Ardeen – Band 10 | Teil 1

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Aus der Reihe: Ardeen #10
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Ardeen – Band 10 | Teil 1
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Sigrid Kraft

ARDEEN

Band 10 | Teil 1

Eryns Insel

© Ardeen GbR

1. Auflage, 2020

Nachdruck, Vervielfältigung oder Verbreitung, elektronische Speicherung oder Verarbeitung, ganz oder auszugsweise, nur nach ausdrücklicher Genehmigung durch die Autorin.

Illustrationen: Sigrid Kraft

Gestaltung und Satz: Tobias Fahnauer, www.fahnauer.de

Endkorrektur: Florian Blauel

ISBN 978-3-941436-49-7

Wissenswertes, Landkarten und aktuelle Informationen gibt es unter:

www.Ardeen.de

www.facebook.com/ardeen.fantasy

www.ArdeenShop.de

Inhalt

Inhalt

Zuflucht

In den Wegen

Auf Schatzsuche

Kraag

Udrat

Verschwunden

Scharmützel

Das Ende einer Reise

Im Dienste des Drachen

Die Gesetze Ardeens

Ein perfekter Gastgeber

Feldzug im Süden

Eine ungerechte Welt

Ein Wiedersehen

Tiundors Schätze

Junge Herzen

Der rote Drache

Karte


Zuflucht

Eryn trieb durch den Nebel der Wege und noch tat er sich schwer damit, die Geschehnisse der letzten Zeit zu begreifen. Ärger wallte in ihm hoch. Dieser Drecksack Ador hat mich als Objekt seiner Forschungen missbraucht. Wie kann ein Vater bloß so kaltherzig und grausam sein. Natürlich, er ist ja nicht mein Vater – Er ist lediglich mein Erschaffer. Bin ich doch genauso ein Hybrid wie der trottelige Chirok. Diese Gedanken schmeckten wie Galle.

An seine ersten Tage in Elverin konnte Eryn sich noch erinnern. Aber dann, in den Wochen und Monaten unter dem Einfluss des Rauschkrautes verschwammen Traum und Wirklichkeit. Chirok, Ador, Elverin, die Feen. Nichts als wirre, zusammenhanglose Fetzen seiner Erinnerung. Er meinte auch, sich an Vedi zu erinnern, war sich aber nicht sicher, ob er seinen alten Freund tatsächlich gesehen hatte oder ob alles nur ein Traum gewesen war.

Als sein Kopf plötzlich wieder klar war, da fand er sich in Gesellschaft von Meister Savyen in Draegnok wieder, ohne einen blassen Schimmer, wie er überhaupt dorthin gekommen war. In knappen Worten erklärte ihm sein Urgroßvater die Lage und offensichtlich hatte Eryn ihm seine unverhoffte Rettung zu verdanken. Weder seinem Dienstherrn Meister Raiden noch seinem Freund Vedi, dem kleinen schwarzen Drachen, sondern dem griesgrämigen Meister Savyen, dem er am allerwenigsten einen Sinn für Familie zugetraut hätte.

Doch die Zeit drängte und Eryn schob die Erinnerungen an die Vergangenheit beiseite.

Eine Stunde hält die Unterdrückung des Rauschkrautes an, das hat er gesagt. Das ist nicht sonderlich viel Zeit, um sich eine neue Bleibe zu suchen. Es muss ein sicherer Unterschlupf sein, wo mich keiner findet. Ich muss mich beeilen, bevor der Entzug einsetzt. Und mit Grausen erinnerte sich Eryn an seine erste Erfahrung mit dieser starken Droge. Damals hatte er nur kurz unter dem Einfluss des Krautes gestanden, aber diesmal war es anders. Monate der vollständigen Abhängigkeit waren vergangen und Meister Savyen hatte ihn bereits vorgewarnt, der Entzug würde grausam sein.

Eins nach dem anderen. Ich muss mich zunächst in Sicherheit bringen. Ador ist der Meister der Wege. Wer weiß, welche Zauber er beherrscht, um meine Spur zu finden.

Meister Savyen hatte Eryn zwar versichert, dass das Wasser die Spuren verwischen würde, doch gewisse Zweifel blieben und die nackte Angst, wieder nach Elverin verschleppt zu werden, ließ Eryn erschaudern.

Ador ist zu mächtig, als dass ich offen gegen ihn kämpfen könnte. Wenn nicht einmal Meister Raiden eine Chance gegen ihn hat, was kann ich da schon ausrichten. Aber vielleicht war es Meister Raiden die Sache auch gar nicht wert. Wer bin ich schon für ihn? Ein weiterer seiner vielen nützlichen Dienstboten, mehr nicht.

Diese Vorstellung schmerzte Eryn mehr, als er sich eingestehen wollte. Naganor mit all seinen Bewohnern war ihm eine zweite Heimat geworden und er verband viele gute Erinnerungen mit diesem Ort. Nicht zuletzt, weil sich auch sein Sohn Gannok dort befand, und Eryn fühlte sich schäbig, weil er seinen Sohn derart im Stich gelassen hatte.

Warum musste ich auch nach Elverin gehen? Ich hatte alles und nun habe ich nichts mehr.

Das war ein Fehler gewesen, sah Eryn nun reumütig ein. Doch daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Die Ereignisse im Goldenen Turm waren ihm eine bittere Lehre gewesen und nun war die Zeit gekommen, auf eigenen Füßen zu stehen. Irgendwie hatte Eryn immer gewusst, dass er nicht ewig bei Meister Raiden bleiben würde und nun hatte ihm das Schicksal diese Entscheidung abgenommen. Jetzt gab es keinen Weg mehr zurück und ein Neuanfang stand bevor.

Eryn trieb an den Rand des Nebels, sodass er in die reale Welt hinaussehen konnte. Wie durch einen Wasserschleier konnte er die leicht verschwommenen Umrisse der Landschaft erkennen. Vor ihm lag ein Kornfeld kurz vor der Ernte und dahinter konnte man ein kleines Dorf erkennen.

Ein Fremder, der in solch ein Dorf kam, warf Fragen auf und sorgte für Gerede. Darum zog sich Eryn wieder zurück in den Bereich des magischen Reisens. Die Wege, wie jene Zone genannt wurde. Doch Wege im üblichen Sinne gab es hier keine. Wie genau das Reisen funktionierte, hatten schon klügere und vor allem weitaus erfahrenere Magier als Eryn vergeblich versucht zu ergründen. Es gab Gesetzmäßigkeiten und kannte man das magische Profil eines Ortes, so konnte man direkt dorthin gelangen. Das war die Art, wie die meisten Magier die Wege nutzten. Denn ein Herumstreunen in der nebeligen Wolke barg durchaus unvorhersehbare Gefahren. Eryn hatte eine Möglichkeit gefunden, um sich an die Oberfläche treiben zu lassen – jene Zone, kurz bevor er die Wege verließ, und er konnte dort verharren. Eine weitere nützliche Errungenschaft war das Entlangschweben an eben dieser Austrittsgrenze und er hatte auch gelernt die Struktur zu erkennen, in der er sich befand. Gestein, Wasser, Luft oder jenen Bereich, der ihn auf der Erdoberfläche herauskommen ließ. Sein erster Gedanke war es, sich ein Versteck in den Bergen zu suchen. Er war im Gebirge aufgewachsen und verband damit immer noch gute Erinnerungen. Aber dann dachte er an Meister Savyens Hinweis. Wasser verbarg und Wasser verwischte die Spuren der Magie. Somit war eine Insel der ideale Ort.

Ich suche mir eine einsame Insel weit draußen im Meer.

Nachdem sein Entschluss feststand, begab er sich auf die gezielte Suche. Normalerweise initialisierte man die Zieladresse noch vor dem Eintritt in die Wege, doch Eryn standen mithilfe seiner goldenen Ader weitaus größere Möglichkeiten zur Verfügung. Ihm war es möglich, sein Ziel auch innerhalb der Wege auszuwählen und das tat er nun. Nicht punktuell, sondern nur vage. Ein Ort, den die blaue Magie des Wassers prägte, vermengt mit ein wenig Grau für Felsgestein und natürlich war etwas Weiß für die Luft an der Oberfläche notwendig. Schließlich wollte er nicht auf dem Grund des Meeres herauskommen, sondern eben auf einer Insel. Die Magie brachte ihn scheinbar wahllos an einen Ort und Eryn tastete sich an die Grenzlinie zur realen Welt heran. Vor ihm erstreckte sich eine zerklüftete Felslandschaft. Als er das Tor verließ, schlug ihm ein eisiger Wind entgegen und riss heftig an seinen Haaren und der dünnen Kleidung.

Ein unwirtlicher Ort, urteilte Eryn, bevor er dann das missliche Wetter mit einem Schild aussperrte. Der karge Fels hatte nichts von einem gemütlichen Heim, doch darum ging es ja auch nicht.

Einsam und verlassen, bestätigte sich Eryn beherzt in seiner Entscheidung und ließ dann ein Auge aufsteigen, um zu prüfen, ob dem auch wirklich so war. Ein paar Seevögel nisteten in den Felsspalten, ansonsten gab es keine Anzeichen von Leben auf der Insel. Doch als Eryn sein Auge in die Ferne schweifen ließ, entdeckte er Land. Eine dunkle, unregelmäßige Linie, die sich von Nord nach Süd zog und direkt in Richtung seines Spähauges erhob sich ein Turm in den Himmel. Aus der Entfernung war er nicht größer als ein schmaler Finger, dennoch war das Gebäude unverkennbar ein Turm und Eryn wusste sofort, wo er gerade war. Draegnok. Diese hässliche Insel liegt direkt vor Meister Savyens eigener Haustür. Eryn empfand keinerlei Bedauern, als er den Felsen wieder verließ und in die Wege zurückkehrte.

 

Wasser ist zwar eng mit dem Kreis Blau verbunden, doch es ist nicht dasselbe. Wasser ist ein Element und der Kreis Blau ein magischer Fluss. Draegnok liegt nicht von ungefähr in solch einem Gebiet.

Sein Hang zur Wissenschaft ließ ihn die Dinge derart analysieren. Dann wählte er deutlich weniger von der blauen Magie und fügte stattdessen noch etwas Orange für Wärme hinzu.

Das brachte ihn zu einem anderen kargen Felsen von rundlicher Form. Keine fünfzig Meter im Durchmesser und an seiner höchsten Stelle mochte er gerade mal an die Zehnmetermarke heranreichen. Hier war es genauso windig, jedoch nicht ganz so beißend kalt und auch das Spähauge konnte nichts und niemanden in der näheren Umgebung ausfindig machen.

Zufrieden nickte Eryn und beschloss, genau hier einen Neuanfang zu wagen.

„Mein neues Heim, hier soll es sein“, scherzte er. Er hatte keine genaue Einschätzung darüber, wie viel Zeit ihn die Suche gekostet hatte, doch mit Schrecken wurde ihm bewusst, dass er noch viel zu erledigen hatte, bevor die Wirkung des Rauschkrautes wiederkehrte und seinen Geist hoffnungslos benebeln würde.

Wenn man sich ranhielt, konnte man wirklich viel in kurzer Zeit erledigen und das tat Eryn. Nun gab es in der Felsnase auf mittlerer Höhe einen Raum mit einem Ausgang nach draußen und einem Fenster, welches natürliches Licht hereinließ. Nun, Fenster klang ein wenig übertrieben für das Guckloch mit der groben Scheibe davor, die das Licht bräunlich färbte und die Außenwelt lediglich schemenhaft erkennen ließ. Eryn hatte sie aus einem Kristall geschnitten, weil ihm die Herstellung von Glas nicht bekannt war und er konnte hier auch kaum etwas magisch einsammeln. Das war nämlich sonst die bevorzugte Methode der Magier etwas Neues zu erschaffen. Man stahl die Substanz von schon vorhandenen Gegenständen und kopierte dann das Muster. Aber da es hier nichts gab, stieß diese Methode rasch an ihre Grenzen und die Einrichtung der neuen Wohnung war äußerst primitiv. Links vom Eingang gab es drei Steinbecken. Das erste enthielt Trinkwasser, das mittlere war mit Salzwasser gefüllt und ein paar Fische schwammen darin. Das dritte enthielt einen Vorrat an gebratenem und getrocknetem Fisch und Eryn befürchtete, dass ihm dieses Nahrungsmittel schon bald zum Hals heraushängen würde. Fische, Muscheln und Seegras, mehr hatte er in der Eile nicht gefunden. Einen guten Teil des Seegrases hatte er getrocknet und in seinem Lager erst einmal gehortet. Vielleicht konnte es später daraus Matten oder andere brauchbare Dinge flechten. Doch während er seine Wohnstätte erschuf, hatte er für solche Spielereien keine Zeit. Nun lag also ein beträchtlicher Haufen auf der rechten Seite der Höhle, während sich in der Mitte des Raumes ein Steintisch mit einem Steinblock als Sitzgelegenheit befand. Der war nun mit Blechgeschirr und einfachstem Werkzeug vollgestellt. Denn zum Glück war das Felsgestein reich an Eisen. An der Wand gegenüber von Eingang und Fenster stand Eryns neues Bett. Eine rechteckige Aussparung, die er mit etwas Sand aus der Aushöhlung seiner Wohnstatt gefüllt hatte. Der Rest davon war ins Meer gewandert. Auf diesem Sandlager saß Eryn nun schweißgebadet und zitterte leicht. Er war total erschöpft und leichte Kopfschmerzen kündigten bereits das Verblassen von Meister Savyens Unterdrückungszauber an.

Eryn schloss kurz die Augen und stöhnte leise. Nicht mehr lange und die Hölle beginnt.

Es würde eine Zeit voller Schmerzen und Leiden werden, doch noch etwas anderes machte ihm dabei Sorgen. Wenn ich nicht mehr klar denken kann, kann ich dann trotzdem noch Magie wirken? Und dann entfaltete sich in seiner Fantasie ein ganzes Horrorszenario, wie ihm gerade die Magie großen Schaden zufügen könnte. Die Vorstellungen reichten von einem unbeabsichtigten Verraten seines Verstecks bis hin zu einem verpatzten Zauber, der ihn das Leben kostete.

Und selbst ohne Magie könnte ich mich von dieser Klippe stürzen und im Meer ertrinken. Die Kopfschmerzen wurden stärker und machten ein klares Denken immer schwerer. Am liebsten hätte er sich einfach hingelegt und versucht zu schlafen. Doch ihm war durchaus bewusst, wenn er noch etwas vorbereiten wollte, dann musste er es jetzt tun.

Ein Magieblocker, und ich kette mich an die Wand. Das sollte das Schlimmste verhindern. Seine Gedanken flossen bereits wie zäher Brei dahin und er brauchte zwei Anläufe, bevor er einen brauchbaren Magieblocker hergestellt hatte.

Den Reif hatte er mit einer Kette verbunden. Diese war in der Wand verankert und lang genug, damit er sich im ganzen Raum frei bewegen konnte. Mit einer gewissen Abscheu betrachtete er den Reif.

Es ist entwürdigend, aber notwendig, urteilte er und entschied dann: Ich lege ihn um den Fuß. Bei den Göttern, diese Kopfschmerzen bringen mich um. Ich bin so ausgelaugt. Er schloss seine Augen und fühlte, wie ihn die Erschöpfung zu übermannen drohte. Doch dann riss er sich zusammen. Ich kann mich noch nicht ausruhen. Ich muss den Reif anlegen. Ob es schlimmer wird, wenn meine Magie versiegt ist? Aber mit Magie ist es einfach zu gefährlich. Dann wirkte er noch einen letzten Dehnungszauber und schob den vergrößerten Reif schnell über seinen Fuß. Die Magie versiegte schlagartig, während sich der Reif um seinen Knöchel wieder zusammenzog.

Selbst eingesperrt, dachte er dümmlich und legte sich anschließend auf sein Sandbett. Noch war ihm angenehm warm, denn mit Magie hatte er den Raum aufgewärmt. Aber er hatte vergessen, diese Magie zu entkoppeln und so erstarb die Wärmequelle in dem Moment, in dem auch seine Adern versiegten. Eryn war das im Augenblick egal. Er war so müde, dass er fast augenblicklich in den Schlaf hinüberglitt. Aber erholsam war dieser Schlaf nicht. Unruhig wälzte er sich hin und her, während ihn wirre Träume heimsuchten und die permanenten Kopfschmerzen ihm eine entspannte Erholung versagten. Schließlich weckten ihn diese miserablen Schmerzen zusammen mit einer grausamen Übelkeit auf. Es musste tiefste Nacht sein, denn im Raum war es stockdunkel. Eryn wälzte sich auf die Seite, um aufzustehen. Doch der Versuch verschlimmerte seinen Zustand noch weiter und anstatt auf die Beine zu kommen, fiel er zurück auf die Knie und erbrach sich. Einmal, zweimal und obwohl nun nichts mehr in seinem Magen war, hörte der Würgereiz nicht auf. Seine Hände krallten sich in das gehortete Seegras und er war sich dessen nicht einmal bewusst.

Ich brauche den Trank. Bei den Göttern, ist mir schlecht. Gebt mir das Kraut. Aber niemand erhörte sein Flehen und schließlich beruhigte sich sein Magen wieder, während er sich unglaublich schwach fühlte und am ganzen Körper zitterte. Er sehnte sich nach Wärme und Geborgenheit und nach dem wohligen Trunk aus Rauschkraut. Aber er hatte nichts von alledem. Es war inzwischen ganz schön frisch in seinem neuen Refugium geworden und der Gestank seiner eigenen Kotze stieg ihm ekelerregend in die Nase. Auf allen vieren kroch er von dem widerlichen Geruch weg. Seine linke Hand griff versehentlich in das glitschige warme Nass am Boden, während seine andere den Haufen Seegras ertastete. Er grub sich in den Haufen Tang ein, denn sein trügerisches Hirn versprach ihm Wärme unter der Schicht trockener Pflanzen. Die sperrigen Blätter halfen nicht viel gegen die Kälte der Nacht, doch der intensive Geruch des Tangs überlagerte zumindest den anderen Gestank. Sein Kopf schmerzte nun nicht mehr ganz so stark, doch jetzt ließ ihn die Kälte frösteln. Geraume Zeit lag Eryn zusammengerollt da und wimmerte.

„Gib mir Rauschkraut. Chirok, siehst du nicht, wie schlecht es mir geht. Selbst der Schöpfer kann dies nicht wollen. Ich brauche den Trank, den Trank, den Trank ...“

In seinem Geist vermischte sich alles. Vergangenheit, Gegenwart und Traumbilder formten sich zu einer ganz eigenen Realität.

Er erwachte, als es draußen bereits hell war und sah sich verwundert um.

Wo bin ich? Das ist nicht Elverin. Oder doch? Bin ich in einem der Kerker tief unten im Turm?

Ziemlich wackelig kam er auf die Beine und betrachtete seine Umgebung. Dann blitzte eine Erinnerung in seinen verschwommenen Gedanken auf. Ich bin geflohen. Meister Savyen war bei mir und hat mir einen Trank gegeben – einen anderen Trank und dann habe ich mich hierhergezaubert. Oder ist das alles nur eine Illusion? „Ador, du Schöpferarsch, zeig dich. Ich habe genug von deinen Spielchen!“, schrie er so laut, dass es von den Wänden widerhallte, doch nichts weiter geschah. In seinem Zustand war es für Eryn ausgesprochen mühsam, einen Gedanken zu Ende zu führen und dann war ihm auch schon wieder egal, ob dies hier eine Illusion war oder nicht. Er war durstig, also torkelte er zu einem der Becken hinüber und trank, bevor er den Schluck prustend wieder ausspuckte.

„Wäh, Salzwasser. Und da schwimmen Fische drin.“ Dass er diese Becken selbst gemacht hatte, war ihm entfallen. Doch nun sah er das andere Becken und diesmal probierte er zunächst vorsichtig.

Gut, Süßwasser, stellte er zufrieden fest und dann trank er gierig. Danach tat er sich an dem gebratenen Fisch gütlich. Dabei interessierte ihn das Geschirr auf dem Steintisch reichlich wenig. Mit bloßen Händen stopfte er sich das Essen in den Mund, bis er satt war. Doch nach dem Essen kamen die Kopfschmerzen zusammen mit der Übelkeit zurück und raubten ihm den kläglichen Rest seines Verstandes. Dann begann er auch noch zu fiebern und fühlte sich, als würde er innerlich verbrennen.

Die Zeit verlor gänzlich an Bedeutung und die Tage vergingen. Schließlich sank das Fieber und Eryns Geist wurde wieder etwas klarer. Er fühlte sich unendlich matt, doch die Kopfschmerzen waren verschwunden. Auch daran, wie er hergekommen war, erinnerte er sich wieder und dann war da dieses unglaublich starke Verlangen nach Rauschkraut. Die Droge rief nach ihm wie eine süße Verheißung.

Ich muss etwas von dem Zeug auftreiben. Ich muss ...

Aber hier gab es kein einziges Blatt dieser begehrenswerten Pflanze und Eryn hätte diesen unwirtlichen Ort am liebsten sofort verlassen. Doch die Kette an seinem Knöchel hinderte ihn daran. Die Haut war von dem Metall inzwischen aufgescheuert und da der grässliche Kopfschmerz der vergangenen Tage verschwunden war, rückte das unangenehme Brennen nun in den Vordergrund.

Wie konnte ich nur so blöd sein, mich selbst an die Wand zu ketten? Hätte ich meine Magie, dann könnte ich diese lächerliche Hautabschürfung spielend heilen und Rauschkraut auftreiben. Ich war so glücklich damit. Ich will es wiederhaben.

Eryn riss an der Kette, doch die hatte keinerlei Verständnis für seine Wünsche und blieb fest in der Mauer verankert. Erst jetzt interessierte er sich für die die Gegenstände auf dem Steintisch, ob sich darunter vielleicht ein brauchbares Werkzeug befand. Zunächst versuchte er mit dem groben runden Stiel einer Gabel eines der Kettenglieder aufzubrechen, doch bald schon gab er diesen kläglichen Versuch auf.

Ich bin so schwach geworden. Also beschloss er etwas zu essen.

„Fisch, welch große Auswahl. Wenn ich hier raus bin, dann werde ich nie wieder Fisch essen.“ Danach wollte er seinen Durst stillen. Doch als er vor dem Becken stand, zögerte er.

„Was schwimmt denn da an der Seite?“ Bei den Göttern, ich habe in das Trinkwasser gekotzt. So gut es ging, schöpfte er die Verunreinigung heraus, doch von nun an schien ihm, als habe das Wasser einen komischen Beigeschmack.

Trotz alledem hatte ihn das Mahl schläfrig gemacht und er zog sich in den Seegrashaufen zurück. Obwohl sein Kopf sich inzwischen klarer anfühlte, war er immer noch weit von einem logischen Denkvermögen entfernt. Äußerst sprunghaft glitten seine Gedanken hin und her und er beschäftigte sich nur mit seinen unmittelbaren Bedürfnissen. Essen, Schlafen und Rauschkraut.

Aber auch diese zweite Phase des Entzuges besserte sich langsam, nur um ihn mit neuen Problemen zu konfrontieren.

Eryn zerkaute Seegras und stopfte den weichen Brei zwischen Haut und Eisenfessel. Das linderte die Schmerzen der Schürfwunde und wirkte dem erneuten Wundreiben entgegen. Ich muss das Ding loswerden. Warum habe ich nicht an ein verdammtes Schloss gedacht?

„Weil du ein hirnloser Hybrid bist.“

Eryns Kopf zuckte nach oben, denn diese Stimme kannte er nur allzu gut. Hinten in der Ecke stand Ador und betrachtete Eryn mit der gewohnten Geringschätzigkeit.

„Wie kommst du hier her?“, fragte Eryn entgeistert und Ador lächelte abfällig.

 

„Wie schon. Durch ein Tor. Oder hast du geglaubt, ich würde schwimmen?“ Dann zog er einen Beutel aus seiner Jackentasche und schwenkte ihn lockend hin und her.

„Sieh, was ich dir mitgebracht habe. Einen ganzen Beutel voller Rauschkraut. Willst du es haben?“

Und wie Eryn das wollte. „Gib es mir!“ Sein wunder Knöchel war vergessen und er sprang nach vorne. Dabei rammte er die Tischkante und kam ins Straucheln. Er stieß einen Schmerzenslaut aus und fand sich auf dem Boden wieder. Als er sich wieder aufgerappelt hatte und fest entschlossen war, sich nun das Rauschkraut von Ador zu holen, da war niemand mehr im Raum.

„Ador, verdammt, wo bist du?“ Verhüllt er sich mit Magie? Verspottet er mich? Wie hat er mich überhaupt gefunden? Kann er Spuren in den Wegen finden? Er hatte viele Fragen und keinerlei Antworten.

Eryn erging sich erneut in lautstarken Beschimpfungen, doch sein Vater blieb vorerst verschwunden.

Aber das plötzliche Erscheinen Adors stürzte Eryn in eine tiefe Krise.

Meine Flucht war umsonst. Er hat mich gefunden und nun quält er mich wieder mit seinen sinnlosen Experimenten. Wahrscheinlich beobachtet er mich gerade und will herausfinden, wie ich mich verhalte.

Eryn kauerte sich ängstlich in seinen Seegrashaufen. Er hatte versagt. Seine Flucht war umsonst gewesen und Ador hatte ihn gefunden. Andererseits aber konnte der Herr von Elverin Eryn das geben, was er am meisten begehrte – das Rauschkraut. Und so wich die Angst und machte einer tiefen Erleichterung Platz.

Es ist vorbei. Er hat mich entdeckt und nun wird wieder alles gut. Ich muss nur abwarten. Eryn döste eine Weile im Sitzen vor sich hin, dann erinnerte er sich an die Fußfessel und holte sich jenes Messer, in das er inzwischen ein paar Kerben gehauen hatte. Das war das beste Werkzeug, das er hatte und damit kratzte er jetzt auf der Eisenfessel herum. Es war nicht so, dass er dabei große Fortschritte gemacht hätte, doch es war eine Beschäftigung und irgendwie hatten diese ständigen Wiederholungen in der Bewegung etwas Beruhigendes.

„Das ist sinnlos.“

Diesmal erschrak Eryn nicht ganz so sehr wie beim ersten Mal, doch er hielt sofort in seinem Tun inne. „Ich weiß, doch du könntest mir die Fessel abnehmen. Ein Leichtes für einen Magier.“

Diesmal stand Ador in der anderen Ecke. „Warum sollte ich das? Du hast dich doch selbst in diese Situation gebracht.“

Eryn fuhr mit dem Gekratze fort. „Habe ich nicht. Du hast mich in Elverin gefangen gehalten und mit Rauschkraut vollgepumpt.“ Dann sah er doch auf und in seinen Augen glitzerte es gierig.

„Hast du welches dabei?“

„Vielleicht“, meinte Ador vage und Eryns ganze Aufmerksamkeit war geweckt.

„Gib mir etwas davon. Ich brauche es. Du weißt, dass ich es brauche und das Hybridenrecht verbietet, dass du mich unnütz quälst.“

„So, jetzt bist du also doch ein Hybrid?“, verspottete ihn Ador und Eryn reagierte plötzlich übertrieben heftig und schrie:

„Ja! Und jetzt gib mir das Rauschkraut.“ Dabei warf er das Messer nach Ador, doch das flog einfach durch die Gestalt Adors hindurch und prallte mit einem Klirren gegen die Wand. Daraufhin verschwand die Illusion und Eryn tobte umso mehr: „Eine verfickte Illusion. Er ist nicht einmal richtig hier, sondern schickt nur ein lächerliches Trugbild. Verdammtes poxiges Arschloch. Die Dämonen der Hölle sollen dich fressen.“ Nachdem er seinem Ärger freien Lauf gelassen hatte, glitt er wieder in den apathischen Zustand hinüber, in dem er sich die meiste Zeit über befand.

Noch ein drittes Mal an diesem Tag bekam er Besuch. Er stand gerade vor dem Fenster und überlegte, wie lange es wohl noch hell sein würde, als er das Gefühl hatte, jemand stünde direkt hinter ihm. Eryn fuhr herum und da saß Meister Raiden im Schneidersitz auf dem Sandbett.

„Du bist also zu unfähig, um den Magieblocker zu entfernen, Nurin.“

Er lässt mich immer dumm aussehen. „Dann zeig es mir doch“, brauste Eryn auf.

Prinz Raiden ging auf diese Forderung gar nicht ein, sondern meinte lediglich:

„Aus dir wird nie ein brauchbarer Magier werden, Nurin. Es ist nur recht und billig, dass du dich selbst eingesperrt hast. Ein Fennrebell wie du gehört weggesperrt. Du bist eine Gefahr für dich und andere.“

Warum ist Prinz Raiden überhaupt hier? Spielt Ador seine Spielchen mit mir? Aber dann kam Eryn noch eine andere Erklärung. „Das hier ist nicht real.“ Es ist mein eigener Geist, der mir diesen üblen Streich spielt. Hier manifestieren sich meine Ängste und meine Wünsche. Halluzinationen eines verwirrten Hirns. Eryn sah weg und konzentrierte sich auf die Fische, die in dem Vorratsbecken schwammen. Als er wieder aufsah, war Prinz Raiden verschwunden und das Bett war wieder leer.

Das brachte ihm einen Moment der Erleichterung, denn seine Flucht war nicht vergebens gewesen. Natürlich bestand immer noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Ador ihn mit diesen Trugbildern heimsuchte, denn die Illusionen kamen immer wieder. Meist war es Ador, doch auch Meister Raiden und andere Personen, die er kannte, tauchten auf. Vor allem jene, zu denen er ein schwieriges Verhältnis gehabt hatte. Sir Haerkin befand sich darunter und auch Meister Tellenor und Meister Savyen, obwohl ihm dieser zur Flucht verholfen hatte. Einmal tauchte auch der Forscherdrache auf und verkündete, dass er das Forschungsobjekt Nummer eins fressen wolle, um den unterschiedlichen Geschmack der Forschungsobjekte zu katalogisieren.

Eryn gewöhnte sich schnell an diese Halluzinationen. Manchmal unterhielt er sich mit ihnen sogar ganz gerne, denn sie vermittelten ihm das Gefühl, nicht alleine zu sein.

So verstrichen die nächsten Tage und wenn er gerade keinen Besuch hatte, lag Eryn oft antriebslos auf dem Haufen Seegras und döste. Manchmal aß er etwas und hin und wieder unternahm er einen Versuch, die Fußfessel zu zerstören. Aber bisher hatte er nicht mehr zustande gebracht, als eine dünne Rille in die Oberfläche des Metalls zu kratzen. Etwas mehr Erfolg hatte er beim Anker in der Mauer. Dort war es ihm gelungen ein paar Gesteinssplitter herauszuschlagen. Allerdings nicht genug, um den tief sitzenden Anker freizubekommen. Doch selbst wenn er die Kette vom Felsen lösen könnte, dann verhinderte immer noch der metallene Magieblocker um seinen Knöchel, dass er seine Magie würde gebrauchen können. Doch ohne Magie war es so gut wie unmöglich, von diesem kargen Felsen zu entkommen. Die Kette selbst war lang genug, sodass er sogar problemlos den Raum verlassen konnte.

Um den Wind abzuhalten hatte Eryn nämlich einen schmalen Einlass in den Stein gegraben, der steil eineinhalb Schritte nach oben führte und dann in einem ovalen Durchlass nach draußen mündete. Dort gab es dann nur mehr einen kleinen Vorsprung, bevor der Fels kerzengerade in die Tiefe abfiel.

Manchmal stand Eryn dort am Abgrund und sah den Wellen zu, wie sie in der Ferne immer kleiner wurden, bis sich Wasser und Himmel in der verschwommenen Linie des Horizonts trafen.

Zunächst war ihm nichts wichtig gewesen und die Zeit trieb nur so dahin, doch mit zunehmender Klarheit wurde er sich auch wieder der Probleme seiner derzeitigen Situation bewusst.

Abgesehen mal von dem gierigen Verlangen nach Rauschkraut, welches er immer noch nicht kontrollieren konnte, würde ihm irgendwann auch die Nahrung ausgehen. Die Muscheln hatte er schon allesamt gegessen und nur, um noch etwas anderes als Fisch zu essen zu haben, kaute er auf dem Seegras herum und spuckte dann den faserigen Brei aus, wenn er ihn nicht gerade auf die Scheuerstelle am Fußgelenk aufbrachte.

Fischhaufen und Wasservorrat hatten sich bereits halbiert und wenn diese Vorräte zur Neige gingen, dann hatte er ein richtiges Problem. Doch noch hoffte er auf eine Eingebung, wie es ihm gelingen könnte, die Fessel zu lösen.

Meister Raiden hat immer behauptet, sich eines einzelnen Magieblockers zu entledigen, wäre einfach. Manchmal hatte er das sogar demonstriert, nur um Eryn zu verspotten. Aber der Herr des Schwarzen Turmes hatte seinen Schüler nie in dieses Geheimnis eingeweiht. Eine andere Möglichkeit war es, sich den Fuß abzuhacken. Dann könnte der eiserne Ring mit Leichtigkeit entfernt werden. Ein zerstörtes Glied konnte mit Magie wieder ersetzt werden, doch trotz dieses Wissens war Eryn zu solch einer drastischen Maßnahme noch nicht bereit. Somit blieben ihm lediglich die unmagischen Methoden und er kratzte mit dem zackigen Messer, benutzte die inzwischen abgebrochene Gabel wie einen Meißel und manchmal schlug er mit dem Stein auf das Eisen ein. Doch dabei hatte er sich bereits mehrfach verletzt und nun zierten weitere Abschürfungen und mehrere dunkle Blutergüsse sein Bein.

Etwa eine weitere Woche verging und langsam wurde Eryns Verlangen nach dem Rauschkraut geringer, die Illusionen kamen seltener, sein Geist wurde deutlich klarer und die lethargische Antriebslosigkeit nahm ab. Allesamt gute Zeichen. Doch seine Vorräte nahmen ebenfalls stetig ab und im Trinkwasserbecken war der Wasserspiegel bereits auf eine Handbreite abgesunken.