Haiti – Teuflische Entscheidung

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Haiti – Teuflische Entscheidung
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Haiti

Teuflische Entscheidung

SWEN REINHARDT

Impressum

Š Swen Reinhardt

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-7391-5

All rights reserved

Nachdruck, auch auszugsweise, Übersetzung und jede Art der Vervielfältigung oder Wiedergabe nur mit Quellenangabe und schriftlicher Genehmigung der Verfasser.

Ganz langsam schob sich die Sonne über die Gipfel des gewaltigen Bergmassivs und schickte erste wärmende Strahlen auf die kleinen Bambushütten, die zu Fuße des Morne Saint-Hilaire im Hinterland Haitis lagen. Verschlafen blinzelte Loransya in das dunkle Innere ihres bescheidenen Zuhauses. Ihre Mutter kniete bereits auf dem lehmigen Boden vor der kleinen Kochstelle und rührte den Frühstücksbrei für die ganze Familie an. Das kleine Mädchen liebte es, ihrer Mutter allmorgendlich dabei zuzusehen wie sie den neuen Tag mit einem Lied auf den Lippen begrüßte und beobachtete sie eine ganze Weile, ehe sie sich gähnend von ihrer Strohmatte erhob und ihr hartes Schlaflager gegen den weichen Schoß der Mutter eintauschte.

„Loransya, mein Mädchen! Hast du gut geschlafen?“

Das sechsjährige Mädchen beantwortete die Frage – wie jeden Morgen – mit einem Nicken und drückte sich noch enger an die Mutter heran. Eine ganze Weile rührten sie gemeinsam im klebrigen Bananenbrei und sangen dabei haitianische Volkslieder vor sich hin, ehe ihr Vater zusammen mit Loransyas beiden größeren Brüdern nach Hause kam.

„Die Mangos sind endlich reif, es wird Zeit für die Ernte!“, begrüßte er sie ruppig, gab Loransya einen Kuss auf die Wange und ließ sich ebenfalls auf dem lehmigen Fußboden der kleinen Bambushütte nieder. Schweigend teilten sie sich die winzige Portion Brei, wohl wissend, dass keiner von ihnen davon wirklich satt werden würde.

Kaum eine halbe Stunde später stand die ganze Familie auf dem kleinen Mangofeld, das den Lebensunterhalt der Familie sicherte. Der spärliche Ernteertrag reichte auch in guten Jahren kaum dazu aus, die fünfköpfige Familie zu ernähren. Die Temperaturen waren zwischenzeitlich stark angestiegen und über dem Feld breitete sich eine quälende Hitze aus, wenn sie auch im Schatten der Mangobäume um einiges besser zu ertragen war. Jean und Gerárd, die älteren Brüder von Loransya, die im Laufe der Jahre eine gewisse Routine in der Landwirtschaft entwickelt hatten, kletterten die Mangobäume empor und begannen mit der Ernte, während das Familienoberhaupt am Boden stand und die reifen Früchte in Empfang nahm. Die Aufgabe von Loransyas Mutter bestand darin, die Mangos in großen Körben zu einem etwa zwei Kilometer entfernten Holzverschlag zu transportieren, wo die Früchte bis zu ihrem Verkauf auf dem Markt gelagert wurden. Selbst die kleine Loransya bemühte sich, ihre Familie nach Kräften zu unterstützen und füllte sich einen kleinen Korb mit Früchten, den sie auf dem Kopf zur Lagerstelle trug. Nachdem sie den langen, beschwerlichen Weg einige Male auf sich genommen hatte, schwanden ihre Kräfte dahin und es gelang ihr beinahe nicht mehr, das holprige Stück zum Feld zurückzulegen. Natürlich blieb das von ihrer Mutter nicht unbemerkt.

„Loransya, komm’ zu mir!“

Liebevoll nahm sie ihre Tochter auf den Arm, band sie sich mit einem großen, bunten Leinentuch an den Körper und trug sie ungeachtet ihres Alters wie einen Säugling mit sich. Sofort durchströmte das kleine Mädchen ein Gefühl der Zuneigung und Geborgenheit. Den Kopf ganz eng an die geliebte Mutter geschmiegt, war Loransya schon nach wenigen Minuten tief und fest eingeschlafen.

Wie lange sie die Mangoernte verschlafen hatte, bemerkte Loransya erst, als sie die Augen wieder aufschlug und die Sonne langsam am Horizont verschwinden sah. Noch immer trug ihre Mutter sie ganz nah an ihrem Herzen, allerdings war die Familie bereits dabei, sich auf den Rückweg in ihre Bambushütte zu machen. Obwohl Loransya mit ihren sechs Jahren noch nicht wirklich viel von der Welt wusste, so reichte ein Blick in das sorgenvolle Gesicht ihres Vaters doch aus, um zu wissen, dass die diesjährige Ernte nicht dazu ausreichte, die hungrigen Münder ihrer fünfköpfigen Familie zu stopfen.

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen, sonst verhungern wir alle fünf elend!“, stieß er immer wieder zwischen seinen fest zusammengepressten Lippen hervor.

„Vielleicht kann uns doch dein Onkel

“, begann Loransyas Mutter vorsichtig, doch ihr Vorschlag wurde bereits im Keim erstickt.

„Halte den Mund!“, fuhr der Vater sie wutentbrannt an und sie wagte nicht mehr, seinem Gejammer etwas entgegen zu setzen, sondern machte sich stattdessen an die Arbeit, der Familie einen Mango-Reis-Brei zuzubereiten.

Es war bereits stockdunkle Nacht, als Loransya neben den gleichmäßigen Atemgeräuschen ihrer Brüder Jean und Gerárd die Fetzen einer Auseinandersetzung ihrer Eltern, die sich wie jeden Abend vor die Bambushütte zurückgezogen hatten, wahrnahm.

„Wir haben nur eine Möglichkeit und die heißt Restavčk!“, zischte ihr Vater. „Oder willst Du etwa, dass wir alle verhungern? Glaub mir’, ihr wird es dort besser gehen. Sie kann eine Schule besuchen und muss nicht mehr hungern!“

Loransya hatte zwar keine Ahnung was Restavčk bedeuten sollte, aber sie spürte intuitiv, dass es nichts Gutes war und dieser unbekannte Begriff große Angst und Unsicherheit in ihr auslöste. Dieses Gefühl sollte sich in den kommenden Tagen und Wochen noch mehr verstärken, denn wann immer Loransya ihre Ohren spitzte, das Wort „Restavčk“ fiel ständig und in dem kleinen Mädchen machte sich mehr und mehr die Sicherheit breit, dass sie der Gegenstand der vielen Diskussionen war. Die quälende Ungewissheit sorgte dafür, dass ihr kleiner Bauch mehr schmerzte, als es dem Hunger jemals gelingen würde, ihr zuzusetzen. Dieser Zustand ließ nur nachts ein wenig nach, wenn sie eng an ihre Mutter gekuschelt auf der Strohmatte lag und den beruhigenden Schlag ihres Herzens spüren konnte.

Einige Wochen später kehrte ihr Vater am frühen Nachmittag vom Markt in Jacmel zurück, auf dem er tagtäglich verzweifelt versuchte, die geernteten Mangos für wenige Gourde zu verkaufen. Auch heute wirkte er niedergeschlagen und brachte beinahe alle Früchte wieder mit nach Hause. Allerdings war er heute nicht alleine in das kleine Bergdorf zurückgekehrt, sondern befand sich in Begleitung einer für haitianische Verhältnisse sehr gut bekleideten Frau. Loransya saß gerade auf dem Schoß ihrer Mutter vor der Hütte und half ihr dabei, das Abendessen zuzubereiten, als sie den ungewöhnlichen Gast entdeckte. Die Unsicherheit seiner Familie wohl bemerkend setzte ihr Vater ein gequältes, künstliches Lächeln auf.

„Mariana, das ist Tante Lucia. Ich habe dir von ihr erzählt”, wandte er sich an seine Frau.

Die Reaktion der Mutter ließ Loransya erstarren. Normalerweise war ihre Mutter das freundlichste Wesen, das das Mädchen in seinem jungen Leben überhaupt kennen gelernt hatte, und allen Fremden gegenüber stets sehr aufgeschlossen. Doch statt den unbekannten Gast wie üblich freundlich willkommen zu heißen, schlang ihre Mutter die Arme noch fester um Loransya.

„Mariana, wir haben keine andere Wahl!“

Die dunklen Augen ihres Vaters funkelten bedrohlich und seine Stimme machte deutlich, dass er in dieser Angelegenheit nicht bereit war, länger mit sich reden zu lassen und eine unwiderrufliche Entscheidung gefällt hatte.

„Restavčk“, schoss es der kleinen Loransya durch den Kopf und sofort füllten sich ihre Augen mit Tränen. Plötzlich war ihr die Bedeutung dieses Begriffs erschreckend klar: Die Frau war gekommen, um sie zu holen, wegzuholen von ihrer geliebten Mama, ihren Brüdern, ihrer Familie, ihrem Zuhause! Ängstlich klammerte sie sich an ihrer Mutter fest und, obwohl sie ihren Kopf tief in ihren Busen vergaben hatte, sah sie im Augenwinkel wie Jean mit der einzigen Tasche, die die Familie besaß, aus der Bambushütte trat. Sie wollte nicht weg, sie hatte Angst vor dieser Frau!

Ganz langsam wich die Härte aus dem Blick des Familienoberhaupts und stattdessen füllten sich seine Augen mit Tränen. Hilflos ließ er sich neben seiner Frau auf dem Boden nieder und streichelte seiner Tochter ungeschickt über den Kopf.

„Loransya, wir werden dich immer in unserem Herzen tragen“, stieß er stotternd und mit bebender Stimme hervor, „aber wir werden sonst alle verhungern. Du wirst es gut haben bei deiner neuen Familie!“

Über die vernarbten Wangen des schwarzen Mannes rannen jetzt Tränen.

„Es ist Zeit Abschied zu nehmen“, schluchzte er aus tiefstem Herzen und drückte sein kleines Mädchen ganz nah an die Brust. „Lebe wohl, Loransya“, flüsterte er ihr kaum hörbar zu.

Loransya weinte jetzt nicht mehr, sondern bettelte nach ihrer Mutter und flehte inständig darum, nicht weggeschickt zu werden, als Jean sie auf die Ladefläche eines alten Geländewagens hob. Schlagartig begriff ihr kleines Herz, dass sie ihr Zuhause, ihre Mutter, ihren Vater und ihre Brüder für immer hinter sich lassen musste, ohne dass sie jemals nach ihrer Meinung gefragt wurde. Im harten Kampf ums Überleben opferte ihre Familie einfach das schwächste Glied – die kleine erst sechsjährige Loransya.

„Mama, lass mich bei dir bleiben!“

Aber niemand schien die Bitten des Mädchens erhören zu wollen; ihre Mutter wandte sich um und verschwand in der Hütte, während Vater und Brüder mit ausdruckslosen Blicken durch sie hindurch blickten als wäre sie aus Glas. Die fremde Frau, die Loransya als „Tante Lucia“ vorgestellt worden war, hatte sich bis jetzt im Hintergrund gehalten, nahm aber schließlich ihren Vater beiseite und besprach mit ihm etwas, was das kleine Mädchen nicht verstehen konnte. Loransyas Herz klopfte wie verrückt vor Angst und sie fühlte sich, als würde ihre die ganze Familie dabei zu sehen, wie sie im tiefen Meer von den rauschenden Fluten nach unten gerissen wurde.

 

„Jean, Jean!“, hörte sie ihre Mutter aus dem Inneren der Bambushütte rufen, „wo ist Loransyas Puppe?“

Unwillig wandte sich der ältere Bruder ab und schlürfte zu seiner Mutter, während Gerárd nach Loransyas Hand griff und versuchte, seine kleine Schwester zu beruhigen.

„Du wirst sehen, alles wird gut! Du wirst es besser haben als wir!“

Obwohl er sich bemühte, seiner Stimme einen möglichst zuversichtlichen Klang zu verleihen, so spürte Loransya doch, dass auch ihr Lieblingsbruder nicht von seinen Worten überzeugt war. Schweigend hielt er ihre Hand fest gedrückt, als Jean und die Mutter wieder aus der Hütte traten.

„Wo ist deine Puppe, Loransya?“, fragte Jean und musterte sie missbilligend.

Sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich zusehends, als das kleine Mädchen nur mit den Schultern zuckte.

„Siehst du“, wandte er sich an die Mutter, „dann hat sie auch keine Puppe verdient!“

Wortlos ließ Gerárd die Hand der kleinen Schwester los, rannte in die Hütte und kehrte mit seiner eigenen Puppe zurück zum Geländewagen.

„Ich gebe dir meine“, flüsterte er liebevoll und reichte Loransya die Puppe nach oben.

Jedes der drei Kinder der Familie hatte zum letzten Weihnachtsfest eine hübsche, von der Mutter in liebevoller Kleinstarbeit selbst genähte Puppe geschenkt bekommen. Loransya konnte sich noch ganz genau an den Weihnachtsabend erinnern. In der Mitte des kleinen Raumes brannte eine Kerze und zur Feier des Tages bekam jeder ein winziges Stück Fleisch. Der feierliche Höhepunkt des Weihnachtsfestes war jedoch der Moment, indem die Mutter jedem Kind ein in Packpapier gehülltes Geschenk überreichte. Loransya konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, jemals etwas geschenkt bekommen zu haben und so war schon die Tatsache an sich, ein Weihnachtsgeschenk zu erhalten, etwas ganz Besonderes. Wie endlos glücklich war sie erst, als sie das Geschenk ausgepackt hatte und die wunderschönste Puppe, die das kleine Mädchen jemals gesehen hatte, in ihren Händen lag. Die Puppe war aus den Überresten eines alten Sacks genäht und mit Baumwolle gefüllt worden. Für die Augen waren zwei alte Knöpfe in das Gesicht der Puppe genäht worden, Mund und Nase waren fein säuberlich gestickt. Damit der Kopf der Puppe nicht kahl blieb, hatte ihre Mutter die eigenen Haare abgeschnitten und am Puppenkopf befestigt.

Mit einem durchdringenden Räuspern kündigte die unbekannte, fremde „Tante Lucia“ die Abfahrt in Loransyas neues Leben - ein Leben fern von Liebe und Geborgenheit - an. Das kleine Mädchen wollte gerade die Arme nach ihrer Mutter ausstrecken, als sich bereits der alte Geländewagen in Bewegung setzte und über den holprigen Bergweg rollte.

„Mama! Mama! Gerŕrd!“

Loransya brüllte aus Leibeskräften, aber keiner kam um sie zu holen. Der letzte, verschwommene Blick, der sich dem kleinen Mädchen auf die Heimat bot, war ihre Familie, die vor der kleinen Bambushütte stand und ihr schweigend hinterher winkten. Nach der nächsten Kurve waren sie verschwunden.

Die Fahrt ging über schlechte Straßen, die sich durch das haitianische Gebirge schlängelten und an einigen Stellen beinahe unpassierbar waren. Loransyas kleiner Körper wurde in jeder Kurve unbarmherzig auf die harte Ladefläche des Geländewagens geschleudert. Es waren erst wenige Stunden vergangen seit sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte, doch erst jetzt schien das kleine Mädchen zu begreifen, dass alles Weinen, Betteln und Jammern ungehört im Hochland verschallte. Keiner war hier um sie zu trösten, und weder Mutter noch Gerárd schlossen sie wie gewohnt in die Arme, um ihre Tränen zu trocknen.

„Mama, Mama,

“, wimmerte sie beinahe lautlos, während sie die kleine Puppe ganz nah vor ihre Nase gedrückt hielt und den Geruch der Heimat in sich aufsog.

Zwischenzeitlich setzte bei Loransya ein beinahe apathischer Zustand ein wie sie so zusammengekauert auf der Ladefläche lag und vor sich hin weinte. Nicht einmal mehr die Nässe der kleinen Lache Urin, den sie vor lauter Angst nicht mehr halten konnte, und der das braune Baumwollkleid des Mädchens unangenehm feucht durchtränkte, störte sie mehr. Irgendwann bei Einbruch der Dämmerung fiel sie schließlich in einen unruhigen Schlaf und wurde erst wieder wach, als sich der Wagen durch die hektischen Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince schob.

Loransya war noch nie außerhalb ihres kleinen Bergdorfs gewesen. Die vielen unbekannten Menschen, die sich zwischen Autos, Mofas und Marktständen über die breiten Straßen schoben, verängstigten sie. Allein die Bauweise der Gebäude war ihr unbekannt. Zuhause war es normal, dass die Menschen in einfachen Bambushütten lebten. Hier waren die Häuser nicht nur aus Steinen gefertigt, sondern auch so hoch wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Jedes der Gebäude war direkt an das nächste gebaut, kein Meter Gras ließ sich dazwischen finden. Für Loransya war das sehr ungewöhnlich. Zuhause war zwischen den einfachen Hütten der Bauern genügend Platz, um über die grünen Wiesen zu toben. Überhaupt fiel ihr auf, dass sie noch kein einziges Kind auf der Straße gesehen hatte. An der nächsten Straßenecke lag ein derart beißender Gestank in der Luft, der ihr beinahe den Atem nahm. Ein riesiger Müllberg war vor einer Hausreihe auf der Straße aufgetürmt, herrenlose Hunde suchten sich dort ihr Abendmahl. Daheim in ihrem Bergdorf wurde der Müll weit abseits der bescheidenen Behausungen in einem Loch vergraben. Niemand würde jemals im Traum daran denken, den Abfall vor der Hütte liegen zu lassen. Am meisten erstaunte Loransya jedoch, dass zwischen den Häusern dicke Schnüre gespannt waren, an denen merkwürdige Kästchen hingen, die schlagartig anfingen zu leuchten. Selbst an einigen Hauswänden blinkten sonderbare Schilder.

Das kleine Mädchen kauerte sich schutzsuchend zusammen und hielt sich die Puppe vor die Augen. Sie wollte nach Hause in ihr kleines überschaubares Dorf, wo sie beinahe jeden Grashalm kannte, und sich in die schützenden Arme ihrer Mutter kuscheln. Obwohl sie sich zu Beginn schon ein wenig neugierig umgesehen hatte, so wurden ihr jetzt doch all die neuen Eindrücke zuviel.

Eine knappe Viertelstunde später änderte sich das Straßenbild und statt der Häuser aus Stein und Beton befand sich der Wagen jetzt in einer deutlich ärmeren Gegend. Links und rechts säumten den staubigen Weg kleine, schäbige Wellblechhütten den Weg soweit das Auge reichte. Die wenigen freien Flächen waren von mannshohem Müll bedeckt und statt Hunden wühlten sich hier Schweine durch die Abfälle. Loransya wagte einen vorsichtigen Blick über die Bordwand. Natürlich war ihr der einfachere Baustil vertrauter, aber diese Enge wirkte eben nur erdrückend auf das freiheitsliebende und naturverbundene Mädchen. Zuhause beruhigte sie die Stille und Finsternis der Nacht, aber hier hatte sie das Gefühl, dass die Dunkelheit die Siedlung in eine Geisterstadt verwandelte. In Loransya kroch die Angst immer höher. Es befiel sie eine derartige Panik, dass sie anfing den kleinen Kopf mit aller Kraft gegen die Ladebordwand des Geländewagens zu schlagen. Der körperliche Schmerz, den sie dabei empfand, als sich die klaffende Platzwunde quer über ihrer Stirn auftat, ließ sie wenigstens einen kurzen Moment ihre seelischen Qualen vergessen. Um sich von den bohrenden, existenziellen Zukunftsängsten abzulenken, versuchte Loransya eine Weile sich darauf zu konzentrieren, wie das hellrote Blut langsam auf das braune Baumwollkleid tropfte und der Stoff sich immer mehr verfärbte.

„Mama, hat mir versprochen, dass es mir besser gehen wird“, versuchte sich das kleine Mädchen im Vertrauen auf die Aussage ihrer Mutter selbst zu beruhigen,

„sie hat es versprochen!“ Sie schluchzte tief auf. „Aber Mama, wie soll es mir ohne dich besser gehen?“

Gerade als Loransya fast schon selbst daran glaubte, dass alles gut werden würde, stoppte der Geländewagen so abrupt vor einer ziemlich großen Wellblechhütte, dass sich das Mädchen wieder, diesmal allerdings unfreiwillig, den Hinterkopf anstieß. Loransya kauerte sich eng zusammen, hielt ihre Puppe fest an sich gepresst und wagte kaum noch zu atmen. Sie zitterte am ganzen Körper, als sich durch das durchdringende Quietschen der Autotüre das Kommen von „Tante Lucia“ ankündigte. Der Gesichtsausdruck der Fremden hatte sich deutlich verhärtet und das aufgesetzte Lächeln, das sie ihrer Familie im kleinen Bergdorf bei der Abfahrt geschenkt hatte, war vollends verschwunden. Sie musterte Loransya geringschätzig, öffnete die Ladeklappe und befahl ihr knapp auszusteigen. Das kleine Mädchen tat wie ihr geheißen wurde und stieg mit zitternden Knien umständlich vom Geländewagen. Die Fremde ließ ihren eiskalten Blick kurz zwischen der Ladefläche und Loransya hin-und herschweifen, holte unvermittelt aus und versetzte dem Mädchen einen derart harten Schlag ins Gesicht, dass sie taumelnd zu Boden ging. Loransya wusste gar nicht wie ihr geschah, als die Frau sie grob am Arm packte und wieder auf die Beine zog.

„Mama, Mama“, wimmerte sie leise, hielt aber sofort den Mund, als die Frau gerade wieder ihre Hand erheben wollte.

„Du elender kleiner Neger“, schnauzte sie auf Loransya ein, „wie kannst du es wagen? Wegputzen sofort!“

Sie deutete auf die Urinpfütze, die das kleine Mädchen auf der Ladefläche des Geländewagens hinterlassen hatte. Hilflos blickte sich Loransya um. Womit sollte sie das nur aufputzen?

„Beweg deinen Arsch!“, brüllte die Frau mit gefährlich geweiteten Augen auf sie ein. Zitternd kletterte Loransya nach oben und zog aus Angst vor weiteren Schlägen ihr blutdurchtränktes Baumwollkleidchen aus, um damit die Pfütze aufzuwischen.

Tante Lucia stand währenddessen mit verschränkten Armen vor dem Geländewagen und beobachtete mit sichtlicher Genugtuung, dass der kleine Neger weniger Widerstand leistete, als die meisten der anderen Restŕveks, die sie in guten Zeiten zweimal pro Woche aus den entlegensten Dörfern des Landes nach Port-au-Prince brachte. Einen Augenblick zog sie in Erwägung, den Preis für das Mädchen um ein paar Dollar zu erhöhen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, da sie eigentlich keine Lust hatte, ihre Energien darauf zu verschwenden, das erbarmungswürdige Kind wieder in einen halbwegs passablen Zustand zu bringen.

Loransya war gerade damit fertig geworden, die Ladefläche trocken zu wischen und stand jetzt nur mit ihrer alten, durchlöcherten Unterhose bekleidet auf dem Wagen, während sie Tante Lucia hilflose, fragende Blicke zuwarf.

„In Ordnung! Ich rate dir, bei deiner Familie nicht mehr überzulaufen!“, spottete sie zynisch und deutete auf das blutverschmierte Gesicht des Mädchens. „Wisch dich ab! Nass genug ist der Lappen jetzt wenigstens!“

Sie lachte höhnisch auf und trat zur Fahrgastzelle des Wagens, indem sie die Reisetasche des Mädchens verstaut hatte. Obwohl sich nur wenige brauchbare Kleidungsstücke darin befanden, zog sie schließlich doch ein schlichtes, blau gestreiftes Kleidchen heraus, das sie Loransya mit spitzen Fingern übergab.

„Zieh das über und pack’ den verpinkelten Fetzen in die Tasche!“, befahl sie ungeduldig. Loransya nutzte den kurzen Moment, als sich Tante Lucia abwandte und in Richtung Wellblechhütte abmarschierte, um ihre Puppe ganz weit unter ihren wenigen Habseeligkeiten zu verstecken. In ihr keimte der Verdacht auf, dass diese gehässige Frau, ihr sonst noch das einzige Stückchen Heimat, das ihr noch geblieben war, wegnehmen könnte.

„Komm jetzt endlich, du kleiner Neger!“ Tante Lucia wandte sich abrupt zu ihr um und wartete, bis das kleine Mädchen auf ihrer Höhe angekommen war, packte sie an der Hand und klopfte an die schiefe Türe der Wellblechhütte. Aus dem Inneren der Behausung drangen laute Geräusche nach außen, bis sich endlich die Türe öffnete. Vor Loransya stand ein etwa 35-jähriger Mann. Sein Gesicht wirkte eingefallen und die Augen lagen in großen dunklen Höhlen. Die wenigen Haare, die noch aus der schuppigen Kopfhaut wuchsen, trug er zu kleinen Rastazöpfen geflochten. Sein ziemlich flacher Bauch jedoch ließ sie sofort erkennen, dass diese Familie zwar bestimmt nicht reich war, sich aber immerhin nicht dem tagtäglichen Kampf gegen den Hunger stellen musste. Der Mann schüttelte Tante Lucia freundlich die Hand, wechselte ein paar Worte mit ihr und rief in die Hütte hinein, ohne Loransya überhaupt wahrgenommen zu haben: „Unser Restávek ist da!“

Wenig später erschien eine kleine, etwas untersetzte Frau an der Türe. Ihr Rückgrat war so stark gekrümmt, dass sie sich selbst im Stehen auf einen Stock stützen musste. Sofort regte sich in dem kleinen Mädchen Mitleid für die unbekannte Frau. Doch wenn auch Loransya ihr Herz auf dem richtigen Fleck trug, so wandte sich auch die Mutter der Familie sofort Tante Lucia zu und schenkte ihr ebenfalls keine Beachtung.

 

„55 Dollar sollte die Kleine schon wert sein!“, verlangte die Menschenhändlerin bestimmt und eröffnete damit die hitzigen Preisverhandlungen für das junge Menschenleben.

„Jung, gesund und unverbraucht!“

Erst jetzt nahm die Familie Loransya wahr und musterte sie geringschätzig von oben bis unten. Das kleine Mädchen fühlte sich wie eine Ziege auf dem Markt und erinnerte sich daran, wie sie mit ihrem Vater bei dem Ziegenhändler Olivier stets um den besten Preis gefeilscht hatte.

„Bei Nadine bekomme ich ein älteres Restŕvek für 40 Dollar“, schrie das Familienoberhaupt wutentbrannt und bekam von seiner Frau energische Unterstützung, indem sie ihren Stock hob und damit abwertend gegen Loransyas Platzwunde tippte, um die Menschenhändlerin auf den offensichtlichen Mangel des Kindes aufmerksam zu machen und eine Preisvergünstigung zu begründen. Das kleine Mädchen spürte einen stechenden, pulsierenden Schmerz in der Stirn und sah noch das hellrote Blut, das wie eine Fontäne in alle Richtungen spritzte. Dann wurde es ihr plötzlich schwarz vor Augen und sie ging taumelnd zu Boden. Wie lang sie auf dem staubigen Boden vor der Wellblechhütte lag, bis sie wieder zu Bewusstsein kam, konnte Loransya nicht einschätzen. Die Preisverhandlungen waren offensichtlich zu Ende geführt worden, ohne dass ein Mensch Notiz von dem verletzten Mädchen genommen hätte. Verschwommen nahm sie wahr wie das Familienoberhaupt Tante Lucia einen 50-Dollar-Schein übergab, sich verabschiedete und mit ihrem Geländewagen davon brauste. Loransya fühlte sich noch immer noch benommen, versuchte aber dennoch sich hochzurappeln und wieder auf die Beine zu kommen. Die Eltern der Familie hatten sich bereits abgewandt und waren wortlos nach drinnen verschwunden. Das kleine Mädchen fühlte sich in diesem Moment so einsam und verlassen, dass sie ihre Tränen nicht mehr länger zurückhalten konnte.

„Mama, du hast es mir versprochen!“, schoss es ihr immer wieder durch den Kopf. Wie gerne würde sie jetzt ihre Puppe aus der Tasche hervorholen, ihre Nase tief darin vergraben, die Augen schließen und einen Moment daran glauben, sich zuhause in ihrer Bambushütte in Virol zu befinden.

„Petite Nčgre!“

Die dröhnende Stimme des Familienoberhaupts riss sie aus ihrer tiefen Traurigkeit und ließ ihr eiskalte Schauer über den Rücken fahren. Wie angewurzelt blieb Loransya an der Türschwelle ihres neuen Heims stehen und war nicht fähig, einen Schritt weiter zu gehen. Obwohl sie ihren Beinen befahl sich fortzubewegen, wollten ihr die Gliedmaßen doch nicht gehorchen.

„Petite Nčgre, hast du es auf den Ohren?“

Hatte die Stimme des Mannes bereits vorher angsteinflössend und gefährlich auf das kleine Mädchen gewirkt, so bestand jetzt kein Zweifel mehr daran, dass sie ihm schnellstens gehorchen musste. Wackelig ging Loransya die ersten Schritte in ihr neues Leben und sah sich zurückhaltend in der Hütte um. Vor einem Fernsehgerät – die elektrische Neuheit kannte sie bisher nur aus Erzählungen ihres großen Bruders und hatte ein solches Gerät selbst noch nie zuvor gesehen - saßen die drei Kinder der Familie und betrachten interessiert die bunten, ständig wechselnden Bilder, die über den Schirm flimmerten. Die zwei Söhne der Familie, beides große, starke Kerle, waren bestimmt zehn Jahre älter als sie selbst, und hatten es sich auf einer schäbigen, braunen Coach gemütlich gemacht ,während die kleine Schwester der beiden auf einer Decke am Boden kauerte. Ihr zauberhaftes, langes Haar war zu einem französischen Zopf geflochten und sie trug ein Kleid, wovon Loransya schon immer heimlich geträumt hatte.

„Vielleicht können wir Freunde werden und gehen gemeinsam in eine Schule“, hoffte Loransya insgeheim und in ihr keimte das zarte Pflänzchen der Hoffnung auf ein besseres Leben, „immerhin dürften wir fast dasselbe Alter haben.“

Sie ließ ihren Blick weiter durch den Raum schweifen. In einer Ecke des Zimmers stand ein richtiges Doppelbett mit einem Gestell, auf dem echte Matratzen und einer Unmenge von Kissen und Decken lagen. Der einzige in ihrem kleinen Bergdorf, der ein solches Bett besaß, war ein weitläufiger Cousin eines amtierenden Regierungsmitglieds. Alle anderen Dorfbewohner waren es gewohnt, auf einfachen Strohmatten auf dem harten Boden zu schlafen. In dem kleinen Mädchen machte sich die freudige Erwartung breit, auch endlich einen Platz in einem richtigen Bett gefunden zu haben und sie freute sich darüber, dass sich bereits die Dämmerung der Nacht über die Hauptstadt gelegt hatte.

Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie gar nicht erst mitbekam, wie der Familienvater zwischenzeitlich am Ende seiner Geduld angelangt war und erschrocken zusammenzuckte, als er plötzlich ganz nah vor ihr stand.

„Wir haben dich nicht zum Rumstehen gekauft“, zischte er wutentbrannte und zerrte Loransya hinter sich her in einen etwas abgetrennten Teil des Raumes, indem sich die Kochstelle befand. Er deutete auf einen abgenutzten Tisch, auf dem Reis, Pilze und ein totes Huhn bereit lagen und darauf warteten, in eine leckere Mahlzeit verwandelt zu werden.

„Wir haben Hunger!“, tobte er und sein düsterer Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht gewillt war, noch lange auf sein Essen zu warten.

Loransya war verunsichert, obwohl sie es von zuhause gewohnt war, ihrer Mutter beim Kochen zu helfen. Allerdings konnte sich das kleine Mädchen nicht daran erinnern, jemals ein Huhn gegessen zu haben, geschweige denn den Hauch einer Ahnung davon zu haben, wie man es richtig zubereitete. Trotzdem war die Angst, die sie vor dem Mann mit den eiskalten Augen hegte, zu groß, um zuzugeben, dass sie ein derartiges Mahl noch nie zuvor gekocht hatte. Stattdessen nickte sie unterwürfig und beeilte sich, nach dem Huhn zu greifen. Die Federn mussten weg, das war ihr wenigstens klar, und so setzte sie sich etwas mutlos auf den Boden und begann damit, das Huhn zu rupfen. Während sie das Huhn ungeschickt Feder für Feder rupfte, überschlug sich in ihr die Frage, warum sich die einzelnen Federn mehr schlecht als recht entfernen ließen. So sehr sich Loransya auch plagte, es wollte ihr einfach nicht gelingen, die Federn ordentlich zu entfernen. Noch hörte sie die Eltern, wie sie sich vor dem Fernseher mit ihren Kindern unterhielten, doch da näherten sich auch schon langsame Schritte. In dem kleinen Mädchen kroch die Angst höher. Instinktiv zog sie den Kopf ein, da sie schon ahnen konnte, dass sie für ihre Arbeit kein Lob erwarten konnte sondern vielmehr mit Schlägen rechnen musste. Die Mutter der Familie stand jetzt neben ihr, beobachtete sie eine Weile schweigend und griff dann zu dem verbeulten Topf, der mit Wasser gefüllt auf der Kochstelle bereit stand, um den kochenden Inhalt ungerührt über das Huhn in Loransyas Händen zu schütten. Schmerzerfüllt kreischte das kleine Mädchen auf, achtete aber trotz der massiven Verbrennungen ihrer Hände darauf, die fleischige Mahlzeit der Familie nicht herunter fallen zu lassen. Die fremde Frau lachte voller Genugtuung auf.

„Das Huhn war klüger als du!“, spottete sie und riss ihr das Geflügel aus der Hand, um die Federn in Windeseile zu rupfen und wenig später das Huhn geschickt zu zerlegen. Die Hände des kleinen Mädchens zeigten deutliche Verbrühungsmerkmale. Die Haut war bereits überzogen mit eiergroßen Brandblasen, die wie tausend kleine Nadelstiche brannten.