Zweimal Wachtel, einmal Lachs

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Zweimal Wachtel, einmal Lachs

Theo Regnier

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2012 Theo Regnier

ISBN 978-3-8442-5657-4

I

1

Alois Ertl brüllte gegen den Verkehrslärm an, der das Telefonhäuschen am Rande der Kreuzung fest im Griff hatte. Irgendein widriger Umstand sorgte dafür, dass die Tür der Telefonzelle wie angeschraubt offen stand.

„Kaiserschnitt!“ schrie er in den Hörer, aber doch nicht laut genug, dass seine Mutter es verstanden hätte. „Kai-ser-schnitt!“

Er warf einen raschen Blick auf seinen Zettel: „37 Zentimeter! Der Kopfumfang, ja!“

Zwei Handwerker in blauen Latzhosen standen vor der offenen Telefonzelle und tauschten einen belustigten Blick. Der eine kramte umständlich in seinen Taschen nach Kleingeld.

Seine Mutter sagte etwas, was im Rumpeln eines vorbeifahrenden Getränkelasters unterging.

„Was sagst? Ich versteh dich nicht, Mama! Herrschaftszeiten!“

Wieder zerrte er an der Tür, die keinen Millimeter nachgab.

„Was? Nein, die Scheißtür von dem Telefonhäusl geht nicht zu!“

Ein Polizeiwagen bretterte mit Blaulicht und Martinshorn über die Kreuzung. Entnervt gab er auf.

„Ich ruf euch nachher noch mal an, Mama! Was sagst?“ Er hielt sich das freie Ohr mit dem Zeigefinger zu. „Ja logisch, bevor ihr ins Bett geht!“

Er hängte den Hörer ein. Frisch aufkreuzende Böen eines empfindlich kalten Windes aus wechselnden Richtungen ließen ihn frösteln. Jetzt erst

fiel ihm auf, dass er seinen Mantel im Krankenhaus vergessen hatte. Er rieb sich die Oberarme.

„Gratuliere“, sagte der mit dem Kleingeld.

„Danke“, sagte Alois ermattet.

Der Handwerker drückte die Tür ein Stückchen weiter auf und trat einen Stein weg, der sich an der Unterkante verklemmt hatte. Die Tür schwang leicht und lautlos zu. Sein Kollege nickte aufmunternd in Richtung Alois und zündete sich eine Zigarette an.

Ungläubig starrte er auf die Tür des Telefonhäuschens.

Dann machte er sich missmutig auf den Weg zurück ins Schwabinger Krankenhaus, um seinen Mantel zu holen.

Eine kraftlose Aprilsonne schob sich über den Luitpoldpark in Richtung Olympiaturm.

Als unmittelbar neben ihm ein Taxi anhielt und einen Fahrgast aussteigen ließ, änderte er seine Pläne. Er deutete mit dem Zeigefinger an, dass er mitfahren wollte. Der Fahrer winkte ihn herein.

Erschöpft ließ er sich auf den Rücksitz sinken.

„Schleißheimer Straß’ bittschön. Ins Bräustüberl.“

„Bräustüberl“, sagte der Fahrer mit ausländischem Akzent, „wie Sie wünschen.“

Alois entging der herablassende Tonfall nicht.

„Haben Sie was gegen das Bräustüberl?“ fragte er.

„Warum gehen Sie nicht zu Dimitri, gleich schräg gegenüber?“

„Weil ich im Bräustüberl verabredet bin.“

„Bei Dimitri können Sie sehr gut essen und trinken. Seine Frau kocht phantastisch. Sie macht die besten Bifteki von ganz München.“

„Das mag ja sein“, sagte Alois desinteressiert.

„Dimitri kommt aus Patras, genau wie ich.“

„Ich bin heute Vater geworden“, sagte er voller Stolz, als könnten Bifteki bei Dimitri diesem Ereignis nicht gerecht werden. „Ein Sohn.“

„Dann sage ich herzlichen Glückwunsch“, sagte der Taxichauffeur feierlich, „ein Sohn, das ist schön! Ich habe eine Tochter.“ In seiner Stimme schwang eine Spur von Selbstmitleid mit.

„Ein Madel, das ist doch auch was Schönes“, tröstete ihn Alois.

„In meiner Familie kriegen sie alle nur Mädchen.“ Der Fahrer suchte im Rückspiegel den Blickkontakt mit seinem Fahrgast. „Mein Bruder, meine Schwester, haben alle nur Töchter! Da kann man nichts machen, oder? Aber Sie, Sie haben Glück.“

„53 Zentimeter, 4180 Gramm, Kopfumfang 37 Zentimeter.“ Er brauchte jetzt keinen Zettel mehr.

„Der wird mal groß und stark. Wie sein Vater“, lachte der Fahrer.

Alois befand für sich, dass er einen für Münchner Verhältnisse ungewöhnlich sympathischen Taxifahrer erwischt hatte. Trotzdem wollte er das so nicht stehen lassen.

„Ich bin ja eher untersetzt“, sagte er, „mit meinen einsvierundsiebzig.“

Letzteres war geschummelt, denn in Wahrheit maß er einen Zentimeter weniger.

„Wenn Sie ein bisserl die Heizung aufdrehen könnten“, bat er.

„Kein Problem.“

Im Bräustüberl fiel ihm Mona, die freitags hier bediente, um den Hals.

„Ein Bub“, sagte er, „Tobi. Also eigentlich Tobias.“

„Mei, so eine Freude, Alois, ich gratulier dir ganz herzlich. Und wie geht’s der Lissi?“

„Kaiserschnitt. Alles gut gegangen. Aber der Lissi hat’s ganz schön das Gestell zusammengehaut.“

„Das ist ja auch eine Mordsnarkose, bei einem Kaiserschnitt“, sagte Mona wissend.

„Ja, nein, schon vorher. Die Lissi hat sich stundenlang geplagt, dass es ohne geht. Ich sag dir’s, ich war am Schluss fix und fertig.“

Er ließ sich an der Stirnseite des Stammtisches, auf dem ein „Reserviert“-Schild stand, auf einen Stuhl fallen, stützte seinen Kopf mit beiden Armen auf der Tischplatte ab und gähnte herzhaft.

„Ja, Burschi, dein Weißbier kommt gleich“, rief Mona einem Gast zu, der mit ausgebreiteten Händen vorwurfsvoll zu ihr herüberblickte, und fügte etwas leiser hinzu: „Beim Zahlen pressiert’s ihm net so.“

Sie blickte zur Wanduhr hoch. „Ja sag einmal, was ist denn mit deinen Leuten?“

„Die werden schon noch kommen“, meinte er, richtete seinen Oberkörper wieder auf und drückte mit angewinkelten Armen die Schulterblätter gegeneinander. „Bring mir derweil einen Schweizer Wurstsalat, Mona. Und eine Halbe Bier.“

Eigentlich hätte seine Blaskapelle heute ihren Probenabend gehabt, aber er hatte von vornherein gesagt, man dürfe nicht auf ihn zählen, schließlich wisse er nicht, wie lange er seiner Frau im Krankenhaus beistehen müsse. Dafür hatten seine Mitspieler Verständnis, und der Biermeier, der die musikalische Leitung innehatte, setzte die Probe kurzerhand ab und erklärte den Abend zu einem geselligen Treffen, getragen von der Hoffnung, Lissi möge rechtzeitig niederkommen und Alois in die Spendierhosen zwingen.

Er hatte nicht einmal seinen Schweizer Wurstsalat aufgegessen, als Helmut, der Posaunist, hereinkam und noch in der Tür „Und?“ durch den Raum brüllte, was Alois mit empor gerecktem Daumen beantwortete. Helmut riss ihn an sich und ließ ihn lautstark hochleben.

„Ja passt schon“, sagte Alois etwas verlegen und machte, da andere Gäste auf sie aufmerksam wurden, eine dämpfende Handbewegung. Deswegen würde Helmut seine weithin vernehmliche Stimme nicht senken, das war klar. Es gehörte nämlich zu seinem Naturell, laut zu sein, als habe ein frühkindliches Trauma eine lebenslange Furcht vor Stille in ihm ausgelöst. Ob er nun redete oder lachte, Posaune spielte oder auf seiner Harley Davidson vorfuhr, alles an ihm war laut und lärmend und entsprach seinem massigen Körper mit dem gedrungenen Nacken.

„Ein Sohn, das wird teuer, Alois“, dröhnte er, und natürlich sollte er recht behalten, denn bis auf den Klarinettisten Hans, der fast immer fehlte, wenn ein geselliges Beisammensein angesagt war, erschien die Blaskapelle im Dutzend und erwies dem frischgebackenen Vater die Ehre.

„Schreibst alles auf einen Deckel, Mona“, sagte er.

Auf dem Weg zur Toilette schwankte er bereits leicht. Er stieß mit der Schulter gegen das Münztelefon an der Wand. Das erinnerte ihn an etwas. Er fingerte ein Fuchzgerl aus seiner Jackentasche und warf es ein. Er ließ es lange läuten, bis sein Vater am anderen Ende abhob.

„Servus, Papa, da ist der Alois“, sagte er. Nach zwei Obstlern und ein paar Bier wollte ihm nicht einmal mehr der eigene Name leicht über die Lippen kommen.

„Servus, Bua. Wart, ich geb’ dir die Mama.“

Während er wartete, sah er, wie Helmut auf die Musikbox zusteuerte, eine bonbonfarbene Wurlitzer Modell 1015.

„Helmut!“ rief er und wedelte abwehrend mit dem Arm. Helmut drehte sich kurz um, winkte zurück und warf eine Münze in den ehrwürdigen Schallplattenaltar aus Chrom und Glas mit den rotierenden Lichtsäulen.

„Mama, ich bin’s noch mal“, sagte er.

Gleichzeitig schepperte aus der Wurlitzer der Schlager Ganz in Weiß, was für Helmut sozusagen eine logische Wahl darstellte, denn er hielt Roy Black für den „größten Sänger aller Zeiten“, erst recht, seit er dem Schlagerstar persönlich auf dem Hof einer Reifenfirma begegnet war und

ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte. Außerdem wusste er, wo man die Musikbox lauter stellen konnte.

„Helmut!“ rief Alois flehend, aber der hörte ihn jetzt natürlich nicht mehr. „Nein, Mama, das war der Helmut, der hat die Musikbox so laut gestellt. Ich ruf euch morgen an.“

Er hängte den Hörer ein. Fast wäre er mit dem Biermeier zusammengestoßen, der gerade von der Toilette kam. Der Biermeier spielte in ihrer Kapelle Tenorsaxophon und sprach nie von ihrer Blaskapelle, sondern immer von Blasorchester. Weil er selbst ja auch etwas Besseres war, der Biermeier, dem in der Gabelsberger Straße ein Mietshaus gehörte und der ein cremefarbenes Mercedes-Cabrio mit mokkabraunem Stoffverdeck fuhr.

„Dein Tobi stößt in eine Lücke“, sagte der Biermeier, „weißt du das, Alois?“

„Was denn für eine Lücke?“ fragte er misstrauisch zurück. Der Biermeier galt als hinterkünftig, man musste bei ihm darauf gefasst sein, dass einer harmlosen Eröffnung eine schleichende Boshaftigkeit folgte.

 

„Ja hast du das nicht mitgekriegt? Der Paul McCartney, heut’ im Fernsehen!“

„Ich hab nicht ferngeschaut, ich war im Krankenhaus. Was ist mit dem Paul McCartney?“ Seine Stimme bekam einen leicht gereizten Klang.

Biermeier verdrehte die Augen. „Alois! Die Beatles haben sich aufgelöst! Schluss, aus, Nikolaus. Hat der Paul McCartney heut’ offiziell bekannt’geben. Da schaust, was?“

Diese Meldung hatte er tatsächlich nicht mitbekommen. Er verstand allerdings nicht, was die Beatles mit seinem Tobi zu tun haben könnten.

„Jetzt kannst eine Anzeige aufgeben, in der Zeitung“, sagte der Biermeier.

„Was für eine Anzeige?“

Der Biermeier zog mit zwei Fingern eine imaginäre Textzeile in die Luft: „Beatles weg - Tobi da.“

Er maß den Biermeier mit einem ungläubigen Blick.

„Was sagst, ist das eine Geburtsanzeige oder nicht?“, fragte der Biermeier nicht ohne Stolz.

„Geburtsanzeige wollten wir eigentlich keine aufgeben“, sagte er.

Der Biermeier richtete den Zeigefinger auf ihn. „Überleg dir das, Alois. Weil, das könnte ja auch etwas bedeuten, dass das auf einen Tag fällt, das Ende von den Beatles und der Anfang vom Tobi.“ Er schlug Alois vor Begeisterung auf die Schulter und berauschte sich an seiner Idee: „Stell dir nur einmal vor, das wird ein Musiker, dein Tobi. Was sagst? Ja warum denn nicht? Vielleicht sogar mit eigenem Orchester. Dann wär’ nämlich so eine Geburtsanzeige so was wie ein Dokument, verstehst? Sozusagen ein musikalisches Weltdokument!“

Der Biermeier verträgt auch nichts mehr, dachte Alois.

„Ja mei“, sagte er, „da müsste ich erst einmal mit der Lissi reden.“ Er schob sich kurzerhand an seinem Orchesterchef vorbei, weil der Druck auf seine Blase mächtig stark geworden war.

In der Wurlitzer besang jetzt Roy Black Das Mädchen Carina.

„Schau dir die Öhrchen von unserem Tobi an“, sagte er zu seiner Frau, „ich sag dir’s, das wird einmal ein Musiker.“

Lissi richtete sich in ihrem Wochenbett auf, nahm den Säugling vorsichtig hoch und musterte seine Ohren. „Woran willst denn das erkennen?“, fragte sie.

„An den Ohrmuscheln. Es gibt musikalische Ohren, die verraten ein musikalisches Gehör. Gehör und Gestaltungsfähigkeit. So wie die vom Tobi.“

„Das hat er sicher von dir“, sagte sie und war in diesem Augenblick stolz auf ihre beiden Männer.

„Wirst es sehen“, schob er nach und tippte zweimal kurz das Ohrläppchen vom Tobi an: „Gell, du Schlawiner.“

Sie gab ihm einen Klaps auf die Hand: „Geh, so was sagt man doch nicht.“

Er lachte, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Der alte Scheffler hat die Grätsche gemacht. Herzinfarkt. Genau.“

Sie legte erschrocken die Hand vor den Mund. Hermann Scheffler führte seit vielen Jahren im Erdgeschoss ihres Wohnhauses in der Arcisstraße einen Laden für Schreibwaren, Zeitschriften und Zigaretten. Die Schefflers und die Ertls verband eine gute Nachbarschaft.

„Der Herr Scheffler!? Ja um Gottes willen.“

„Heute Morgen ist ein Zettel in der Tür vom Laden gehängt. Wegen Todesfall geschlossen.“

„Die arme Frau Scheffler. Die kann doch den Laden nicht allein weiterführen, sie mit ihrem schweren Zucker“, bedauerte Lissi die Nachbarin.

„Ganz ausgeschlossen. Wie soll die denn die schweren Zeitungspakete tragen?“

Lissi schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, nein, so was...“

„Aber so ist das“, sagte er, „die einen kommen, die andern gehen. Weißt du, dass unser Tobi am selben Tag auf die Welt gekommen ist, an dem die Beatles ihre Band aufgelöst haben? Zehnter April 1970. Genau.“

Das hatte sie noch nicht gehört, hielt es aber für einen Zufall.

„Zufall, Lissi, das sagt sich so leicht“, grübelte er.

„Ja was denn sonst?“, fragte sie verständnislos zurück.

Er legte eine Kunstpause ein, ohne dadurch die Spannung wesentlich zu erhöhen. Sie wartete geduldig auf seine Antwort.

„Ja mei, so genau weiß ich das auch nicht“, sagte er schließlich, „aber weißt du, ob’s nicht doch wen gibt, der am großen Radl dreht?“

Das wusste sie nicht, und gerade weil sie es nicht wusste, erschien ihr der Zufall als Erklärung für ein zeitliches Zusammenfallen ortsferner Ereignisse am schlüssigsten, während er - jedenfalls gegenwärtig - zu der Ansicht neigte, es gäbe vielleicht doch so etwas wie ein Stellwerk des Schicksals, das für die einen die Weichen hin zu Ruhm und Glanz stellte, die anderen auf Abstellgleise führte oder gar in den Abgrund. Die Einflüsterungen des Kollegen Biermeier erwähnte er lieber nicht.

Als Ertl senior und seine Frau Katharina hereinkamen, mit einem großen Blumenstrauß für Lissi und einem Amulett am Silberkettchen für das Enkelkind, war das Thema vertagt.

„Das Amulett könnts ihm für später aufheben“, sagte die Oma.

„Montag gehen wir auf die Sparkasse, da legen wir ein Sparbuch für den Tobi an“, sagte Ertl senior, der dem Amulett, das einen Widder darstellte, nicht viel abgewinnen konnte. „Ein Sparbücherl, da hat der Bub was g’scheits.“

„Das Amulett ist ja bloß ein Mitbringsel“, rechtfertigte die Oma den Kauf. „Aber es ist 925er Silber.“

Ertl senior wahrte Abstand zu Mutter und Kind, weil er eine herannahende Erkältung in sich verspürte. Deshalb wollte er auch nicht lange bleiben und behielt Lodenmantel und Hut gleich an. Die glückselige Oma drückte ihr Enkelkind an die Brust und war gänzlich hingerissen, und am liebsten hätte sie das kleine Buzilein gleich mitgenommen in ihr Häuschen am nördlichen Rand von Milbertshofen: „Da baut dir der Opa eine Schaukel in den Garten, da wirst schau’n.“

Lissi wollte sogar gesehen haben, wie Tobi den Mund zu einem Lächeln verzog, als die Oma ihn in ihre Arme nahm.

„Ist der Tobi schon Mitglied bei den Bayern?“ fragte Ertl senior seinen Sohn, der statt zu antworten mit beschwörenden Gesten um Schweigen bat.

Lissi war so sehr mit dem Säugling beschäftigt, dass sie die Frage überhört hatte.

„Hast den Tobi noch nicht angemeldet beim FC Bayern? Das hast doch machen wollen, Alois“, blieb Ertl senior hartnäckig.

„Der alte Scheffler ist tot, habts es schon gehört?“ unternahm Alois einen angestrengten Versuch, das Thema zu wechseln.

Aber diesmal hatte Lissi die Frage ihres Schwiegervaters mitbekommen. Sie schaute aufmerksam zu ihrem Mann hinüber.

„Ja, das haben wir schon gehört“, sagte die Oma, „so ein netter Mann, der Herr Scheffler, wirklich schad.“

„Genau“, sagte Alois erleichtert, „Herzinfarkt. Er muss aber schon länger Probleme mit dem Herz gehabt haben, gell, Lissi?“

„Du hast den Tobi beim FC Bayern angemeldet?“ fragte Lissi.

„A nix“, versuchte er das Thema zu überspielen, „wir haben bloß so geredet, der Papa und ich.“

„Die Ertls waren schon immer Mitglied bei den Bayern“, sagte Ertl senior mit fester Stimme, „jedenfalls die Männer.“

Lissi kannte ihren Mann gut genug, um in seinem schuldbewussten Blick lesen zu können. „Das hättest du mir ruhig sagen können, Alois.“

Er blickte vorwurfsvoll zu seinem Vater und schüttelte in verhaltenem Ärger den Kopf.

„Vom ersten Erdentage an ein Bayern-Mitglied“, sagte Ertl senior und schaute dabei seine Schwiegertochter an, „das ist doch keine Schande.“

„Wenn aus dem Tobi ein Fußballer wird, dann schlagt er besser nicht nach dir und dem Alois“, sagte Oma Ertl mit mildem Spott, „weil ihr zwei habts nicht viel zerrissen auf dem Fußballplatz.“

„Ja wann hab denn ich Fußball gespielt?“, sagte Ertl senior leicht empört. „Ich hab’ ja offiziell gar nicht spielen dürfen. Meine Mutter hat mich immer ausgeschimpft, wenn sie mir draufgekommen ist, dass wir auf dem Sportplatz gewesen sind. Fußball ist ein Sport für Proleten, hat sie gesagt.“

„Und ich hab mit vierzehn die Brille gekriegt“, trug Alois zu seiner Rechtfertigung vor. „Das war schon ein Handicap, das musst auch einmal sehen.“

„Du warst zu klein für einen Torwart“, sagte sein Vater. „Im Tor brauchst du große. Aber du hast immer ins Tor wollen.“

Alois breitete resignierend die Arme aus.

„Das dauert noch ein bisserl, bis der Tobi gegen einen Ball tritt, gell Tobi?“, sagte Lissi, und küsste liebevoll ihr Kind.

„Dass in den Krankenhäusern immer so ein Geruch ist“, schimpfte Ertl senior, „an das werd ich mich nie gewöhnen.“

„Wir gehen ja bald wieder, Karl“, sagte seine Frau sanft, „lass mir noch fünf Minuten mit dem Tobi.“

„Wir brauchen doppelt so lang wie sonst, bis wir daheim sind. Überall reißen s’ die Straßen auf für die U-Bahn“, haderte Ertl senior, „ich sag’s euch ganz ehrlich, wegen mir hätt’s das nicht gebraucht mit der Olympiade.“

„Geh, Papa, das ist doch für München eine einmalige Chance“, widersprach sein Sohn, „die ganzen Stadien, das Olympiadorf, die U-Bahn, das hätten doch wir uns gar nicht leisten können. Und dazu die Werbung für München in der ganzen Welt, unbezahlbar!“

„Damit nachher noch mehr Ausländer herkommen“, sagte sein Vater verächtlich, „als wenn wir nicht schon genug hätten von denen.“

„Zum Italiener gehst aber gern essen“, bemerkte Katharina Ertl.

„Ich kann aber bloß zu einem Italiener hingehen und nicht zu fünfhundert“, konterte Ertl senior.

„Und die anderen Leute, die gern italienisch essen?“ fragte Lissi, „sollen die alle bei deinem einen Italiener Schlange stehen?“

Bis auf Ertl senior konnten alle darüber lachen. Im selben Moment fing Tobi zu weinen an und sicherte sich wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit der Familie.

Sein Großvater merkte noch schnell an, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Zugereisten die echten Münchner vollständig verdrängt hätten.

Aber das ging im Weinen vom Tobi unter.

2

Es war Mai. Zartweiße Wolkenschleier drapierten einen hellblauen Föhnhimmel. Das Gedränge der Besucher auf der Auer Dult war groß, wie immer an Eröffnungstagen bei strahlend schönem Wetter. Tobi fuhr mehrere Runden auf dem Kinderkarussell und bekam anschließend einen Berg voll Zuckerwatte, den er gleichmäßig auf seinem Gesicht verteilte. Überhaupt schien er großen Gefallen an dem bunten Treiben auf dem Trödelmarkt zu finden, beugte sich nach links und nach rechts aus seinem Buggy – der neueste Schrei auf dem Gebiet der Kleinkindbeförderung - und deutete lebhaft auf alles, was ihm ins Auge fiel, Bilder und Bücher und Uniformen und uralte Grammophone und Nähmaschinen, Felle und Indianerschmuck, Spielzeug und Puppen, Musikinstrumente und Standuhren: „Da! Da!“

Hingegen sank die Laune seines Vaters mit jeder weiteren Minute, die er sich mit dem Buggy einen Weg durch die Menschenmenge bahnen musste. Er drängte darauf, so bald wie möglich den Heimweg anzutreten, doch Lissi vertröstete ihn, weil sie noch unbedingt einen Gemüsehobel brauchte. Deshalb steuerte sie zielstrebig die Verkaufsstraße mit den Küchengeräten und Neuheiten an, gefolgt von einem leise murrenden Alois.

Hier war das Geschiebe des Publikums noch größer.

Natürlich blieb es nicht bei dem Kauf des Gemüsehobels. Die Vorführung eines mechanisch arbeitenden Mixquirls und auch die eines Fleckenmittels, das angeblich alle anderen Fleckenmittel ersetzte, fanden Lissis Gefallen und landeten in dem Netz, das auf der Rückseite des Buggys angebracht war. Erst als ein zufriedenes Lächeln um ihre Mundwinkel signalisierte, dass keine Wünsche mehr offen waren, gingen sie vor zur Straßenbahn, entlang der schmalen Stände, die auf dem Mariahilfplatz keine Berücksichtigung gefunden hatten und sich mit der halben Breite des Gehweges begnügten.

Zwischen zwei Ständen für Gewürze und Duftkissen trat eine ältere Frau mit Kopftuch - ihrem Aussehen nach vom Balkan stammend - auf sie zu und bot ihre Dienste als Wahrsagerin an: „Frau, Hand.“ Dabei zeigte sie auf Tobi und nickte aufmunternd. Lissi blickte die Frau zweifelnd an: „Geht das bei kleinen Kindern auch?“

Natürlich ginge das, sagte die Frau.

Lissi schaute zögernd zu Alois, der ebenfalls unschlüssig war und Zeit zu gewinnen versuchte, indem er die Frau fragte:

„Was verlangen S’ denn dafür?“

Die Frau schüttelte stolz den Kopf. „Egal. Was Sie geben.“

Lissi drehte ihrem Mann den Kopf zu und sagte ihm leise ins Ohr: „Gibst ihr halt fünf Mark.“

 

„Aber nur, wenn der Tobi sich das gefallen lässt, sonst nicht“, raunte er zurück. Damit war die Entscheidung gefallen. Tobi schaute die Frau mit großen Augen an, die ihm über die Wangen streichelte und dann seine Hand nahm, aber er zeigte keinerlei Angst und sträubte sich auch nicht, als die Wahrsagerin seine von Zuckerwatte verklebte linke Hand nahm und die Linien des kleinen Handtellers betrachtete, um ihm schließlich ein langes Leben, viele Kinder und eine strahlende Zukunft als Künstler zu prophezeien: „Sohn wird berühmt. Sehr berühmt.“ Als an der Ecke eine Fußstreife der Polizei auftauchte, nahm die Frau mit einem schnellen Griff Alois den Fünfmarkschein aus der Hand und wechselte die Straßenseite.

Die Begegnung mit der Wahrsagerin führte dazu, dass Alois und Lissi mit einem irrational wohligen Gefühl der Zuversicht, was die Zukunft ihres Sohnes betraf, in die Straßenbahn einstiegen.

„Meinst, die tät’ was anderes sagen als wie das?“, sagte Ertl senior kopfschüttelnd zu ihnen, als sie anderntags zum Kaffee kamen und die

Oma ihre himmlischen Apfelkücherl (mit Zimtzucker und gerösteten Mandelspitzen sowie ein wenig Holundersirup) auftischte.

„Das ist doch logisch, dass die nur was Gutes sagt. Für eine düstere Zukunft gibt doch kein Mensch ein Geld aus!“ Karl Ertl schien fast ein wenig aufgebracht zu sein über so viel Einfalt.

„Karl, was wissen wir schon, was es mit der Handleserei auf sich hat“, vermittelte seine Frau, „es hat schon immer Leut’ ’geben, die sich auf so was verstehen.“

„Ein Schmarr’n ist das“, bekräftigte der Opa seine ablehnende Haltung, „eine Wahrsagerin, die wo dir aus der Hand liest, oder noch schöner, in eine Kristallkugel nei’schaut, ja was kannst von der erwarten? Die verzählt dir alles, was du hören magst.“

„Kristallkugeln, da tät ich auch nix drauf geben“, warf Lissi ein, „aber die Linien in der Hand sagen schon was.“

„Ja was denn?“ fragte der Opa.

„Wie lang dass du lebst, Gesundheit, Beruf, Familie, da hat ein jedes seine Linie“, meinte sie.

„Nicht zu vergessen die Linie für die Dummheit, die hat ein jeder, der für so was ein Geld ’naushaut“, schimpfte Karl Ertl.

„Jetzt hörst aber auf, Karl“, wies ihn seine Frau zurecht, „wenn du Lotto spielst, ist das auch nicht viel gescheiter. Und da zahlst mehr.“

„Da kannst deine Chancen ausrechnen, beim Lotto“, blieb ihr Mann stur, „und zwar mathematisch, das kannst nicht vergleichen, Mama.“

Seit dem Tag, an dem die Ziehung der Lottozahlen erstmals im Fernsehen übertragen worden war, spielte er Lotto, jede Woche vier Zahlenfelder, in die er Zahlen eintrug, die für ihn eine persönliche Bedeutung hatten, wie etwa die Geburtstage von sich und seiner Frau, ihre Hausnummer, die 8 für die Münchner Postleitzahl sowie die Zahlenkombination seines Autokennzeichens, die er in zwei Ziffernpaare zerlegte. Das hatte einige Male zu drei und, selten, zu vier Richtigen gelangt. Mehr hatte Fortuna mit ihm offenbar nicht im Sinn. Das größte Glück für ihn bestand schließlich auch darin, dass er eine Frau hatte, die liebevoll und sanft und verträglich war und die außerdem wunderbar kochen konnte. Das wog jedes Lottoglück auf.

„Mama, wenn du eine Gastwirtschaft hättst, ich tät jeden Tag bei dir essen“, schwärmte er, wenn seine Frau einen Tafelspitz mit Kren oder eine selbstgemachte Schweinskopfsülze mit Bratkartoffeln oder eine Briesmilzwurst im Kalbsnetz auf den Tisch brachte.

„Das tust ja auch so, Karl“, sagte sie dann regelmäßig und freute sich, dass ihr Mann sie so lobte. Mit Lob war er ansonsten eher sparsam. An den Sonntagen kochte Katharina traditionell für die ganze Familie. Tobi fiel früh durch seinen gesegneten Appetit auf.

„Genau wie ich, wie ich klein gewesen bin“, sagte der Opa beifällig. „Wenn wir gegessen haben, hat mein Papa immer gesagt, der Bub frisst mir das letzte Haar vom Kopf. Dabei hat er längst schon keins mehr gehabt.“

Darüber konnte Karl Ertl immer noch herzhaft lachen. Die anderen kannten den Ausspruch von vielen Wiederholungen und lächelten mild.

Lissi hatte keine Probleme damit, dass ihre Kochkünste nicht an die der Schwiegermutter heranreichten. Sie war klug genug, sich gar nicht erst an ihre Rezepte heranzuwagen, schon weil sie der Gefahr entgehen wollte, sich einem Vergleich auszusetzen. Früher duldete Katharina auch niemanden neben sich in der Küche, aber das galt natürlich nicht für Tobi. Als er etwas größer war, schaute er der Oma beim Kochen interessiert zu und führte sogar kleine Arbeiten aus, sofern sie kein Messer erforderten. Unter Aufsicht der Oma durfte er in dem kleinen Kräutergarten hinter dem Haus Schnittlauch und Petersilie schneiden. Dafür hatte die Oma eine nicht mehr ganz so scharfe Schere.

„Oma, warum habt ihr keinen Hund mehr?“ fragte Tobi, dessen Aufmerksamkeit die gerahmten Fotos, die seine Großeltern mit einem Rauhaardackel zeigten, nicht entgangen waren.

„Weil wir die Resi haben einschläfern lassen müssen, wie sie so krank geworden ist. Danach wollten der Opa und ich keinen Hund mehr. Wir sind ja schon selber so alt, da weiß man nie, ob der Hund nicht länger lebt als wir“, erklärte die Oma.

„Den können wir ja dann in die Arcisstraße holen, wenn ihr tot seid, du und der Opa“, meinte er. Die Oma schüttelte lächelnd den Kopf. Sie erklärte ihm geduldig, wie viel Pflege, Aufmerksamkeit und Zuwendung ein Hund brauche, damit er sich wohl fühlt. Und weshalb sie es nicht gut fand, einen Hund in einer Mietwohnung in der Großstadt zu halten. Sie erzählte ihm auch, dass die Resi in ihrem letzten Lebensjahr eine schwere Macke bekam und es hasste, wenn sie im Auto unterwegs waren und ein anderes Auto sie überholte. Dann regte sich die Resi dermaßen auf, dass sie völlig hysterisch kläffte und ihre Zunge blau anlief. „Der Opa hat sich gar nicht mehr auf die Autobahn getraut, und in der Stadt sind wir möglichst nur noch einspurige Straßen gefahren.“

„Wenn ich mal groß bin“, sagte er, „dann krieg ich einen Hund, aber einen großen. Und dann fahr ich so schnell, dass mich keiner überholt.“

Die Oma lachte und strich ihm übers Haar. „Da wird dein Hunderl eine Freude haben, wenn du so rasant fährst. Den haut’s ja im Wagen umeinander!“

Er dachte kurz nach, dann sagte er: „Den kann ich auf dem Beifahrersitz festschnallen.“

„Mit was willst den denn festschnallen?“ fragte sie.

„Mit einem Sicherheitsgurt“, sagte er.

Die Oma zog erstaunt die Augenbrauen hoch: „Was, mit einem Sicherheitsgurt? So was hat der Opa aber nicht im Auto.“

„Doch, das gibt’s aber“, beharrte Tobi.

„Wart, ich frag den Opa.“

Er rannte in den Garten hinaus zu seinem Opa, der natürlich wusste, was ein Sicherheitsgurt war, obwohl er von so einer neumodischen Erfindung wenig hielt: „Ich brauch’ keinen. Eher bräuchtest du einen, wenn du so wild schaukelst!“ Tobi fand diese Vorstellung sehr lustig und sprang sofort auf seine Schaukel: „Opa, zieh!“

Das ließ sich der Opa nicht zweimal sagen, zog ihn an seinen Füßen zu sich heran und ließ ihn dann los. Bald hatte er genügend Schwung, um den Opa fast wieder mit seinen Füßen zu erreichen. Der wich dann jedes Mal zur Seite aus wie ein Torero dem Stier und rief „Olé!“ Davon konnte Tobi nicht genug bekommen. „Noch mal, Opa!“

Irgendwann musste der Opa eine neue Idee erfinden, weil ihm die Rolle des Toreros doch zu anstrengend wurde.

„Hab ich dir schon das Buch mit den alten Fotos von München gezeigt?“

„Ja!“

„Dann zeig ich dir jetzt ein anderes. Geh einmal mit.“

Der Opa, zeit seines Lebens ein überzeugter Royalist, hielt seinen Enkel für alt genug, um ihn in das König-Ludwig-Buch mit den kolorierten Illustrationen einzuführen. Von da an verstand Tobi, zumindest ungefähr, weshalb der Opa ein auf Holz gemaltes bayrisches Königswappen am Geräteschuppen angenagelt hatte, auf dem in gotischen Lettern KÖNIGREICH BAYERN stand.