JEFF... ich heiße Jeff!

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Jeff Williams

Jeff, ich heiße Jeff!

Jeff, ich heiße Jeff!

Jeff Williams/Silvia Beutl

1. Auflage November 2013

Originalausgabe

Imprint

Jeff, ich heiße Jeff!

Jeff Williams/Silvia Beutl

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Jeff Williams/Silvia Beutl

Verlagsgruppe Holtzbrinck

Veröffentlicht durch Discovery Entertainment GmbH

Fotos & Gestaltung: Basti Bormann

Lektorat & Satz: Antje Bruns

Dank an: Andreas, Ulrike, Urban

ISBN 978-3-8442-7419-6

Jeff Williams

Jeff, ich heiße Jeff!

Inhaltsverzeichnis:

Ich heiße Jeff Seite 6

Der Ruf der Frauen Seite 10

Lektion Nummer Eins Seite 22

Die A-Klasse Seite 32

Der Bund fürs Leben Seite 45

Helenes Hintern Seite 57

Der humpelnde Hamster Seite 62

Offenes Polen Seite 77

Meine Kreuz- und Querfahrt Seite 85

Reif für die Liebe Seite 101

Der schleichende Prozess Seite 109

Die Ü30erinnen Seite 121

Sind noch Fragen offen? Seite 133

Der Stand der Dinge Seite 138

Als sie sich umdrehte, wachte ich auf. Sie hatten nur das Laken um ihre Beine gewickelt. Ein sehr schöner Körper. Nacken, Hintern, Taille, alles da. Es war schon hell - nicht mehr ganz früh am Morgen. Auf der Ü30 hatte ich sie gestern angesprochen. Na ja, eigentlich wollte ich ihre Freundin ansprechen. Dass ich schließlich mit ihr im Bett landete, war eher zufällig.

Irgendwie kam sie aus dem Nichts und zwischen meinen Plan und seine Ausführung, einen Drink genau an der Stelle an der Bar zu holen, an der ihre Freundin stand. Das Leben sträubt sich gegen Pläne. Aber das muss ja nichts Schlechtes sein. Sie lachte mich direkt an und ich war gefangen. Ich mag Frauen, die leben und Spaß haben. Also packte ich meine Chance am Schopf. "Du hast aber ein wunderbares Lachen. Das sieht man wirklich selten."

Das Spiel begann. Ich machte ihr Komplimente und hielt mich gleichzeitig zurück. So wie ich es gelernt hatte. Frauen riechen, wenn du Sex willst. Und gerade war mir auch nicht danach. Die Frau gefiel mir viel zu gut. Aber selbst wenn ich es darauf angelegt hätte, selbst wenn ich in Gedanken schon nackt auf ihr gelegen hätte, niemals hätte ich ihr gezeigt, was ich wirklich will. Ich mache sie auf mich scharf. Und dann gebe ich ihr, was sie will.

Die ganze Nacht hatten wir in ihrem Bett gevögelt. Bis wir zusammengekuschelt eingeschlafen waren. Sie setzte sich an den Bettrand. Mit offenen Haaren, ohne das ganze Brimborium, in das sich Frauen zum Ausgehen werfen, war sie noch attraktiver als am Abend zuvor. Eine wunderbare Frau. Seit langem eine, die mir richtig gefiel. Auch wenn es für meinen Geschmack ein bisschen zu schnell lief. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen.

Ich schaute ihren Rücken an und versuchte mich zu erinnern, wie sie hieß. Ich war mir nicht mehr sicher, ob wir uns richtig vorgestellt hatten. Ein Name nach dem anderen drehte eine kurze Runde in meinem Gedächtnis, bis ich ihn wieder verwarf. In der Dusche würde er mir schon wieder einfallen, dachte ich und ging Richtung Bad. Und dann fragte sie mich, eine ganz einfache Frage. Es gibt solche Fragen. Die werfen dich zurück auf die Stunde Null. "Musst du schon gehen, Mark?"

***

Ich heiße Jeff

Ich heiße Jeff. Ich heiße wirklich so. Meine Mutter stammt aus Landshut, Niederbayern. Ich heiße trotzdem Jeff. Jeffrey Williams. Ike Bell, so heißt der, der meiner Haut ihre schöne Farbe gab. Mein Vater ist US-Soldat und war in Landshut stationiert. Mehr weiß ich nicht von ihm. Meine Mutter ist blond, sehr blond und sehr blauäugig. Sie arbeitete in der Kantine der US Army. Ein Püppchen, auf das die halbe Einheit scharf war. Sie genoss es und gebar fünf Kinder. Von vier Vätern. Mit einem war sie sogar verheiratet, deshalb heiße ich Williams.

Alle ihre Männer waren schlecht, sagt meine Mutter. Vor allem waren sie nicht da. Und meine Mutter auch nicht. Das Einzige, an das ich mich sehr gut erinnere, ist dieses Zimmer mit dem Doppelbett und der verschlossenen Türe: Larry, Peggy und Ricky, meine älteren Geschwister, meine kleine Schwester Felicia und ich verbrachten Stunden und Tage dort. 'Allein' wäre das falsche Wort. Wir waren ja zu fünft.

Als ich drei war, stellt das Landshuter Jugendamt durch einen glücklichen Umstand fest, dass wir alle ein bisschen unterernährt waren. Ich bekam ein eigenes Bett, in dem katholischen Kinderheim, in dem uns die Behörden unterbrachten. Meine Wohngruppe bestand aus zwölf Buben, meinen beiden älteren Brüdern und mir, betreut von einer Nonne und einer Erzieherin aus dieser Welt. Wir frühstückten zusammen, gingen zusammen in die Schule, sangen gemeinsam im Kirchenchor, machten zusammen Hausaufgaben und spielten zusammen Fußball. Alles war geordnet und hatte seine Regeln. Und es gab regelmäßig Essen, so viel ich wollte. Ich fühlte mich wohl im Heim.

Wenn wir im Garten Fußball spielten, sahen wir unsere Schwestern, Peggy und Feli, und die anderen Mädchen. Eine gefiel mir besonders. Irgendetwas an ihr zog mich an, ich wollte in ihre Nähe und eines Tages ergab sich die Gelegenheit. Sie stand am Zaun und lächelte wieder herüber. Bevor ich noch überhaupt einen Plan fassen konnte, was ich tun könnte, bekam ich von hinten eine auf den Latz.

"Wo schaust denn du hin?", fuhr mich die Nonne an, die uns beaufsichtigte.

"Da hinten auf den Kirschbaum. Weil der so tolle Kirschen hat."

Früchte waren erlaubt, Mädchen nicht. Die Schwestern hatten ein strenges Auge auf uns und jeglichen Kontakt mit dem anderen Geschlecht extrem unterbunden. Kein Blick, kein Wort war erlaubt. Natürlich reizte uns genau das. Die einzige Gelegenheit, wenigstens einen Blick über die Schwelle zu werfen, gab es in der Kirche. Streng katholisch getrennt saßen unsere Heimmädchen auf der anderen Seite des Mittelgangs. Schon beim Reingehen hatten die Köpfe aller Jungs einen Drall in ihre Richtung.

Wie es sich für eine gute katholische Erziehung gehört, ministrierte meine ganze Wohngruppe. Gott sei Dank endete meine Kirchenkarriere schon früh, und zwar genau in dem Moment, als der von mir bis in die Waagrechte geschwenkte Weihrauchkessel am Knie des Pfarrers aufbrach. Weil der Pfarrer dabei nicht abfackelte, konnte er meinem Dienst in der Kirche umgehend ein Ende setzen.

"Es wäre wohl besser, wenn du das Haus Gottes verlässt, mein Freund", sagte er. Es war mir recht. Mein Leben war gut, wie es war, zumindest glaubte ich das. Wozu erst durch das Fegefeuer und auf etwas Besseres hoffen?

Es kam noch besser, völlig ohne Hölle. Aus welchem der Jungs denn noch etwas werden könnte, fragte Carl-Gustav eines Tages den Heimleiter. Carl-Gustav war ein angesehener Geschäftsmann in Landshut. Rotarier, mit viel Geld und sozialem Gewissen. Ich weiß nicht genau, wie der Heimleiter auf mich gekommen war. Mit zehn bekam ich also wohlhabende Pateneltern und verbrachte die Wochenenden fortan mit Inge und Carl-Gustav in einer bayerischen Landhausvilla, zwischen Hirschgeweihen und Heimatfilmen. Ich, Jeff aus dem Kinderheim. Kaiserin Sissi wurde zu meiner Welt. Ich kann heute noch den Franz.

Wie üblich sicherte ich meinen Teller mit dem ganzen linken Arm, als ich meine ersten Spaghetti in der Villa bekam. Ich beugte mich tief über die Schüssel und schaufelte im Rundschlag hinein, damit mir niemand etwas wegnehmen konnte. Aber keiner wollte an meine Spaghetti. Meine Pateneltern sahen mich an, als sei ich von einem anderen Stern. Ich aß langsamer und als ich als letzter die Gabel auf den Tisch legte, wollte gar keiner, dass ich abspülte. Ich war wirklich in einer anderen Welt gelandet.

Meine Pateneltern zeigten mir, wie man Spaghetti richtig isst und vieles andere mehr. Wir machten Ausflüge. Ärzte und Rechtsanwälte, Landshuts Großbürger, gingen bei uns aus und ein. Ich sah, wie man sich in diesen Kreisen bewegt. Wie man sitzt, spricht und wo das Besteck liegt. Zurück im Kinderheim aß ich meine Spaghetti fortan so vorbildlich, wie es sich gehörte. Danach war ich der, der als letzter hungrig in den leeren Topf schaute und ihn abspülte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Rundschlag anzuwenden, um wieder im Rennen zu sein. Ich lernte, dass es zwei Welten gab und ich lernte, mich anzupassen. Ich hatte alles. Ich war glücklich. Doch irgendetwas, ich wusste nicht was, fehlte mir.

Meine Mam besuchte uns ein einziges Mal im Heim. Vielleicht war sie auch öfter da, ich erinnere mich nicht. Nur dieses eine Mal blieb in meinem Gedächtnis. Meine Mutter ging gerade die Treppen hinunter, mit meiner kleinen Schwester an der Hand, als ich sie sah. Ich rief nach ihr. Sie drehte sich um und freute sich, mich zu sehen. Sie tat so. Die Wohngruppe meiner Schwester lag ein Stockwerk über uns und sie war auf dem Weg nach unten an meiner Etage schon vorbei gegangen. Ohne stehen zu bleiben. Ohne nach mir zu sehen. Sie wollte gar nicht zu mir. Ich habe meine Mutter nie vermisst, und in dem Moment wusste ich, dass ich auch keinen Grund dazu hatte.

***

Der Ruf der Frauen

Mädchen waren tabu, die Kirche kein Thema und der Unterricht lief spannungslos dahin. Es blieb der Fußball. Jede freie Minute kickten wir, meine Brüder und ich. Vor der Schule, hinter der Schule, nach der Schule. Der Tritt ins Leder wurde mein Leben und weil ich schlau und faul war und viel Geld verdienen wollte, beschloss ich mit zwölf, Fußballprofi zu werden. Ich spielte mit Leidenschaft und ohne von meinem Leben irgendetwas anders zu erwarten als ein Tor. Bis zu dem Moment, in dem ich sie sah.

 

Ich stand mit meinem Spezi Franz am Autoscooter. Wir warteten auf die Signalhupe, um uns einen Wagen zu schnappen. Da stand sie, am anderen Ende und lachte. Die Welt blieb stehen. Ich, ein halbes Waisenkind, ein halber Schwarzer, ein Junge mit nichts als einem Fußball und einer riesigen Afromatte auf dem Kopf. Und da war sie. Sie hatte tatsächlich die gleichen Haare wie ich, nur länger. Meine Diana Ross. Und sie lächelte zu mir herüber. Die Autos hielten. Franz rannte los. Ich wollte zu ihr hinüber laufen und gleichzeitig weglaufen. Wie ferngesteuert rannte ich hinter Franz her, schwang mich in den Sitz und drückte meinen Chip in den Schlitz. Ein anderer Ablauf war nicht programmiert. Als ich mich setzte, stand der Heini von der Aufsicht auf unserem Wagen und versuchte mir von hinten den Sicherheitsriemen über den Kopf zu ziehen. Ich wusste nichts, schon gar nicht, was ich tun sollte, wenn mich ein Mädchen anlächelte. Aber dass es nichts Uncooleres gibt, als einen Sicherheitsgurt um den Hals und dass man sterben muss, wenn eine Frau das sieht, das war mir noch sicherer als das Amen in der Kirche. Ich zog den Riemen herunter. Die Fahrt ging los. Nie glitt ich schöner dahin - Franz steuerte - und jedes Mal, wenn wir an Diana Ross vorbeikamen, schaute sie mich an und lachte. Mein Herz ging auf. Meine Gedanken rasten. Fünf Runden war ich zu nichts in der Lage. Dann tat ich es: Ich strahlte zurück. Genau in dem Moment traf mich der Blitz. Ein Wahnsinniger schoss frontal in unseren Wagen und mein Lachen schlug ungebremst auf den Lenker. Das Adrenalin schoss in mir hoch. Hatte sie es gesehen? In der nächsten Runde fuhren wir wieder an ihr vorbei. Jetzt war ich in Übung. Wieder lachte ich sie an. Doch ihr Lachen gefror zu einer Maske. Ich schaute meine Kumpel Franz an.

"Hey Jeff, du hast ja keinen Zahn mehr!"

Mit der Zunge konnte ich es spüren. Beim Aufprall dachte ich, ich hätte einen kleinen Stein im Mund, den ich herunter schluckte, um ihn loszuwerden. Es war kein Stein. Es war mein Schneidezahn, der sich verabschiedet hatte. Als der Scooter stoppte, sprang ich heraus und rannte davon. Ich weiß nicht wohin, nur weg. Der Zahn war mir egal. Nur weg. Durch die guten Kontakte meines Patenvaters war mein Gebiss zwei Tage später wieder vollständig. Die Lücke in meinem Gedächtnis blieb. Das Schicksal strafte mich, weil ich in der Nähe dieses Mädchens sein wollte. Das war nicht erlaubt, sagte meine Erziehung. Derweil zog nichts meine Gedanken mehr an als sie.

Der Blitz traf mich wieder, als ich sie zum zweiten Mal sah. Völlig unerwartet stand sie neben mir, vor der Eisdiele. Mein Körper war komplett gelähmt. Das Eis lief mir über die Finger. Ich musste etwas tun. Ich musste handeln.

"Wo kommst du her?", fragte ich sie. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Ich rechnete nicht damit, dass sie stehen bleiben würde. Doch sie antwortete. Vor lauter Aufregung hörte ich gar nicht, was.

"Und was machst du hier?", hörte ich mich weiter fragen.

Ich wusste gar nicht, ob ich das wissen wollte. Ich wollte nur, dass sie blieb. Während ihrer Antwort überlegte ich weiter, was ich sie noch fragen könnte, damit sie länger blieb. Sie lachte und ich fühlte mich durchsichtig. Sie sah, dass ich nichts zu bieten hatte. Dass ich ohne Sinn nur irgendwelche Fragen stellte, die vom Chaos in meinem Kopf auf meine Zunge fielen. Sie wusste, dass ich nicht einmal einen guten Grund für meine Fragen hatte. Und trotzdem blieb sie stehen und antworte mir. Mein Blick verengte sich auf ihren Mund. Während sie redete, sah ich ihre Lippen, ihre schönen Zähne, wie sie sogar beim Reden lachte und dann entdeckte ich es: Sie hatte einen falschen Zahn, genau wie ich.

"Du hast aber einen schönen künstlichen Zahn", platzte ich in ihre Antwort. Ihr Lachen gefror, genau wie auf dem Volksfest, als ich mit der riesigen Lücke im Gebiss an ihr vorbeifuhr. Und hörte ich nur noch, wie sie sich verabschiedete.

Zuhause saß ich unter den Jagdtrophäen meines Patenvaters, die das ganze Esszimmer schmückten, und konnte an nichts anderes denken, als an sie. Und diese Gedanken waren Vorwürfe an mich. Ich hatte es versaut. Ich hatte meine zweite Chance bekommen und sie ganz alleine vermasselt. Und zwar so richtig. Etwas Peinlicheres hätte man gar nicht sagen können. Und da war keiner, der mir den Fehler vorgab. Niemand, dem ich die Schuld zuschieben konnte. Es lag ganz alleine an mir. Ich wusste nicht, was ich wollte. Aber ich wusste, dass ich weiter davon weg war, als je zuvor. An der Wand hing ein ausgestopfter Vogel mit offenen Flügeln, gerade auf dem Sprung abzuheben. Daneben ein Achtzehnender. Ich zählte die Geweihspitzen. Achtzehn Jacken könnte man dort aufhängen. Wozu einem Hirschen dieses Horn vom Kopf sägen? Weil es das Horn vom größten Hirschen ist, den man jemals erwischen kann.

Und das Murmeltier grinste mich an mit seinen vergilbten Zähnen: "Wenn du nicht schießt, siehst du mich nie wieder." Murmeltiere sind schnell und scheu. Wer die einzige Gelegenheit nicht nutzt, kann jahrelang auf leere Erdlöcher starren. Ein Murmeltier taucht nie zweimal an der gleichen Stelle auf. Ich beschloss, es das nächste Mal besser zu machen. Wie? Keine Ahnung. Ich musste es versuchen. Ich musste diesem Alptraum ein Ende machen.

***

Mit fünfzehn kam ich in einen richtigen Fußballclub. Ich liebte meine Mannschaft. Die Jungs waren cool, unbandig, lustig. Die meisten waren ein, zwei Jahre älter als ich. Wenn das Spiel vorbei war und unser Trainer weg, dreht sich alles nur um das Eine: vögeln. Noch nie hatte ich jemals eine Frau nackt gesehen, aber hier - in der Kabine - hörte ich alles, was offensichtlich dazu gehörte, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Titten, blasen, lecken, geile Fotze. Alle hatten sie gebumst, von vorne und von hinten. "Und du, Jeff?" – "Klar!", sagte ich und wiederholte irgendetwas, das ich aufgeschnappt hatte, in anderer Reihenfolge, damit die Geschichte wenigstens ein bisschen was Eigenes hatte.

Wie jeden Sonntag holte mich auch dieses Mal mein Patenvater vom Spiel ab. Wir aßen. Wir spielten Schach. Ich verlor. Die Geschichten aus der Mannschaftsdusche ließen mir keine Ruhe. Ich erfand eine Hausaufgabe und verzog mich auf mein Zimmer. Auf dem Bett nahm ich meinen Schwanz in die Hand. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, aber ich wollte es endlich wissen. Im Heim lagen wir zu sechst im Zimmer. Keine Chance, dort etwas auszuprobieren. Hier bei meinen Pateneltern war ich allein, ungestört. Ich fing also an zu schrubben. Ich schwitze. Das Zimmer war heiß. Ich schrubbte weiter. Eine halbe Stunde, eine dreiviertel Stunde. Nichts passierte und ich wollte, dass etwas passierte. Ich wollte wissen, was passieren würde, und wenn mir dabei der Arm abfiel. Irgendwann merkte ich, dass etwas anders war. Ich schrubbte weiter. Und dann wurde es ganz anders.

"Jeheff! Bist du in Deinem Zimmer?", meine Patenmutter rief über die Treppe nach oben.

"Aehi?", ich riss mein Oberbett schnell über mich und merkte genau in diesem Moment, wie ich unter die Decke spritzte. Die Türe ging auf.

"Ja Jeff, warum liegst du denn im Bett?"

Ich lag mit der Daunendecke zugedeckt bis unters Kinn. Der Schweiß lief mir in Strömen von der Stirn.

"Bist du krank?", Inge kam besorgt näher.

"Ah, nein!"

"Du schwitzt doch, du bist krank!" Sie rief nach meinem Patenvater.

"Wir müssen dringend einen Arzt holen. Irgendetwas stimmt mit Jeff nicht."

"Bitte lass", bettelte ich, "ich stehe schon auf." Inge wandte sich ab, um noch einmal nach Carl-Gustav zu rufen. Ich drückte mich an ihr vorbei durch die Tür. Im Bad trocknete ich mich ab. Das war es also, wovon sie alle sprachen. Mein Schwanz konnte mehr als pissen.

"Geht's dir wirklich gut?", fragte mich Inge noch einmal, als ich nach unten kam. Gut genug, dass ich es bei nächster Gelegenheit sofort wieder versuchte und immer wieder. Ich verbrachte viel Zeit bei meinen Hausaufgaben. Ich schrubbte und schwitze. Und irgendwann dachte ich dabei an sie: Luise.

Luise war das Mädchen, auf das alle Jungs an unserer Schule standen. Ich sah sie immer wieder in der Raucherecke, wie sie sich mit den anderen unterhielt. Ihr Pferdeschwanz wippte und alle schwanzelten um sie herum. Sie war die Trophäe, die ich gerne an die Wand genagelt hätte. Aber davon war ich meilenweit entfernt. Ich traute mich nicht einmal so nahe an sie heran, dass ich überhaupt hätte zielen können. Doch eines Tages passierte es.

"Hallo!" Sie stand neben mir und fragte mich so ganz nebenbei: "Bist du nachher in der Raucherecke?"

Sie fragte mich. In meinem Kopf war nur ein Gedanke: zielen, schießen, abschleppen. Die Gelegenheit. Sie steht auf mich!

"Klar!", antwortete ich deshalb schnell. Noch nie hatte ich vorher eine Zigarette in den Fingern gehalten.

"Ich hab dich dort noch nie gesehen", bemerkte sie.

"Ich bin immer in der anderen Raucherecke." Es gab nur eine Raucherecke an unserer Schule. Sie ignorierte das.

"Kommst du nach der Schule?"

Nach dem Gong ging ich natürlich sofort in die Raucherecke. Das heißt, ich lief, ich schwebte dorthin. Da stand sie. Ich löste mich auf, verschwand im Erdboden, explodierte.

Sie sah mich an: "Hast du einen Rauch?"

Offensichtlich war ich noch da, weil ich sie das fragen hörte.

"Ah. Scheiße. Jetzt habe ich meine Zigaretten vergessen."

Klar, ich hatte ja auch noch nie welche gehabt. Mir war zum Davonlaufen. Aber meine coolen Fußballkumpels würden jetzt bleiben, sie zum Lachen bringen und gleich hier auf der anderen Seite der Schulhofmauer vögeln. Ich blieb also. Zum Glück löste sie das Problem.

"Warte. Ich organisiere schnell zwei."

Sie kam mit zwei Zigaretten zurück und wir zündeten sie an. Sie inhalierte, zog tief durch. Ich hielt meine Zigarette an den Mund und versuchte, dieses Ding irgendwie zu paffen.

"Du musst schon richtig anziehen." Sie sah mich an.

"Tu ich ja."

"Nein, richtig anziehen."

"Tu ich ja!"

"So richtig!" Ich hielt ihrem Blick nicht mehr stand. Und ich zog durch. Das war's. Es kam nichts mehr herein, es kam nichts mehr heraus. Die Schulhofmauer, die Grenze zwischen Himmel und Hölle, hielt mich aufrecht. Die Zeit stand unendlich still. Ich hielt die Luft an. Zum ersten Mal in meinem Leben richteten sich die Schweinwerfer auf mich: Alle sahen mich an, wie es aus mir heraus brach. Ich hustete und hustete mich zu Tode. Die Würde stirbt zuletzt und deshalb sprach es aus mir: "Ich hab mich verschluckt, irgendwie." Doch es war nichts mehr zu retten. Als ich meine Besinnung wieder hatte, musste ich aus Luises Leben verschwinden.

***

Es blieb wieder einmal nur der Fußball. Unsere Mannschaft hatte Erfolg. Und ich war der Mittelfeldmotor. Mit meinen 10,9 Sekunden auf hundert Meter hatte die gegnerische Abwehr keine Chance. Wir stiegen auf, von der C-Klasse in die B-Klasse. Die Mannschaft war meine zweite Ersatzfamilie. Der Trainer kümmerte sich wie ein Vater um uns, seine Frau brachte die Wurstsemmeln und seine zehnjährige Tochter bewunderte jedes Training und jedes Spiel mit ihren großen blauen Augen. Ich fühlte mich aufgehoben. Dann kam das Angebot. Ein Bezirksligaverein bot mir 500 Mark Spielergehalt im Monat.

"Du spielst mit Herz, du brauchst kein Geld", sagte mein Trainer.

"Genau", sagte ich. So blöd war ich. Unser Sportchef kaufte mir ein Paar neue Fußballschuhe. Und ich blieb.

Ich trainierte, ich arbeitete. Mit siebzehn hatte ich den Quali und einen Ausbildungsvertrag als Fliesenleger in der Tasche. Ich lebte nach wie vor im Heim und am Wochenende bei meinen Pateneltern. Dort saß ich und spielte mit Carl-Gustav Schach. Ausgehen war bei meinen Pateneltern kein Thema, Sex ebenso wenig. Eine Beziehung gab es nur zwischen Sissi und Franz, und die küssten sich nicht einmal. Das war meine Welt. Auch als ich volljährig war, war der einzige Club, den ich kannte, mein Fußballclub. Und die andere Welt? Das war der 'Night Club'. Meine Fußballfreunde schwärmten von dieser Disko und ihren Verlockungen. Ich wollte auch unbedingt dorthin, traute mich aber nicht, meine Pateneltern zu fragen. Ich träumte nur von den wilden Nächten und von den willigen Weibern aus den Erzählungen meiner Freunde, während ich mich in meinem Zimmer bei meinen Pateneltern selbst auf Temperatur brachte. Es musste etwas geschehen.

Meine Patenmutter blätterte in der Programmzeitschrift.

 

"Du, Inge?", fragte ich sie.

Inge suchte gerade nach einem schönen Heimatfilm für unseren gemeinsamen Abend. Sie sah mich an. Jetzt oder nie.

"Ich würde heute gerne mit meinen Freunden ins Kino gehen." Das Wort 'Diskothek' ging mir nicht über die Lippen. Meine Fußballfreunde hatten eine coole Party im Night Club angesagt. Jedes Mal hatte ich mich herausgeredet, dass ich zuhause helfen müsste. Wenn ich jetzt nicht fragte, dann würde das Leben an mir vorbeiziehen, auf nackten Beinen in wunderbaren Miniröcken, und mich auslachen.

Inge sah auf die Uhr. Es war Sommer, halb acht Uhr abends. Draußen herrliches Wetter. Immer noch 22 Grad. Sie sah mich an und wieder auf die Uhr.

"Was, jetzt noch?"

In der kurzen Pause starben alle meine Hoffnungen.

"Wann willst du denn nach Hause kommen? Etwa erst um elf?"

Sie deutete mir, zu warten und mich ins Esszimmer zu setzen. In der Küche hörte ich sie mit Carl-Gustav flüstern. Dann kamen sie zu mir an den Tisch. Carl-Gustav setzte sich. "So. Dann machen wir jetzt mal eine Ausnahme. Ich bringe dich hin und hole dich wieder ab. Um halb zwölf."

Mein Patenvater setzte mich genau vor dem Kino ab. Natürlich war hier niemand. Ich erklärte ihm, dass meine Freunde immer ein bisschen später kommen würden. Nett, wie er war, wollte er mit mir warten.

"Vielleicht sind sie schon drin", bemerkte ich.

Zum Glück glaubte er das und ließ mich gehen. Wie ein Verrückter lief ich zum Night Club. Ich ging hinein und war wie im Rausch. Zum ersten Mal habe ich etwas getrunken. Natürlich nicht viel, damit meine Pateneltern nichts riechen. Zum ersten Mal hab ich Mädchen gesehen, wie sie aussehen, wenn sie sich hübsch machen. Und weil man bei dem Lärm sowieso mit niemand sprechen konnte, durfte ich sie anschauen, so viel ich wollte. Ich war im Himmel. Gefühlt fünf Minuten später war es Viertel nach elf. Für meine Kumpels erfand ich einen Freund, den ich ganz kurz abholen müsste und 10,9 Sekunden später war ich zurück am Kino. Von weitem schon sah ich das Auto von Carl-Gustav. Im toten Winkel seines Rückspiegels schlich ich mich heran. Dass ich als Erster aus dem Kino kam, erklärte ich mit dem Abspann, auf den ich keine Lust gehabt hätte und als ich den Inhalt eines nie gedrehten Films erfand, um die Neugier meines Patenvaters zu befriedigen, wusste ich: So kann es nicht weitergehen. Ich wollte endlich ein ganz normaler Jugendlicher sein. Ich war neunzehn. Ich wollte keinen Mittelgang mehr zwischen mir und den Mädchen, ich wollte keine mehr von hinten auf den Latz. Ich wollte eine Frau anfassen, mit ihr reden, mit ihr alles tun, was die anderen taten.

Am nächsten Morgen hatte ich den Todesmut beisammen, mein Leben in die Hand zu nehmen. Nach dem Frühstück spannte ich alle Muskeln an, laut und gefasst kam es aus mir heraus.

"Ich wollte euch etwas sagen!"

Meine Pateneltern blickten mich freundlich an.

"Was denn?"

Keine Frage auf der ganzen Welt macht eine Antwort schwieriger als diese. Ich sprudelte los, dass ich gerne eine eigene Wohnung hätte, dass ich schauen wollte, wie das ist, wenn ich auf eigenen Beinen stehe und dass ich nach der Lehre ohnehin zu alt für das Heim sei und damit der Schritt sowieso unausweichlich wäre und so fort, bis mir unter dem stummen Blick meines Patenvaters kein Wort mehr über die Lippen kam. Schweigen. Langes Schweigen. Carl-Gustav setzte gemächlich an.

"Wie gut", er machte noch einmal eine Pause, damit meine Hoffnungen Zeit hatten, auf Null zu sinken, "wie gut, wenn ein Junge schon so früh sein Leben in eigene Hände nehmen will."

Ich war fassungslos. Dies war der erste und schönste Moment am ersten Tag meines eigenen Lebens.

Meine erste eigene Bude war ein Zimmer. Immerhin in einer Villa, mit Swimmingpool. Das Bad benutzte ich gemeinsam mit meiner Vermieterin. Sie war eine Freundin meiner Patenmutter aus dem Rotary Club. Mein Zimmer hatte zwanzig Quadratmeter und meine Vermieterin eine Menge Fragen: Wohin gehst du? Wann kommst du? Wen triffst du? Einen Unterschied zum Leben bei meinen Pateneltern gab es nicht, außer dem Gefühl, dass meine Vermieterin zwar fragen, aber mir letztlich nichts verbieten konnte.

An meinem ersten Samstag in Freiheit traf ich mich mit all meinen Fußballfreunden im Night Club. Als Franz und Olli beschlossen, bei mir zuhause weiterzufeiern, war ich schon zu betrunken, um nein zu sagen. Ein Dutzend Leute stiegen vor der Villa aus dem Auto. Die ersten kürzten durch den Garten ab und fielen mitsamt dem Bierträger in den Pool. Im Treppenhaus vergaß ich, dass die oberste Stufe locker war. Ich stolperte und riss die drei hinter mir den Absatz hinunter. Vom Treppenhaus torkelten wir durch das Wohnzimmer. Ich weiß nicht mehr, wer in den Glastisch gefallen ist. Endlich kamen wir in meinem Zimmer an. Als ich das Licht anmachen wollte, fühlte ich, dass auf dem Schalter schon eine Hand lag. Das Licht ging an. Franz staunte: "Mann, ist die hässlich!"

Meine Vermieterin war leider wirklich ziemlich hässlich. Wir lachten alle furchtbar. Meine Vermieterin nicht. Sie schaute nur und dann sagte sie:

"Dies ist deine Kündigung!"

Am nächsten Tag rief mich Carl-Gustav an. Er schrie ins Telefon, was losgewesen sei, lauter Freunde, alle betrunken. Ich stotterte irgendwas von jemandem, der mir etwas ins Getränk getan hätte. Dass man mich nachhause bringen wollte und dass ich fast bewusstlos gewesen wäre und mich an nichts erinnern könnte. Schweigen am anderen Ende der Leitung.

"Komm erst mal nach Hause!"

Meine Pateneltern sorgten sich um mich. Ich sollte halt nicht mehr weggehen, ich sollte besser aufpassen und am besten nichts mehr trinken. Zu meinem großen Glück ist die Geschichte gut ausgegangen. Sogar die Kündigung meines Zimmers wurde aufrechterhalten. Nie hätte ich der Dame wieder unter die Augen treten wollen. Stattdessen erhielt ich meine zweite Chance: Meine Pateneltern versprachen mir eine eigene Wohnung.

Wie es der Teufel will, riss ich mir beim nächsten Fußballspiel alle Außenbänder meines rechten Fußes. Ich lag also im Krankenhaus, während meine Pateneltern eine Wohnung für mich aussuchten und anmieteten. Als ich entlassen wurde, half mir mein Bruder beim Umzug in diese Wohnung, die ich nie gesehen hatte. Da stand ich nun mit meinen drei Habseligkeiten im Türrahmen und staunte: Die Wohnung war billig und genau so sah sie aus. Der Gasofen stand im Flur. Die Fertigdusche ebenfalls, genau wie der Boiler. Es gab eine Toilette, die war so lang, dass ich auf dem Rückweg oft umdrehen musste, weil ich schon wieder pissen musste. Das einzige bewohnbare Zimmer war möbliert, und ich war sprachlos. Mein erster Nagel riss einen halben Quadratmeter Putz von der Wand. Ob die Wohnungstüre zu war oder nicht, spielte keine Rolle, es war hellhörig, es war schlimm. Und das Allerschlimmste: Auf der Straßenseite befand sich ein Laden, und ein Schlüssel zu meiner Wohnung berechtigte den Ladenbesitzer, seine Geschäfte auf meiner Toilette zu erledigen.

Ich stand lange Zeit im Türrahmen und mir wurde klar, dass ich keine andere Wahl hatte. Diese Tür war mein Tor zur Freiheit. Und zu Frauen.

***