Die sprechenden Augen

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Die sprechenden Augen
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Sonia Mattu

Die sprechenden Augen

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Die sprechenden Augen

Sonia Mattu

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de Copyright: © 2015 Sonia Mattu ISBN 978-3-7375-6059-7

Covergestaltung: Erik Kinting / www.buchlektorat.net Konvertierung: Sabine Abels / www.e-book-erstellung.de

Kapitel 1
Jenny

Mein Name ist Jenny, ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, von Beruf Krankenschwester und in der Hauskrankenpflege tätig. Das bedeutet, ich besuche Patienten in deren Wohnungen, betreue und pflege sie. Meist sind es sehr alte bettlägerige Menschen. Ich bevorzuge diese Art meiner Tätigkeit, da ich selbstständig arbeiten kann. Natürlich bin auch ich einem Team unterstellt, aber es ist doch anders als in einem Krankenhaus oder in einem Pflegeheim.

Ich wohne in einer großen Stadt, in einem sogenannten „reichen Land“ in Mitteleuropa. Es ist eine schöne Stadt mit vielen Grünflächen.

Heute habe ich etwas entlegen am Stadtrand eine neue Patientin zugeteilt bekommen. Sie ist vierundneunzig Jahre alt, insulinpflichtige Diabetikerin und bettlägerig. Ich fuhr mit der Straßenbahn bis zur Endstation. Der Weg zu ihr führte durch einen Park. Nach wenigen Minuten erblickte ich ein Haus. Ich blieb stehen und atmete die frische kühle Morgenluft ein. Es war 6.50 Uhr.

Das Haus stand ziemlich weit hinten, mit einem großen, etwas verwilderten Garten davor, eingezäunt durch einen Holzlattenzaun. In der Einfahrt stand ein stattlicher Pkw. Es war ein kleines einstöckiges Haus. Die Fenster im Erdgeschoss waren vergittert, wahrscheinlich wegen Einbruchsgefahr. Was mich jedoch verwunderte, die Fenster im ersten Stock waren auch vergittert. Ein Fenster stand offen. Welch glückliche Menschen wohl hier wohnen? So still und friedlich. Es war Mitte Juli und laut Wetterbericht sollte es ein strahlend heißer Sommertag werden.

Die Stille wurde abrupt unterbrochen! Eine Frauenstimme klang aus dem geöffneten Fenster, eine schimpfende schrille Frauenstimme. Meine Güte, dachte ich, so ein schöner Morgen. Vermutlich eine keifende Ehefrau. Ich schmunzelte und setzte meinen Weg fort.

Auf dem Rückweg blieb ich wieder vor dem Haus stehen, meine Handyuhr zeigte 8.43 Uhr. Alle Fenster waren verschlossen, die Jalousien heruntergelassen. Ich ging zur Straßenbahn und fuhr zum nächsten Patienten. Abends, nach Dienstschluss, dachte ich wieder an dieses Haus.

Am nächsten Tag, 7.12 Uhr: Ich war spät dran und ging eilenden Schrittes. Mein Blick schweifte kurz zum Haus. Das gleiche obere Fenster stand offen, so wie gestern. Die schrille, keifende Frauenstimme …!

„Blöde Kuh“, sagte ich ärgerlich. Ein anderes Geräusch … Es klang wie ein Klatschen, ein surrendes Klatschen. Ich blieb stehen und starrte zu dem Fenster. Etwas stimmte hier nicht, meldete mein Gefühl.

Ein älterer Herr mit Hund kam mir entgegen, ich sprach ihn an: „Hören Sie das?“ Er blickte zum Fenster. „Ja, ja.“ Er erzählte mir, dass dort eine Frau wohnt, so um die vierzig Jahre alt. Ihren Namen wusste er nicht mehr, jedoch hätte er sich ein paar Mal mit ihr unterhalten. „Sie hat einen anstrengenden Beruf, ich glaube Immobilienmaklerin. Sie verkauft auch im Ausland und ist öfters auf Reisen.“ „Und dieses Gezeter, dieses Schimpfen, und was ist das für ein Klatschen?“, fragte ich. „Sie ist etwas sonderbar, ja, das stimmt. Zur Entspannung sieht sie sich gerne Horrorfilme an, hat sie mir erzählt.“ Er lachte: „Also zu meiner Entspannung gehe ich lieber mit meinem Hund spazieren. Schönen Tag noch.“ Er ging weiter.

Auf dem Rückweg, 9.17 Uhr: Alle Fenster verschlossen, die Jalousien heruntergelassen. Das Auto stand nicht mehr in der Einfahrt.

Abends zu Hause studierte ich meinen Dienstplan. Es war Dienstag. Ich hatte noch einen Arbeitstag vor mir, dann zwei Tage frei. Meine nächsten Dienste fielen auf den Samstag, Sonntag und Montag, wobei der Montag ein Feiertag sein würde. Ich mochte es, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren nicht so überfüllt und ich verdiente das Doppelte.

Dann dachte ich an das Haus. Diesen Abend stellte ich meinen Wecker eine Stunde früher.

Mittwoch, 6.18 Uhr: Das Haus leuchtete im Sonnenaufgang, ich hörte Vögel zwitschern. Das Gartentor war angelehnt, das Auto stand in der Einfahrt. Seitlich gab es eine Terrasse. An einer anderen Ecke im Garten sah ich ein kleines Holzhaus, wahrscheinlich ein Geräteschuppen. Ich ging über den Rasen zum Haus und blickte nach oben. Die Fenster waren verschlossen. An der Haustür befand sich eine Glocke, aber kein Namensschild. Ich ging um die Hausecke und bemerkte einige tiefliegende Fenster. Das mussten Kellerfenster sein. Sechs quadratische Fenster. Das dritte war gekippt. Die Fenster waren undurchsichtig. Sie waren schwarz, als ob mit Teer bestrichen. Ich schaute durch das gekippte Fenster hinein, konnte aber nicht viel erkennen. Irgendwie schienen da ein WC und ein Waschbecken zu sein. In einer Ecke lag etwas am Boden. Ich strengte meine Augen an … eine Matratze – da lag eine Matratze!

Ich läutete an der Haustürglocke. „Wer ist da?“ Ich trat einige Schritte zurück und blickte nach oben. Am vergitterten offenen Fenster stand eine Frau mit schulterlangem blondgelocktem Haar. „Wer sind Sie? Was machen Sie auf meinem Grundstück?“ „Das Gartentor war offen. Entschuldigung, ich habe gestern so … so seltsame Geräusche gehört. Brauchen Sie Hilfe?“ „Ich? Ich brauche keine Hilfe, ich brauche meine Ruhe! Was erlauben Sie sich eigentlich? Das ist meine Privatsphäre! Verlassen Sie augenblicklich mein Grundstück oder ich rufe die Polizei!“ Sie sah mich wutentbrannt an, ihre Stimme klang schrill. Sie schlug das Fenster zu. Eilig ging ich.

Donnerstag – ich schreckte schweißgebadet auf, anscheinend aus einem Traum, einem Albtraum? Ich konnte mich nicht erinnern. Die Uhr zeigte Punkt 5.00 Uhr.

Ich hatte vor, heute ins Schwimmbad zu gehen. Es sollte ein sonniger, heißer Tag werden. Ich versuchte wieder einzuschlafen, es gelang mir nicht. Ich dachte an das Haus und an die blondgelockte Frau.

Um 6.35 Uhr stand ich wieder vor dem Haus. Was mache ich da nur? Das Fenster im ersten Stock stand offen. Ich öffnete das Gartentor, ging über den Rasen und stellte mich unter das Fenster. Ich hörte Stimmen. Die Frauenstimme – und ein Kind. Oder ein Mann? Ich konnte nicht alles verstehen, jedoch was ich zu hören bekam, ließ mich erschaudern.

„Los, beeil dich, du elende Kreatur. Vorbereiten! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit! Heute Flieder …!“, sie nannte den Namen eines Parfums. Nach einiger Zeit: „Trink! Zigarette! Feuer! Wehe, das elende, stinkende Gehänge wird nicht ordentlich hart!“ Die Frau schimpfte und keuchte irgendwie seltsam. Dann ein Schrei – ein durchdringender Schrei! „Bitte nein, Madam, bitte nicht, nein …!“ Ich wollte zur Haustür rennen und die Glocke läuten, doch ich war wie gelähmt.

Winseln wie von einem verletzten Tier … Wieder ein Aufschrei. Dann ein Klatschen, ein surrendes pfeifendes Klatschen. Ich hörte nur mehr die Frauenstimme. Ihre Stimme klang nun streng und befehlend, etwas gedämpfter. Die Worte habe ich nicht verstanden.

Ich muss die Polizei rufen, ich muss die Polizei anrufen, ging es mir durch den Kopf, doch ich konnte keinen Finger bewegen.

Dann hörte ich einen Knall. Die Frau hatte das Fenster zugeschlagen. Es war 7.43 Uhr. Langsam rührte ich mich. Ich sollte die Polizei anrufen … Ein anderes Geräusch, ein Heulen! Es kam irgendwie von unten. Ich rannte zu den Kellerfenstern. Ein Wimmern, ein Schluchzen? Ich blickte durch den gekippten Fensterspalt. „Hallo, ist da jemand? Hallo?“ Meine Augen passten sich langsam den unterschiedlichen Lichtverhältnissen an. Ich erkannte eine Gestalt, es war ein Mann. Er stand nackt vor einem Waschbecken. „Kann ich Ihnen helfen? Hören Sie mich? Kommen Sie her zum Fenster. Na los, kommen Sie!“ Der Mann drehte sich in Richtung Fenster. Er hielt die Hände schützend vor sein Glied, die Hände waren blutverschmiert.

Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch war, ich handelte nur mehr rein instinktiv. „Öffnen Sie das Fenster! Los, öffnen Sie das Fenster!“ Er starrte mich an. Ich erkannte, dass er kein Europäer war. „Verstehen Sie mich?“ Er nickte. „Öffnen Sie endlich das verdammte Fenster!“ „Kann man nicht öffnen“, antwortete er sehr leise. Ich versuchte, das Fenster hinunterzudrücken, es bewegte sich nicht. Ich rannte zu einem angeordneten Blumenbeet, nahm den größten Stein und hämmerte auf die Fensterscheiben. Keine bewegte sich. Der Geräteschuppen! „Los, ziehen Sie sich an! Ziehen Sie sich ein Gewand an, ich hole Sie hier raus!“

Der Schuppen war offen. Ich fand einen großen Schlaghammer, mit welchem man normalerweise Holzpfähle in die Erde schlägt. Mit dem Hammer schlug ich auf das gekippte Kellerfenster, bis es endlich herunterbrach.

Plötzlich die Frauenstimme: „Was ist los da unten? Wer ist da?“ Ich streckte eine Hand durch das Fenster. „Los, kommen Sie endlich!“, und zog ihn aus der Öffnung und rannte, ihn hinter mir herziehend, zum Gartentor.

Die Frau schrie: „Du Bastard! Was machst du? Bleib stehen!“ Der Mann stoppte. Ich schüttelte ihn. „Weiter, nicht stehenbleiben, weiter!“ Die Frau mit hysterischer Stimme: „Ich rufe die Polizei! Bleib stehen und dreh dich um, dreh dich um! Das wirst du mir büßen!“ Der Mann wollte sich umdrehen. „Los weiter, hören Sie nicht zu, da ist schon das Tor.“

Die Frau: „Tommy, Tommy! Na warte, wenn du wieder da bist! Tommy!“ Ich rannte so schnell ich konnte, hielt seine Hand und zerrte ihn hinter mir her. Endlich die Straßenbahnstation, die Haltestelle und eine Wartebank. Ich drückte ihn auf die Bank und sah auf die Uhr: 8.24 Uhr. Der nächste Wagon sollte in sechzehn Minuten eintreffen. Vor mir auf der Wartebank saß dieser Mann. Ich betrachtete ihn. Er war bekleidet mit einer kurzen Hose und einem T-Shirt, welches am Rücken blutverschmiert war. In der Hose steckte ein Handtuch. An seinen Füßen trug er ausgelatschte Badeschlappen aus Gummi. Sein Haar war schulterlang, strähnig und leicht verfilzt. Seinen Kopf hielt er gesenkt und er zitterte. Ich nahm mein Handy und bestellte ein Taxi. Aus meinem Rucksack entnahm ich eine Regenjacke, welche ich immer bei mir trage. Für Notfälle, falls mich das Wetter überrascht. Nun, es regnete zwar nicht – es blutete … Ich legte ihm die Jacke über seine Schultern.

 

Taxifahrer: „Wohin?“ Ich nannte meine Adresse. „Aber den da nehme ich nicht mit. Ist er besoffen? Er wackelt ja.“ „Nein, er ist nicht besoffen. Bitte, es ist dringend, ich zahle Ihnen auch den doppelten Preis.“ „Na gut, aber dass der Penner ja nicht mein Auto versaut. Ich stelle Ihnen das in Rechnung.“

Ich öffnete meine Wohnungstür. Zum Glück hatte ich keine Nachbarn angetroffen, wie peinlich wäre das gewesen. Ich führte ihn in die Küche und bat ihn, Platz zu nehmen. Er reagierte nicht. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich doch.“ Er setzte sich nicht. Ich reichte ihm ein Glas Wasser, welches er sofort austrank. „Haben Sie Schmerzen?“ Keine Reaktion. Er stand mit gesenktem Kopf vor mir und zitterte. Jenny, du musst die Rettung bestellen, sagte ich zu mir selbst. Ein anderes Gefühl in mir sagte: Nein!

Nun handelte ich wie eine professionelle Krankenschwester. „Kommen Sie mit!“ Ich führte ihn ins Badezimmer. „Stellen Sie sich vor das Waschbecken!“ Ich nahm eine Schere und schnitt sein blutiges T-Shirt entzwei. Er stöhnte vor Schmerzen. Sein Rücken hatte Striemen, blutige Striemen. Was war das? Das Klatschen, das surrende Klatschen! Oh mein Gott, das war eine Peitsche?! Ja, es sah nach Peitschenhieben aus.

„Ziehen Sie Ihre Hose aus.“ „Bitte, Madam, bitte nicht.“ Ich zog ihm die kurze Hose herunter. An seinem Glied klebte ein Handtuch, es war blutig. Sein Gesäß war überseht mit grauen Punkten, einer blutete. Ich zog meine Arzthandschuhe an, wusch ihn notdürftig und desinfizierte alle Wunden. Eine weitere Blutung entdeckte ich am After. „Drehen Sie sich um!“ Ich nahm sein Glied in die Hand, auch hier sah ich Blut. Eine offene kreisrunde Wunde an der linken Innenseite seines Penis’. Wundspray und ein Heilpflaster, das sollte vorerst genügen. Alle übrigen Verletzungen versorgte ich ebenso.

Nackt und zitternd stand er vor mir. Ich reichte ihm ein Handtuch, welches er sich rasch um seine Hüften band. Ich führte ihn in die Küche. „Nehmen Sie Platz, bitte“, und deutete auf einen Sessel. Er setzte sich, Kopf gesenkt, und zitterte am ganzen Leib. Ich kochte eine Kanne Kamillentee mit viel Honig. Vielleicht hatte er Hunger? Sein Körper war ausgemergelt. Viel hatte ich nicht anzubieten. So kochte ich einfach eine cremige Kürbissuppe aus der Tüte, welche ich mit dicker Sahne verfeinerte. Nachdem der Tee abgekühlt war, reichte ich ihm eine große Tasse. Er stand auf und trank den Tee hastig aus. „Setzen Sie sich doch.“ Er nahm Platz. Die Frau hatte ihn Tommy gerufen, das war wohl sein Name. „Bitte sehr, Tommy“, und bot ihm einen Teller Suppe an. Erneut stand er auf und leerte den Teller in hastigen Schlucken. Er stöhnte, beugte sich etwas vor und fasste sich an seinen Bauch. Vermutlich ein Magenkrampf. „Sie trinken und essen zu schnell, und bleiben Sie endlich sitzen! Haben Sie heute noch nichts gefrühstückt?“ Er schüttelte den Kopf. „Und gestern Abend?“ Kopfschütteln. „Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“ „Vor zwei Tagen.“ „Vor zwei Tagen!? Ja wieso denn?“ „Sie ist drei Tage später gekommen. Brot und Käse waren aus.“ Ich verstand nicht, was er meinte.

Ich war genervt und brauchte etwas zur Beruhigung. 12.05 Uhr – zu früh, aber was soll’s, und ich schenkte mir ein Glas mit halb Wasser, halb Whisky ein. Ich zündete mir eine Zigarette an. Tommy sprang auf, wich zurück und starrte entsetzt auf Zigarette und Feuerzeug. „Bitte nicht, Madam, bitte nicht!“ Er schluchzte und zitterte am ganzen Körper. Mein Gott, schoss es mir in den Sinn. Die grauen Punkte, die kreisrunden Wunden … Sofort dämpfte ich die Zigarette aus und räumte den Aschenbecher weg. „Entschuldigung, Tommy. Bitte setzen Sie sich.“ Zitternd saß er mir gegenüber, in seinen Augen stand Panik. „Die Narben auf Ihrem Po, das waren Zigaretten?“ Er senkte den Blick und nickte. Ich reichte ihm einen zweiten Teller Suppe mit drei Scheiben Weißbrot. „Essen Sie noch, aber ganz langsam und im Sitzen. Guten Appetit.“

Ich nahm Whisky, Zigaretten und begab mich auf das WC. Während ich rauchte, bemerkte ich, dass mir Tränen über das Gesicht liefen. Sie hatte ihn ausgepeitscht und Zigaretten auf seinem Körper ausgedrückt! Was ist das nur für ein Mensch? Nein, das ist kein Mensch – sie ist eine Teufelin!!

Er löffelte ganz langsam seinen Teller Suppe leer. „Danke, Madam. Vielen Dank für den Tee, für die Brote und für die köstliche Suppe. Vielen herzlichen Dank.“ Mir wurde es ganz schwer ums Herz und ich war beschämt. Er bedankte sich für eine Tütensuppe, als hätte ich ihm ein Haus geschenkt. Das Haus, ich dachte an das kleine Haus mit den vergitterten Fenstern …

Ich legte meine Arme auf den Küchentisch, er tat es mir nach. Ich nahm seine Hände, erschrocken zog er sie zurück. Dann legte er sie wieder auf den Tisch. So saßen wir uns gegenüber und unsere Fingerspitzen berührten sich fast, aber nur fast. „Tommy, woher kommen Sie?“ Fragend blickte er mich an. „Ich meine, aus welchem Land stammen Sie?“ Sein Kopf senkte sich. Leise antwortete er: „Aus Indien.“ „Aus Indien? Das ist ein schönes Land.“ Ich hatte vor Jahren mit Freunden einen sehr langen Urlaub dort verbracht. Drei Monate lang. Wir bereisten fast ganz Indien.

Sein Blick hob sich, erstaunt sah er mich an. Tommy heißt er. Kein typisch indischer Name. Wahrscheinlich ist er Christ. Nur die christlichen Inder geben ihren Kindern Namen aus der Bibel. „Sind Sie Christ, Tommy?“ Er senkte den Kopf und verneinte. „Sind Sie Hindu?“ Kopfschütteln. „Moslem?“ Kopfschütteln. „Ohne Religionsbekenntnis?“ „Ich bin Sikh“, murmelte er. Sikh, das sind doch die Inder mit dem Turban? Ja genau. Sie leben hauptsächlich im Nordwesten Indiens und stammen ursprünglich aus Pakistan. „Sie sind Sikh und heißen Tommy?“ Er schaute mich an und flüsterte einen Namen. „Wie bitte? Ich habe nicht verstanden.“ Er hatte dunkelbraune Augen, umrahmt mit langen schwarzen Wimpern. Und dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Sein Blick war leer, ganz leer, fast wie tot. Ich erschauderte. „Mein Name ist Balraj (Das J wird im Indischen wie „dsch“ gesprochen; Balraj wird Balradsch ausgesprochen, Raju wie Radschu). Singh Sandhu, meistens werde ich Raju gerufen, das ist die Kurzform.“ „Warum hat diese Frau Sie dann Tommy genannt?“ Erneut senkte er den Kopf. „Sie mochte meinen Namen nicht.“ „Balraj Singh Sandhu“, wiederholte ich. „Das ist ein sehr schöner Name.“ Verwundert fragte er: „Ja?“ „Ja! Ein sehr schöner Name. Darf ich Sie Raju nennen?“ Das erste Mal blitzte ein Leuchten in seinen Augen auf. „Sehr gerne, Madam, sehr gerne. Vielen Dank, Madam.“ Ich selbst hatte mich noch gar nicht vorgestellt, fiel mir ein. „Mein Name lautet Jenny.“ „Jenny, das ist ein wunderschöner Name. Jenny, ein wunderschöner Name.“ „Wissen Sie was, warum duzen wir uns nicht einfach?“ Ich stand auf und reichte ihm meine Hand, diesmal nahm er sie. „Ich heiße Jenny, guten Tag, Raju.“ „Ich heiße Raju, guten Tag, Jenny.“

Ich betrachtete ihn. Sein schwarzes Haar hing ihm in die Stirn. Er hatte breite Schultern und einen breiten Brustkorb, bedeckt mit dichtem schwarz gekräuseltem Haar. Er war viel zu dünn, seine Rippen standen hervor, sein Bauch war eingefallen und er hatte kaum Muskeln.

Ich erschrak! Du meine Güte, sein Handtuch hatte sich erhoben, jetzt hatte er auch noch einen Ständer! Sofort ließ ich seine Hand los. „Sorry, Madam.“ Beschämt senkte er die Augen. Macht nichts, dachte ich. Viele meiner männlichen Patienten bekommen einen Ständer, wenn ich sie pflege, und diese Leute sind meistens schon sehr alt. Er ist jung und er steht sicherlich unter Schock. „Wie alt bist du, Raju?“ „Ich bin dreißig Jahre alt, Madam.“ „Nenne mich nicht Madam. Bitte, nenne mich ganz einfach Jenny.“ „Ich bin dreißig Jahre alt, Jenny.“ Er sah sehr erschöpft aus, er sollte sich ausruhen, er könnte auf dem Küchenboden schlafen.

Meine Wohnung ist klein, es ist jedoch eine Eigentumswohnung. Meine Eltern haben sie mir gekauft, als ich meinen ersten Job annahm. Ich brauche nur mehr die Betriebskosten und den Gas-, Strom- und Wasserverbrauch zu zahlen. Die Wohnung besteht aus Vorzimmer, einem geräumigen Badezimmer, einer Toilette, einer hübschen Küche mit Abstellraum und einem großen Zimmer mit Sitzgarnitur und einem Doppelbett nahe den Fenstern. Ich wohne im fünften Stock. Das Wohnhaus gegenüber besteht aus drei Stockwerken. So habe ich eine freie Aussicht. Am schönsten ist es, wenn ich im Bett liege. Ich sehe nur den Himmel, Wolken, Vögel und nachts die Sterne und den Mond.

In meinem Kellerabteil befindet sich neben allerlei Gerümpel auch eine Matratze. „Ich gehe kurz in den Keller, da ist eine Matratze …“ „Bitte nicht, bitte nicht in den Keller schicken!“ Raju zitterte, sein Penis erschlaffte augenblicklich. Keller, Matratze … Das Haus, das Kellerloch … Ich verstand. „Raju, bitte beruhige dich. Ich gehe in den Keller und hole eine Matratze. Du bist sicherlich müde. Ich werde hier in der Küche einen Schlafplatz für dich vorbereiten, in Ordnung?“ Wenig später war das provisorische Lager fertig.

„Jenny?“ „Ja?“ „Ich muss Sussu bitte.“ „Sussu?“ Er öffnete den Wasserhahn und deutete auf sein Glied. Er wollte urinieren! Harn lassen heißt anscheinend „Sussu“ in seiner Sprache. „Gleich rechts ist das WC“, sagte ich. Doch er ging ins Badezimmer und urinierte ins Waschbecken, als ob dies das Selbstverständlichste auf der Welt wäre.

„Leg dich jetzt schlafen, Raju. Ich bin nebenan im Zimmer. Wenn du irgendetwas brauchst, rufe mich bitte sofort.“ „Danke, Jenny, danke für alles.“ Tränen standen in seinen dunklen Augen.

Ich nahm ein Glas Whisky mit Wasser, setzte mich auf den Toilettendeckel und rauchte. Jenny, was machst du bloß?, dachte ich. Es ist nicht richtig, was du machst. Du kannst doch nicht einfach einen fremden Mann zu dir in die Wohnung bringen. Doch, ich kann schon, und dachte an verschiedene Affären. Aber doch nicht so Einen! Das ist verrückt, das ist nicht richtig! Ich hätte die Polizei verständigen sollen. Die hätten ihn befreien sollen, die hätten ihn ins Krankenhaus einliefern sollen. Wie soll das weitergehen? Jenny, was du machst, ist nicht richtig, es ist falsch, ganz einfach falsch.

Raju lag in der Küche, zugedeckt auf der Matratze. Gott sei Dank, er schlief. Ich hob die Decke und betrachtete ihn. Seitlich, mit eingezogenen Beinen und Kopf lag er da. Er erinnerte mich an ein Baby im Mutterleib, an einen Embryo. Das Handtuch um seine Hüften hatte sich gelöst. Eine Hand hielt seine Hoden, die andere seinen Penis. Die Haare bedeckten sein Gesicht. Er atmete gleichmäßig und ruhig.

Ich nahm ein Glas Whisky mit in mein Zimmer, rief meine Firma an und meldete mich krank. Wenig später läutete mein Handy. Es war Tanja, meine Arbeitskollegin und beste Freundin. „Jenny, was ist los? Die Firma hat mich gerade verständigt, ich muss deinen Wochenend- und Feiertagsdienst übernehmen.“ „Ich habe mich krankgemeldet, Tanja. Es tut mir leid, dass du einspringen musst.“ „Kein Problem, aber was fehlt dir denn?“ „Nichts, ich bin nicht krank. Ich brauche nur ein paar Tage, oder länger. Ich habe Wichtiges zu erledigen. Hör zu, ich rufe morgen an und erzähle dir alles.“

Ich setzte mich aufs Bett und schaltete den Fernseher ein. Es war 17.16 Uhr. Aus der Küche ertönten Geräusche. Raju stöhnte: „Bitte nicht, Madam, bitte nicht, auu, nein …“ Ich rüttelte ihn leicht an den Schultern. Mit panischen Augen starrte er mich an, sein ganzer Körper zitterte. „Raju, du hast geträumt, es war nur ein böser Traum. Es ist alles gut. Du bist hier bei mir, bei Jenny.“ Er setzte sich auf und überkreuzte seine Beine. Angst stand in seinen Augen, er zitterte noch immer. Morgen muss ich unbedingt Beruhigungsmittel besorgen, überlegte ich. „Hast du Schmerzen, Raju?“ „Ein wenig.“ Er deutete auf seine rechte Schulter, auf seinen Penis und auf seinen After. „Musst du vielleicht Stuhl absetzten?“ Er schaute auf den Küchenstuhl, dann fragend auf mich. Er verstand nicht. Ich zeigte auf mein Gesäß und machte Pressgeräusche. „Nein, ich muss nicht Toilet“, antwortete er. Urin heißt „Sussu“, Stuhl heißt „Toilet“. Na gut, wieder eine neue Sprache gelernt. Ich schmunzelte. „Hör zu, Raju, wenn du Toilet musst, sage es mir. Ich muss dir vorher das Pflaster entfernen. Komm, setze dich.“ Ich deutete auf den Küchenstuhl. Da saß er nun und zitterte noch immer. Ich nahm zwei Gläser und füllte sie mit halb Whisky, halb Wasser und reichte ihm eines. „Da, trink, zur Beruhigung!“ Er nahm das Glas und stand auf. „Raju!“ Erschrocken blickte er mich an. Er zitterte so stark, sodass etwas Whisky verschüttet wurde. „Raju, bitte setze dich und trink in Ruhe. Du musst dich nicht fürchten. Ich tue dir nichts. Ich bin Jenny und nicht diese … diese Teufelin.“ Er nahm Platz und trank einen Schluck, dann noch einen. Sein Gesicht verzerrte sich und er fasste sich an den Bauch. „Hast du Schmerzen?“ Kopfnicken. Seine Hand bildete eine Faust. Ich verstand. Er hatte einen Magenkrampf. Ich wollte eine Schmerztablette holen, doch er hatte Whisky getrunken, so lies ich es. Er nahm noch einen Schluck. „Besser“, sagte er, und dann: „Ich hasse Wodka.“ „Das ist kein Wodka, das ist Whisky.“ „Ich weiß, Jenny. Es ist ein guter Whisky.“ Dann wiederholte er: „Ich hasse Wodka!“ „Hast du Hunger, Raju?“ Er senkte seinen Kopf und antwortete nicht. Wahrscheinlich hat er Hunger. Er getraut es sich nur nicht zu sagen. Ich bereitete Käse-Schinkentoasts mit Paprika vor. Raju aß vier Stück. Besonders begeistert war er von dem frischen roten Paprika. Er stand auf und blickte auf meine Hände. Fragend sah er mich an. Ich streckte ihm meine Hände entgegen, er nahm sie und drückte sie sanft. „Danke, Jenny. Danke für das wundervolle warme Essen, danke für Alles!“ In seinen Augen standen Tränen. „Jenny? Schickst du mich wieder in das Haus? Muss ich wieder zurück?“ Jetzt stand Angst in seinen Augen, große Angst. „Nein, Raju, ich schicke dich nicht zurück. Du musst nicht mehr in dieses Haus und zu dieser Frau, dieser Teufelin.“ Seine Angst wechselte in große Erleichterung. Dann, mit fragendem ängstlichem Blick: „Jenny, darf ich bei dir bleiben? Darf ich für immer bei dir bleiben?“ „Einstweilen ja.“ „Bitte, Jenny, schick mich nicht fort, bitte. Ich möchte immer hier bleiben, in deinem schönen Badezimmer und deiner schönen Küche. Ich möchte für immer bei dir bleiben, Jenny. Bitte!“

 

Wie soll das alles weitergehen? Doch ich wollte ihn nicht verängstigen und nickte. Raju fing an zu weinen, die Tränen liefen über sein Gesicht und tropften auf seine schwarzen Brusthaare. Schluchzend stammelte er. „Ich danke dir, Jenny, ich, ich …“ Sanft drückte ich ihn auf den Sessel und schob ihm ein zweites Glas Whisky zu. Ich streichelte sein zerzaustes Haar. Er trank und beruhigte sich etwas. „Trink langsam, ich komme gleich.“

Ich saß am WC, rauchte, und auch mir liefen die Tränen über die Wangen. Was für ein Mann … So freundlich, dankbar und sensibel. Eingesperrt und misshandelt … Oh, wie hasse ich diese Frau!

„Raju, komm, ich zeige dir die ganze Wohnung.“ Sorgfältig schaute er sich in meinem Zimmer um. Lange stand er vor der Glasvitrine. Ich sammle leidenschaftlich gerne Elefanten, die Vitrine war voll davon. „Du magst Elefanten gerne, nicht wahr, Jenny?“ Ich bejahte. „Elefanten vergessen nicht“, flüsterte er. Dann sah er mich an. In seinen Augen las ich Wärme, Dankbarkeit und noch irgendein Gefühl. Was war das für ein Gefühl? Ich konnte es nicht zuordnen. „Ich vergesse auch nicht, Jenny. Ich werde dich nie vergessen, niemals!“ Er ging zum geöffneten Fenster und atmete tief ein. „Du wohnst sehr hoch, das ist schön. Deine ganze Wohnung ist sehr schön“, und er blickte lange auf mein Bett.

„Ich muss Sussu, Jenny, ich komme gleich.“ Nach zehn Minuten schaute ich nach. Vielleicht war ihm übel geworden? Er stand vor dem Waschbecken im Bad, nackt, und masturbierte. Unglaublich! Einfach unglaublich!