Die Bande vom Vorwald

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kleine Schlussbemerkung und Beginn eines neuen Abenteuers

Natürlich war der heutige Tag nicht der Glückstag des alten Forstmeisters Sägebrecht, aber sollte dieser freche Schnupftabak-Diebstahl wirklich ungesühnt bleiben oder ereilt den Dieb vielleicht doch noch seine gerechte Strafe?

So viel kann auf jeden Fall verraten werden. Der Schnupftabak des Forstmeisters Sägebrecht hat noch nicht seine letzte Rolle in den kommenden Geschehnissen gespielt.

In unserer Geschichte springen wir jetzt ein paar Monate in die Zukunft, nämlich vom Sommermonat August hinein in den Herbstmonat Oktober.

Sintflut im Oktober

Der goldene Oktober scheint dieses Jahr endgültig ausbleiben zu wollen. Es ist schon weit über die Monatsmitte hinaus und seit Ende September hat Brommelshausen und natürlich auch der Brommelshausener Stadtwald kaum mehr als einen oder zwei Sonnenstrahlen gesehen. Ein Schlechtwettertag folgt dem anderen. Am Schlechtwetterhimmel wandern dicke, graue Regenwolken in einem endlosen Gänsemarsch von Horizont zu Horizont und lassen ihr Wolkenwasser auf die Erde herunterprasseln.

Der ganze Wald tropft vor Nässe und ein kalter Ostwind bringt zu der Nässe noch eine ungemütliche, klamme Kälte mit sich, vor der auch das dichteste Dickicht in der Mitte des Waldes keinen richtigen Schutz mehr bieten kann. Die Blätter der meisten Laubbäume haben bereits ihr sattes Grün verloren. Aber anstatt in glühenden Herbstfarben zu leuchten, hängen sie braun, welk und vor Nässe tropfend an ihren Ästen. Jeder Windstoß genügt, um Tausende von ihnen abzureißen und in einem wirbelnden Tanz zu Boden flattern zu lassen. Kurz gesagt, es ist ein Sauwetter, bei dem man keinen Hund vor die Türe jagen möchte. Tiere und Menschen haben sich in ihren Häusern, Höhlen und Nestern verkrochen und verlassen ihre schützenden Unterkünfte nur zur Nahrungssuche oder weil sie sonst irgendwelchen Tätigkeiten nachgehen müssen, die sich nicht vermeiden lassen.

Das schlechte Wetter verdirbt sogar dem alten Forstmeister Sägebrecht die Lust auf Waldarbeiten und er steigt nur sehr ungern aus seinem grünen und jetzt auch sehr schmutzigen Geländewagen. Natürlich nicht, ohne sich vorher mit einer tüchtigen Prise seines guten Schnupftabaks aufzuheitern. Deshalb ist er heute richtig froh, als es endlich anfängt zu dämmern und sein Arbeitstag zu Ende geht. Er brummt noch so was wie „Scheißwetter“ und dann noch „Endlich Feierabend“ in sich hinein, steigt dann aber schnell in sein dreckstarrendes Fahrzeug und holpert mit abgeblendeten Scheinwerfern den schlammigen Waldweg entlang nach Hause. Die Vorfreude auf ein gutes Abendessen in der warmen Stube bei seiner Waldtraud und auf eine kräftige Prise Schnupftabak versetzt ihn dabei in so gute Laune, dass er während der Fahrt sogar fröhlich ein Lied vor sich hinpfeift.

Elsa Elster zieht aus

Natürlich ist auch der Schlafbaum der Vorwaldbande von dem schlechten Wetter nicht verschont geblieben. Der ehrwürdigen Linde ist das Wetter egal, obwohl auch ihre grüne Blätterpracht unter Wind und Regen ziemlich gelitten hat. Bei ihr herrscht Hochbetrieb und wie es aussieht, muss sie heute Nacht eine Rekordzahl an gefiederten, schwarzweißen Schlafgästen beherbergen. Wäre der ehrwürdigen Linde ihre Rolle als angesagte Jugendherberge bewusst, dann würde sie jetzt sagen: „Tut mir sehr leid, liebe Gäste, aber die besten Plätze sind ausgebucht. Für Nachzügler haben wir nur noch Plätze mit frei fließendem Wasser übrig.“

Elsa Elster erfährt gerade am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, wenn man mal wieder als Nachzügler eingeflogen ist und nur noch einen dieser Wind- und Regenplätze ergattern konnte.

„Täk, täk, das ist ein Wetter für Enten, aber nicht für Schwarzweiße, täk, täk“, murrt sie missmutig vor sich hin. Recht hat sie, denn auf dem zugigen Ast, der für sie noch übrig geblieben ist, fallen auch noch dicke Regentropfen durch das löchrige Laubdach auf sie herunter.

„Täk, täk, das ist wirklich so was von aaskrähig gemein“, schimpft Elsa und schielt neidisch auf die schützenden Höhlen, Nester und Astgabeln, die alle, bis auf den letzten Winkel, von jungen Schwarzweißen besetzt sind. Von denen denkt natürlich keiner auch nur im Traum daran, den eroberten trockenen Platz der armen, nassen Elsa zu überlassen oder auch nur mit ihr zu teilen. Sogar die eigenen Geschwister Edgar, Erich und Elfriede machen sich in ihren geschützten Nischen so breit, wie sie nur können, und zischen Elsa böse an, als sie es wagt, in ihre Richtung zu schauen.

„Tschäck, tschäck, keine Chance, Elschen!“, faucht Edgar. „Hier ist kein Platz mehr für dich und hör jetzt endlich auf, dauernd herzustarren! Wärst du beizeiten hier gewesen, hättest du jetzt auch einen besseren Schlafplatz. Täk, täk, aber wenn es dir hier nicht gemütlich genug ist, dann geh doch zu Mama und Papa und beklage dich bei ihnen, täk, täk.“

Sogar Elsas großer Bruder, der doch sonst immer so nett und hilfsbereit ist, scheint an diesem verregneten Abend nur an sich selbst denken zu wollen.

„Tschick, tschick, genau, geh doch zu Mami und Papi und lass dich bedauern, du armes, armes Elschen, tschick, tschick!“, fängt jetzt auch noch Erich an zu lästern. Erich schickert immer noch, was aber seiner Schadenfreude keinen Abbruch tut.

Auch Elfriede, die zusammen mit Erich gerade noch einen winzigen trockenen Platz am Stamm ergattert hat, amüsiert sich prächtig und kichert, als hätten ihre beiden Brüder einen besonders guten Witz gemacht.

Das ist zu viel für Elsa Elster. Es ist doch wirklich schon schlimm genug, einsam und frierend auf dem zugigsten Ast des ganzen Schlafbaumes sitzen zu müssen. Aber dass man für dieses Unglück auch noch von den eigenen Geschwistern verspottet, verhöhnt und schadenfroh angekichert wird, pfui Krähe, das ist mehr als gemein. Das zierliche Elstermädchen, das gerade noch aussah wie ein harmloser aufgeplusterter Federball, verwandelt sich mit einem Ruck in eine zornige, schmale Vogelgestalt. Mit weit aufgerissenem Schnabel keckert sie die Schwester böse an.

„Tschäck, tschäck, du krähendumme Graugans, hör sofort mit deinem blöden Gegackere auf oder ich pick dir die Schwanzfedern einzeln aus deinem fetten Hintern! Und ihr zwei Dummschnäbel solltet euch schämen!“, zischt sie giftig in Richtung ihrer Brüder, die beide auf einmal die Hälse einziehen und aussehen, als seien ihnen alle weiteren Spottreden darin stecken geblieben. „Täk, täk, anstatt mir zu helfen, fällt euch nichts anderes ein, als mich auszulachen! Mit euch Dummkrähen möchte ich sowieso nicht mehr in einem Baum wohnen und deshalb gehe ich zu …“ Abrupt beendet Elsa ihren zornigen Wortschwall.

Warum eigentlich nicht?, so schießt es ihr plötzlich durch den Kopf. Die zwei Dummschnäbel haben eigentlich recht. Ich fliege einfach zur Elsternburg. Dort in der Nestmulde ist es doch viel gemütlicher als hier auf diesem nassen, krähenblöden Baum bei meinen noch krähenblöderen Geschwistern.

Bei der Vorstellung, schon bald in die warme Nestmulde zu schlüpfen, wird Elsa auf einmal richtig guter Laune.

„Täk, täk, vielen Dank für euren guten Tipp, damit habt ihr mir wirklich sehr geholfen. Ich wünsche euch noch eine schöne nasse Nacht und passt auf, dass ihr euch nicht noch totlacht!“, gackert sie fröhlich, breitet die Flügel aus und schwingt sich mit kräftigen Schlägen hinauf in den dunkelgrauen Regenhimmel. Zurück bleiben drei verdutzte Geschwister, die der davonfliegenden Elsa mit großen Augen hinterherschauen.

„Tschäck, tschäck, Elschen, bleib beim Schwarm! Schwarzweiße dürfen nicht durch die schwarze Luft fliegen und bis zur Elsternburg ist es weit und gefährlich, tschääck, tschääck!“, ruft Edgar ihr nach und es klingt überhaupt nicht mehr spöttisch, sondern nur noch besorgt und ängstlich.

„Tschick, tschick, Elschen, komm zurück, die Nachtjäger werden dich fressen, tschick, tschick! Denk an die lautlose Strega, tschick, tschick!“, schickert jetzt auch Erich aufgeregt hinter ihr her.

Aber Elsa lässt sich nicht aufhalten. Im typischen Elstern-Flatterflug hat sie sich schon so weit entfernt, dass sie gar nicht mehr versteht, was die Brüder ihr hinterherschäckern. Außerdem ist sie immer noch viel zu beleidigt, um auf das Gezeter der beiden Dummschnäbel zu achten.

Nun ist es so, dass Edgar und Erich gar nicht so unrecht haben. Für eine einzelne Elster ist es wirklich nicht ratsam, nach Einbruch der Dämmerung alleine herumzustreifen. Viele Nachtjäger fliegen lautlos durch die schwarze Luft und eine nachtblinde Schwarzweiße wäre eine verlockende Beute. Gefährlicher als alle Nachtjäger zusammen ist jedoch die lautlose Strega, die in der dunklen Zeit im Wald herumgeistern soll und auf alles Jagd macht, was ihr vor die Fänge kommt. Die lautlose Strega ist keine Märchengestalt, mit der man kleine Vogelkinder erschrecken und von nächtlichen Ausflügen abhalten will, sondern eine riesige, unheimliche Uhufrau mit langen Federohren, einem mächtigen Krummschnabel und gewaltigen Dolchkrallen.

Auf samtenen Schwingen schwebt die Strega lautlos durch die Nacht und greift sich mit ihren scharfen Fangkrallen jeden unvorsichtigen Vogel, der noch nicht den Schutz seines Schlafbaumes aufgesucht hat. Das zappelnde Opfer wird dann zu ihrem Felsenhorst, irgendwo in den Steinbrüchen, geschleppt, wo schon die gierigen Uhukinder ungeduldig auf frisches Fleisch warten …

So, oder manchmal auch etwas anders, werden diese Geschichten immer wieder erzählt.

Gesehen wurde die Uhufrau allerdings schon lange nicht mehr und an ihre unheimlichen nächtlichen Buhu-Rufe können sich nur noch wenige Elstern erinnern. Für die jungen Schwarzweißen ist so eine riesige Eule sowieso nicht vorstellbar und außerdem – welche Eule, egal wie groß, würde es wagen, sich mit der wilden Vorwaldbande anzulegen?

 

Elsa verschwendet keinen Gedanken an die lautlose Strega oder an andere Schauergeschichten, sondern fliegt gut gelaunt durch die grauschwarze Dämmerung und ihr langer Elsternschwanz wippt bei jedem Flügelschlag fröhlich auf und ab. Prasselndes Wolkenwasser und böiger Wind durchnässen und zerzausen ihr Federkleid, aber Elsa achtet nicht darauf, denn sie ist voller Vorfreude auf die warme Nestmulde in der Elsternburg. Die Sicht ist krähenschlecht, aber Elsa fliegt so tief, dass das silberglitzernde Band des Krähenbaches immer sichtbar bleibt. Der Krähenbach wird ihr den Weg weisen.

„Kraab, kraab, was machst du junge Schwarzweiße hier noch um diese Zeit, siehst du denn nicht, dass es gleich dunkel wird? Schwarzweiße haben wohl keine Schlafbäume, kraab, kraab!“

Ein verspäteter Schwarzbefrackter kreuzt Elsas Flugweg und mustert kurz und mit deutlicher Verachtung das schwarzweiße Federkleid des Elsternmädchens, ohne dabei seinen Flug nur im Geringsten zu verlangsamen.

„Krab, krab, chaotisches, nichtsnutziges Elsternpack, krab, krab“, krächzt er noch in sich hinein und verschwindet dann mit schwerfälligen Flügelschlägen hinter dem dunkelgrauen Wolkenschleier.

„Tschäck, tschäck, selber blödes Krähenpack, tschäck, tschäck!“, keckert Elsa dem Schwarzbefrackten hinterher, denn sie ist empört über die grundlose Unfreundlichkeit der Krähe, aber so ist sie nun mal, die schwarzbefrackte Verwandtschaft.

Nach dieser kurzen Begegnung ist Elsa wieder allein und kämpft sich tapfer weiter durch die hereinbrechende Nacht, immer den Windungen des Krähenbaches folgend, ohne den sie sich bestimmt schon verflogen hätte.

Doch das dauernde Ankämpfen gegen Wind und Regen kostet viel Kraft und Elsa merkt, dass sie langsam müde wird. Der Flug scheint kein Ende nehmen zu wollen. Langsam beginnt die anfängliche Vorfreude auf ein warmes Plätzchen in der Elsternburg einem leichten Unbehagen zu weichen. Dazu kommen seltsamkomische Gedanken, die sich hartnäckig in ihrem Kopf breitmachen.

Wo bleibt denn nur die alte Kiefer? Vielleicht haben die grünen Waldmänner die arme Kiefer mit ihren großen, lärmenden Zähnen abgebissen und weggeschleppt, so wie sie es schon mit vielen Bäumen im Wald gemacht haben. Dann hätten ja die grünen Männer auch unsere Burg mitgenommen und wo finde ich sie dann bloß wieder?

Ihre rudernden Flügel treiben sie weiter nach vorne und dann, Elsa kann es kaum glauben, schälen sich endlich die Umrisse der mächtigen, allein stehenden Kiefer aus der dunkelgrauen Luft. Heilfroh und glücklich über diesen Anblick beschleunigt Elsa ihren Flug. Jetzt kann wirklich nichts mehr schiefgehen. Nur noch ein paar Flügelschläge, dann wird sie sich genüsslich in das weiche Moos der Nestmulde eingraben, und zwar bis zur Schnabelspitze.

Doch kurz vor dem ersehnten Ziel scheint das Schicksal sie für ihren Leichtsinn doch noch bestrafen zu wollen.

Ein großer geflügelter Schatten taucht urplötzlich aus der Wolkenmasse hervor und bewegt sich genau auf sie zu. Ein Nachtjäger. Für diesen Räuber ist eine hilflos flatternde Elster eine leichte Beute. Elsa hat keine Möglichkeit, zu fliehen oder sich zu verstecken, wohin sollte sie auch in dieser dunkelgrauen Leere?

Die weit ausgebreiteten Schwingen des Nachtjägers haben eine beängstigende Spannweite und beängstigend ist auch, mit welcher Sicherheit und geradezu gespenstischer Lautlosigkeit er sich durch die Luft bewegt.

Das alles scheint Elsa aber nicht sonderlich zu beeindrucken. Stur und mit mechanisch arbeitenden Schwingen strebt sie ihrem Ziel zu, so als wäre der Räuber gar nicht vorhanden.

Der Nachtjäger hat sie jetzt fast erreicht, aber anstatt sie zu krallen, dreht er in einem eleganten Bogen ab und verschwindet mit weinerlichen Huhu-Rufen im Regenhimmel. Er war so nah, dass Elsa deutlich den dicken Kopf mit den glühenden Augen erkennen konnte. Seltsamerweise bringt auch diese Fast-Attacke des Nachtjägers Elsa nicht aus der Fassung, im Gegenteil, wütend schäckert sie dem Räuber hinterher.

„Tschäck, tschäck, tschäck, pass bloß auf, du Oberdummkrähe, tschäck, tschäck, und lass dich ja nicht mehr blicken, tschäck, tschäck!“

Der Nachtjäger kehrt tatsächlich nicht mehr zurück und Elsa bleibt für den letzten Rest des Fluges unbehelligt. Dann hat sie endlich die Kiefer erreicht und plumpst glücklich auf den vertrauten Anflieger im unteren Stockwerk der Kiefer. Nirgendwo kann man besser landen als auf diesem kahlen Ast. Endlich kann sie ihr nasses Gefieder ausschütteln und sie tut es so ausgiebig, dass die Wassertropfen in alle Richtungen davonstieben.

„Täk, täk, ich bin so nass, als wäre ich in den Krähenbach gefallen, täk, täk.“

Als sie anschließend ihre zerzausten Schwungfedern glättend durch den Schnabel zieht, bemerkt sie plötzlich zwei grün leuchtende Lichter, die aus dem Dickicht der Kiefer zu ihr herüberstarren, nur wenige Flügellängen entfernt. Der Nachtjäger muss ihr heimlich gefolgt sein und lauert jetzt im Schutz der Kiefer auf seine Chance.

Elsa zeigt weiterhin nicht die kleinste Spur von Angst. Sie stellt lediglich ihre Körperpflege ein, aber nur, um die starrenden Lichter giftig anzuschäckern.

„Tschäck, tschäck, Strix Waldkauz, dich hat wohl ein ganzer Krähenschwarm gekratzt! Beinahe hättest du mich gerammt! Du Dumpfeule kannst dich schon mal auf Schwarmprügel und Eulenstupsen gefasst machen! Wir wissen, wo du dich bei Tag verkriechst!“

Elsa hat den Nachtjäger natürlich von Anfang an erkannt. Es ist wirklich ein Nachtjäger, aber dieser heißt Strix Waldkauz und ist bei der Vorwaldbande so bekannt wie eine bunt gescheckte Krähe.

Strix Waldkauz ist etwa so groß wie ein Schwarzbefrackter, allerdings wie ein sehr pummeliger. Auf seinem dicklichen, flaumigen Körper sitzt ein runder Eulenkopf mit riesigen, immer etwas verschreckt dreinschauenden Kulleraugen. Der Krummschnabel, mitten in dem kugelrunden Gesicht, sieht zwar gefährlich aus, aber der Waldkauz ist so harmlos und ängstlich, dass er von den Jungelstern nur Strix Angstkauz oder einfach nur Angstkauz genannt wird.

Elsas Drohungen zeigen sofort Wirkung. Der Besitzer der leuchtenden Kulleraugen zuckt erschrocken zusammen und fängt jämmerlich zu buhen an.

„Huhu, huhu, verschont mich, Elsa Elster, huhu! Ich wollte doch bloß sehen, welche leichtsinnige Schwarzweiße sich traut, zu dieser gefährlichen Zeit ganz allein durch die Gegend zu fliegen. Ich hätte da furchtbare Angst, huhu, huhu. Bitte, bitte, keine Schwarmprügel, huhu, huhu!“

Elsa geht der dicke Kauz krähenmäßig auf die Schwanzfedern. Sie fühlt sich nur noch müde und kalt und sie will endlich hinauf zur Elsternburg. Vielleicht sind Mama und Papa doch zu Hause und haben von ihrem Besuch einfach noch nichts mitbekommen. Der dicke Waldkauz soll sie doch einfach in Ruhe lassen und endlich verschwinden.

Unwirsch fährt sie ihn an: „Tschäck, tschäck, Strix Angstkauz – äh, Waldkauz, hau doch einfach ab! Wenn du dich sofort aus der Flugbahn machst, suchen wir uns beim nächsten Spiel eine andere Eule aus, täk, täk. Also, schwirr ab, bevor ich es mir noch anders überlege, tschäck, tschäck!“

Die Kulleraugen des Waldkauzes glühen auf wie zwei grüngelbe Kerzen und mit einem erleichterten Schrei schwingt er sich lautlos in die Höhe.

„Huhu, huhu, Elsa Elster, ich bin ja schon weg, aber es ist wirklich gefährlich, die Nacht allein zu verbringen. Ich ängstige mich ja schon selber zu Tode, huhu, huhu!“

Noch ein letztes Heulen und der ängstliche Waldkauz ist verschwunden. Elsa wartet noch ein paar Flügelschläge ab, denn sie will sicher sein, dass der Kauz sich auch wirklich aus dem Flugstaub gemacht hat, dann erst macht sie sich an den Aufstieg zur Burg. Sie muss den Fußweg nehmen, aber sie kennt ihn so gut wie ihre eigenen Schwanzfedern. Halb hüpfend und halb flatternd schwingt sie sich flink von Astsprosse zu Astsprosse, immer weiter nach oben, wo im Wipfel der Kiefer die Wärme der Nestmulde lockt. Im Inneren der Kiefer ist es schon stockdunkel und dazu herrscht noch eine unheimliche Stille. Elsa fühlt Unbehagen in sich hochsteigen.

Bei allen Krähen, wo sind eigentlich die ganzen Nachbarn geblieben?

Das Hochhaus der Kiefer ist wie ausgestorben. Dort, wo es den ganzen Sommer über laut und fröhlich zugegangen ist, herrscht jetzt Totenstille. Sogar in der sonst immer besonders lauten Spechtsiedlung rührt sich nichts.

„Täk, täk, ist hier jemand zu Hause, täk, täk? Herr Kleiber – Frau Kleiber, seid ihr da, täk, täk?“

Elsa keckert noch ein bisschen, aber nicht zu laut, denn falls Herr und Frau Kleiber da sind, sollen sie ja nicht den Eindruck gewinnen, dass Elsa vielleicht ein kleines bisschen Angst haben könnte. Doch nichts regt sich in der Spechtsiedlung. Die drei verlassenen Höhlen starren wie pechschwarze Augen auf das Elsternmädchen. Vielleicht hat Frau Kleiber ihren Gatten, also den Herrn Kleiber, dazu überredet, mit ihr zusammen auf Kur-Urlaub zu fliegen? So wie die Kleibers scheinen alle Bewohner ihre Nester und Höhlen verlassen zu haben. Vielleicht, um in der Tiefe des Waldes einen besseren Schutz zu finden, oder vielleicht sind die Nachbarn auch weggeflogen, um irgendwo anders die kalte Zeit zu verbringen? Elsa hat zwar davon gehört, dass viele Gefiederte wegfliegen, wenn es kalt wird, aber in Wirklichkeit weiß sie eigentlich gar nichts darüber.

Noch einmal ist kräftiges Flügelflattern angesagt. Der Schwung treibt Elsa das letzte Stück Weg nach oben und sie landet sicher in der Astgabel, einen guten Flatterhüpfer gegenüber dem Eingang der riesigen Elsternburg. Schwarz, einsam und unbewohnt hängt das Bauwerk in seiner Verankerung. Keine Spur von Mama und Papa. Elsa hat es eigentlich schon gewusst, aber ihre Enttäuschung ist trotzdem groß und sie fühlt sich auf einmal von allen und jedem alleingelassen. Warum hat sie denn nur den Schwarm verlassen? Die Wut auf ihre Geschwister ist völlig verraucht und Elsa wäre froh, wenn sie nur wieder bei Erich, Edgar und Elfi sein könnte. Sie würde sich auch gern mit dem unbequemsten Ast auf dem ganzen Schlafbaum begnügen.

Aber alle reumütigen Gedanken nützen Elsa nichts und zum Zurückfliegen ist es jetzt schon viel zu dunkel. Sie stößt sich von der Astgabel ab, schlägt einmal mit den Flügeln und landet auf der kleinen Plattform am Eingang der Röhre. Vorsichtig zwängt sie sich durch die enge Eingangsröhre und betritt dann die eigentliche Burg. Sie ist leer, aber wenigstens ist die ausgepolsterte Nestmulde noch vorhanden und trotz des Dauerregens sogar noch einigermaßen trocken geblieben. Seufzend vor Enttäuschung und Einsamkeit kuschelt sich Elsa tief in die mit Moos und Gras ausgelegte Mulde und versucht sich vorzustellen, dass draußen vor der Burg Mama und Papa und alle ihre Geschwister sitzen und auf sie aufpassen.

Unglücklich knabbert sie am Nestmaterial, an dem noch der heimelige, vertraute Geruch haftet. Auf einmal hat sie etwas Kühles, Glattes im Schnabel. Etwas, das sogar in der Dunkelheit noch schwach silberfarben glänzt. Gerührt stellt sie fest, dass dieses glänzende Teil bestimmt aus Papas Schatzsammlung stammen muss. Gedankenverloren kaut sie auf dem silbrigen Teil herum.

„Pfui Krähe, das ist ja widerlich!“

Elsa schüttelt sich vor Ekel und Schreck, denn die silbrige Folie ist an einer Stelle offen und aus dieser Öffnung haben sich ein paar seltsame Körnchen geschlichen und auf ihrer Zunge ein schmerzhaftes Feuer entfacht. Es sind nur ein paar Körnchen, aber die Wirkung reicht aus, um Elsa fast zu Tode zu erschrecken. Das entsetzte Elsternmädchen würgt, spuckt und hustet verzweifelt, bis auch der allerletzte Krümel aus Schnabel und Rachen entfernt ist.

„Pfui, pfui Krähe, Papa, was hast du da bloß für ein giftiges Zeug gesammelt, pfui, pfui Krähe!“

Sich immer noch schüttelnd, schiebt Elsa das so harmlos glänzende Päckchen mit dem Schnabel von sich weg und verkriecht sich wieder so tief, wie sie nur kann, in der Nestmulde. Das Brennen auf Zunge und Rachen hält sie noch eine Weile wach, doch die Erschöpfung ist größer als der Schmerz und die schöne Vorstellung, dass Mama, Papa, ihre Geschwister und die ganze Vorwaldbande vor der Burg sitzen, hilft Elsa, in einen unruhigen Schlaf zu sinken. Der vertraut plätschernde Krähenbach singt dazu sein tröstliches Schlaflied.

 

Das Rauschen des ewigen Regens trägt dagegen nichts mehr zu Elsas Schlummerlied bei, denn es ist etwas eingetreten, woran schon kein Waldbewohner mehr glauben wollte.

Es hat tatsächlich aufgehört zu regnen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?