tochter oder einen Sohn trainiert, damit sie seine Träume erfüllen, ist eine alte Geschichte – und eine tückische obendrein. Manche Kinder lehnen die Belastung ab, die mit diesen Erwartungen verbunden ist. Andere wiederum drehen angesichts des Drucks einfach durch. Manche wollen nie wieder gegen einen Ball treten.

Ich war da anders, weil ich Fußball einfach liebte. Ich genoss es, den Ball an meinem Fuß und die Sonne in meinem Gesicht zu spüren. Ich schätzte das Gemeinschaftsgefühl eines Teams und die Elektrizität, die durch meine Venen schoss, wenn ich ein Tor erzielte. Aber am meisten liebte ich es, Zeit mit meinem Papa zu verbringen. Während all dieser Stunden, die wir trainierten, dachte Dondinho wohl nie daran, dass ich reich oder berühmt werden würde. Damals zumindest noch nicht. Er liebte einfach nur das verdammte Spiel – und wollte seinem Sohn diese Liebe vermitteln.

Er hatte Erfolg damit. Und ich muss anmerken, dass diese Liebe nie nachgelassen hat. Sie sitzt tief in mir drin, so wie eine Religion oder eine Sprache, die man von klein auf erlernt. Mein Papa ist nicht mehr bei uns. Allerdings kann ich bis heute nicht die Liebe für das Spiel von meiner Liebe zu meinem Vater trennen.

- 5 -

Im Laufe meines Lebens sollte ich die Ehre haben, in beinahe jedem herausragenden Stadion der Welt auflaufen zu dürfen – darunter das Maracanã in Rio, Camp Nou in Barcelona und sogar das Yankee Stadium in New York City. Aber meine ersten Auftritte absolvierte ich auf der geweihten Erde des „Rubens-Arruda-Stadions“, welches eigentlich kein Spielfeld im herkömmlichen Sinne war, sondern vielmehr die staubige Straße vor unserem Haus in Baurú. Die Kinder aus der Nachbarschaft waren meine ersten Kontrahenten. Alte Schuhe dienten uns als Torpfosten. Die Häuser lagen jenseits der Spielfeldbegrenzung – jedenfalls meistens. Und wenn ein verirrter Schuss eine Straßenlaterne oder ein Fenster in Mitleidenschaft zog, so rannten wir wie die Irren davon, obwohl die Schuld meistens an mir hängenblieb, da ich weithin als der größte Fußballnarr unserer Gruppe galt. Das war der Nachteil daran, Dondinhos Sohn zu sein.

Unsere Spiele unterstrichen meine Behauptung, dass Fußball die Menschen wie keine andere Aktivität zusammenbringe. Für andere Sportarten wie Baseball, Cricket oder American Football braucht man allerlei Ausrüstung und streng organisierte Teams. Das war nichts für arme, chaotische Kinder aus einem Ort wie Baurú. Für Fußball brauchten wir bloß einen Ball. Man konnte eins gegen eins oder elf gegen elf spielen – es war derselbe Spaß.

In meiner Nachbarschaft fanden sich zu jeder erdenklichen Tageszeit mindestens sechs bis zehn Kinder, die spielen wollten. Unsere Mütter waren in der Nähe, damit sie ein Auge auf uns haben konnten. Allerdings gab es nicht viel, worüber sie sich in dieser brasilianischen Kleinstadt der 1940er hätten Sorgen machen müssen – es gab keine Autos, kaum Gewaltverbrechen, und jeder kannte jeden.

Also fand praktisch ständig irgendein Match im Rubens-Arruda-Stadion statt, wenn nicht der Schiedsrichter – also meine Mutter – das Spiel unterbrach.

Eine andere Sache, die den Fußball so toll macht, ist, dass buchstäblich jeder mitspielen kann. Es ist egal, ob jemand klein, groß, stark oder geschickt ist, solange man laufen und schießen kann. Daher zogen unsere Partien alle möglichen Kinder an. Jede unserer Mannschaften war eine Miniaturausgabe der Vereinten Nationen: Da waren syrisch-, portugiesisch-, italienisch-, japanischstämmige Kinder und natürlich viele Afrobrasilianer wie ich.

Auf diese Weise stellte Baurú auch ein gutes Abbild von Brasilien dar, das so viele Immigranten aus der ganzen Welt aufgenommen hatte. Es war ein echter Schmelztiegel, nicht weniger vielfältig als die USA. Nicht viele Ausländer wissen etwa, dass São Paulo die größte japanische Community außerhalb Japans beherbergt. Baurú lag 350 Kilometer von São Paulo entfernt und war gefühlt eine Million Mal kleiner, aber auch zu uns kamen Immigranten, die auf den Kaffee-Plantagen außerhalb der Stadt Arbeit suchten. Meine Nachbarn hatten Nachnamen wie Kamazuki, Haddad und Marconi. Der Fußball ließ uns über etwaige Unterschiede zwischen uns hinwegsehen, und nach den Spielen ging ich mit zu ihnen nach Hause, um mit ihnen Yakisoba, Kebbe oder auch nur brasilianische Bohnen zu essen. Es war eine tolle Art, die Welt kennenzulernen, und weckte in mir schon früh den Wunsch, mich mit anderen Kulturen zu beschäftigen, wozu ich in den folgenden Jahren oft genug die Möglichkeit bekommen sollte.

Ich konnte es kaum erwarten, mit dem Spielen anzufangen, daher war ich auch derjenige, der in der Regel die Teams einteilte. Eine komplizierte Angelegenheit. Warum? Nun ja, ich will nicht unbescheiden klingen, aber die Trainingseinheiten mit Dondinho fingen an, sich auszuzahlen. Und das wurde zu einem Problem. Meine Mannschaft gewann ihre Spiele mit Resultaten wie 12:3 oder 20:6. Manche Kinder, sogar solche, die älter als ich waren, begannen sich zu weigern, gegen uns anzutreten. Also versuchte ich, sie zu beruhigen, indem das Team, in dem ich spielte, in Unterzahl gegen sie auflief. Als auch das nicht mehr half, stellte ich mich für die erste Halbzeit als Goalie ins Tor, damit der Spielstand vorerst ausgeglichen blieb. Erst in der zweiten Hälfte kam ich in der Offensive zum Zug. Die Entscheidung, mich damals so oft zwischen die Pfosten zu stellen, würde im Verlauf meines Lebens noch auf seltsame Weise Nachhall finden und mir schließlich auch meinen Spitznamen einbringen – denjenigen, unter dem mich die ganze Welt kennt.

Die brasilianischen Spitznamen sind eine lustige Sache – beinahe jeder hat einen, manche haben aber auch drei oder vier. Damals kannte man mich noch als „Dico“ – meine Familie nennt mich sogar heute noch so. Mein Bruder Jair war als „Zoca“ bekannt. Wenn Zoca und ich nicht gerade Fußball spielten, erlebten wir mit unseren Freunden viele Abenteuer in der ganzen Stadt – der Bahnhof etwa befand sich nur wenige Blocks von unserem Haus entfernt. Wir hingen dort herum, um uns die Leute anzusehen, die aus São Paulo oder sonst wo eintrafen. Es war unser Fenster zur weiten Welt. An anderen Tagen fischten wir im Fluss, direkt unter einer Eisenbahnbrücke. Freilich konnten wir uns keine Angelruten mit Spulen leisten, deshalb liehen wir uns runde, mit Holz eingefasste Siebe, um mit ihnen die Fische aus dem Wasser zu schöpfen. Oft liefen wir mit unseren Freunden in den Wald, der die Stadt umgab, um dort frische Mangos und Pflaumen von den Bäumen zu pflücken oder um Vögel zu jagen. Eine dieser Vogelarten hieß Tiziu, was kurze Zeit dann auch einer meiner Spitznamen war. Tizius sind nämlich schwarz, klein und schnell.