Buch lesen: «Die Magie von Pax», Seite 4

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»Ihr müsst versprechen, dass ihr das jetzt nicht weitererzählt«, ich sah Bea, die sich unter ihre Decke gekuschelt und Mary, die wie immer ein Buch in den Händen hatte, ernst an. Dann erzählte ich ihnen alles; angefangen von meiner Schlaflosigkeit und dem Besuch des Dachs, dem Klappern der Leiter und meiner Angst. Auch von dem Flimmern vor meinen Augen berichtete ich, auch wenn ich befürchtete, dass sie mich jetzt für noch verrückter hielten als vorher. Als ich geendet hatte, legte sich Schweigen über uns. Bea war ganz weiß im Gesicht, aber das war nichts gegen Marys ungesund grünliche Farbe. Die ehemalige Schwarzkutte ließ ihr Buch sinken, sodass es mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel.

»Bei Armet«, stöhnte Bea irgendwann und brach damit das Schweigen.

»Was soll ich denn jetzt machen?!«, ich hob die Hände. »Keine Ahnung, was da passiert ist. Ehrlich – die kamen plötzlich auf mich zu. Ich hab es euch ja erzählt.«

Mary knabberte an ihrer Unterlippe, dann sah sie mich stirnrunzelnd an.

»Für das hier gibt es eigentlich nur zwei mögliche Erklärungen«, sagte sie langsam.

Bea und ich sahen sie abwartend an und ich bekam das Gefühl, dass Mary viel klüger war, als sie zugab.

»Erstens: Die Götter haben dich, warum auch immer, beschützt. Da Armet für so etwas zu schwach ist, müssen es Hylos oder Lucis gewesen sein. Aber warum sollte Hylos, der Gott der Schwarzkutten, so etwas tun? Jemanden gegen seinen eigenen Stamm beschützen? Bleibt also nur Lucis. Auch da stellt sich die Frage, weshalb sie dich beschützen sollte, wo du doch zu keinem von ihnen zu gehören scheinst«, sagte Mary ernst.

Ich schaute Bea verblüfft an und konnte nicht anders, als Mary für ihre schnellen Erkenntnisse zu bewundern. Bea anscheinend auch, denn sie schaute mich fassungslos an.

»Womit wir bei der zweiten Erklärung wären«, fuhr Mary fort. »Da Magie dich beschützt und die Schwarzkutten vertrieben hat, liegt es nahe, dass die Magie auch von dir ausgegangen ist. Die Dinge, die du uns beschrieben hast, waren Regen, Sturm, ein rotes Flimmern – ich nehme mal an, es handelte sich um Feuer – und ein Erdbeben, das wir alle gespürt haben. Auch wenn ich die Umstände nicht verstehe, Sofia: Das ist die Magie einer Blaukutte.«

Ich schaute sie fassungslos an und konnte dann ein hysterisches Lachen nicht unterdrücken. »Nein, Mary. Das ist unsinnig. Niemand bekommt die Magie erst so spät. Und außerdem, das was da aufeinandergestoßen ist, waren alle vier Elemente. Keine Blaukutte beherrscht alle vier, das können nur die Götter.«

Mary zuckte mit den Schultern. »Schon, aber wir können nichts ausschließen, Sofia. Außerdem – denk an dein Fieber und die Kopfschmerzen. Bei dir war es heftiger als bei allen Kutten, die ich kenne, aber das sind die Vorboten von Magie. Jede sechsjährige Kutte kann dir das bestätigen. Am klügsten wäre es, sich Yu Weiß anzuvertrauen. Er weiß sicher, was du machen kannst.«

Schon bevor sie geendet hatte, schüttelte ich wild den Kopf. »Niemals. Ich will nicht, dass er mich für geisteskrank hält. Das Erdbeben, okay, das haben alle mitbekommen. Aber Schwarzkutten auf dem Dach? Außerdem müsste ich erklären, weshalb ich auf dem Dach war – und wieso ich überhaupt weiß, wie man dort hinauf kommt. Und er müsste mir glauben, dass ich einen Fall über zwanzig Meter ohne einen Kratzer überstanden habe«, ich tickte mir an die Stirn. »Ich bin schneller als verrückt abgestempelt, bevor ich auch nur die ganze Geschichte erzählt habe.«

Bea gab mir Recht. »Das glaubt niemand, Mary. Selbst Yu Weiß nicht.«

Wir saßen ein paar Minuten ratlos da, dann ergriff Mary wieder das Wort.

»Leute, vielleicht sind wir einfach ein bisschen überdreht. Wir hatten wenig Schlaf. Wir sollten erst einmal schlafen, morgen sieht die Welt ganz anders aus.«

Ich wusste zwar nicht, ob ich ihr da Recht gab, aber so kamen wir auf jeden Fall nicht weiter, also löschten wir das Licht und eine tiefe Dunkelheit senkte sich über unser Zimmer.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte und an die weiße Decke starrte, (na ja, sie hatte ein paar Farbspritzer bekommen, als Bea und ich in der siebten Klasse meinten, eine Leinwand bemalen zu müssen) kamen mir die Erlebnisse von gestern wie ein Traum vor. Ehrlich gesagt konnte ich gar nicht mehr genau sagen, ob da überhaupt ein Flimmern in der Luft gewesen war. Und der Regen? Meine Augen hatten irgendwie verrückt gespielt. Ich seufzte tief und drehte mich zur Seite, sodass ich Bea sehen konnte. Sie saß auf ihrem Bett und zog sich ihre Robe über.

Bea lächelte mir leicht zu, aber ich wusste, wie verwirrt sie von den ganzen Dingen war, die gestern passiert waren. (Ich war es aber noch viel mehr, schließlich waren sie mir passiert.) Mary war anscheinend schon im Bad, denn ich hörte Wasser rauschen und einen echt schrecklichen Gesang, der dem meinem sehr nahe kam. Bea und ich schauten uns an – dann prusteten wir los. Wir wurden aber schnell wieder ernst.

»Was da gestern passiert ist – das, was du erzählt hast – das ist gruselig, Sofia. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Was auch immer da passiert ist, die Götter haben so oder so ihre Finger im Spiel. Und genau das beunruhigt mich«, sagte Bea. Ich nickte, sie sprach genau meine Gedanken aus.

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was da geschehen ist.« Und ich wollte mich auch nicht daran erinnern. Ich lächelte Bea (wie ich hoffte aufmunternd) zu. »Lass uns erst einmal frühstücken. Vielleicht habe ich mir den Großteil auch eingebildet.« (Ehrlich gesagt hoffte ich es. Denn die Möglichkeiten, die Mary in Betracht zog, waren weit gefährlicher als ein gestörter Geisteszustand.)

Beim Training war ich nicht bei der Sache, was auch Merl schnell merkte. Als ich in einer Minute das fünfte Mal auf der Matte lag und mir den schmerzenden Kopf rieb, sah Merl stirnrunzelnd auf mich herunter. » Komm schon, Sofia! Streng dich ein bisschen an.«

»Was glaubst du, was ich mache?«, fragte ich hitzig und rappelte mich wieder auf. Wir nahmen wieder unsere Ausgangsstellung ein, und ich versuchte ihn in die rechte Seite zu treten, doch er wich mühelos aus, wirbelte einmal um mich herum und stieß mich von hinten auf den Boden.

Kaum hatte ich mich wieder aufgerichtet, trat er mir die Beine weg. »Schlecht drauf heute, wie?«, stichelte er.

Der Gestank der Matten war unerträglich. Ich stand wieder auf und warf Yu Weiß einen Blick zu, der gedankenverloren unter der Wand mit den Waffen saß. Vielleicht sollte ihm doch erzählen, was passiert war …

»Abgelenkt zu sein in einem Kampf ist wirklich das Schlechteste, was man machen kann«, sagte Merl und warf mich schon wieder zu Boden. Wütend funkelte ich ihn an. »Du machst das auch nur, weil es dir Spaß macht, oder?«, fauchte ich. »Vergiss es, okay? Du bringst mir nichts bei – du demütigst mich und stellst deine Stärken zur Schau. Mal ganz abgesehen davon, dass ich sowieso keine Ahnung habe, wer du bist, geschweige denn davon, warum ich diesen ganzen Scheiß überhaupt lernen muss!« »

Yu Weiß hob beschwichtigend die Hände, aber ich drehte mich einfach um und rannte aus dem Raum.

Auf dem Weg zu unserem Zimmer verrauchte mein Zorn, und ich kam mir ziemlich kindisch vor. Es lag eigentlich auch nur an meiner Anspannung, dass ich so überreagiert hatte. Ich konnte einfach nicht mit dem, was gestern Nacht passiert war, umgehen.

Die Flure waren verlassen, als ich mich auf den Weg zu unserem Zimmer machte (natürlich, die anderen hatten ja entweder Unterricht oder waren mit ihren Mentoren irgendwo im Haus verstreut). Ich rauschte gerade wütend (jetzt allerdings nicht mehr auf Merl, eher auf mich selbst) an der Mädchentoilette vorbei, als ich jemanden weinen hörte. Ich würde diese Stimme immer und überall erkennen, deshalb blieb ich stehen und spähte vorsichtig in die Toilette.

Isabell hing über dem Waschbecken und versuchte vergeblich, sich die verschmierte Schminke aus ihrem Gesicht zu wischen. Dabei wurde sie von immer mehr Schluchzern geschüttelt. Ich konnte es nicht mit ansehen, dennoch blieb ich wie erstarrt stehen. Ich hasste Isabell, ich hasste sie aus tiefstem Herzen, aber dennoch kostete ich diesen Moment nicht aus. Ich fragte mich wirklich, was Isabell so erschüttern konnte. Sie war, soweit ich es beurteilen konnte, ein sehr starkes, selbstbewusstes (und bescheuertes, idiotisches und egoistisches) Mädchen, das nichts so leicht aus der Bahn werfen konnte. Ich hörte Isabell schniefen und wurde mir bewusst, was ich da eigentlich tat. Ich würde auch nicht wollen, dass Isabell mich in einem Moment wie diesem beobachtete. So leise ich konnte huschte ich den Gang weiter in Richtung Wendeltreppe.

Im Zimmer legte ich mich ins Bett und versuchte zu schlafen, denn obwohl ich gestern nach dem ganzen Chaos hatte einschlafen können, war ich immer noch von einer bleiernen Müdigkeit besessen. Das Problem war nur, dass es nicht so ganz einfach war, mit tausenden schwirrenden Gedanken im Kopf einzuschlafen. (Das waren jetzt nicht nur das ganze Wirrwarr von gestern Abend, Beas Verletzung im Wald und Marys Auftauchen, sondern auch noch mein Ausbruch bei Merl und wie Yu Weiß darauf reagieren würde und Isabell, wie sie heulend auf der Mädchentoilette hockte – ehrlich gesagt ziemlich viel, worüber ich nachdenken musste, dafür, dass ich eigentlich einschlafen wollte). Letztendlich stand ich beim Klingeln auf (ohne auch nur die Augen zugetan zu haben) und lief als erste in die Mensa, sodass ich Bea und Mary einen Platz freihalten konnte.

Yu Weiß starrte mich die ganze Zeit vom Lehrertisch an, aber ich schaute nicht lange genug auf, um seinen Blick zu deuten. Dass Merl mich wütend anblitzte, bemerkte ich trotzdem. Zu meinem Erstaunen legte Mary das Buch, das sie gerade las, weg, als sie mit ihrem Tablett zu uns auf die Bank gerutscht kam.

»Ich habe noch mal über diese ganze Geschichte nachgedacht«, sagte sie so leise, dass nur Bea und ich es hören konnten. »Und ich denke, dass du noch mal dahin gehen solltest, wo diese ganze Magie sich entladen hat. Es kann ja auch sein, dass dort noch Spuren sind, die darauf schließen lassen, was passiert ist.«

Das war eine brillante Idee! Wenn die Götter ihre Magie in unserer Welt einsetzten, hinterließen sie immer so etwas wie goldenen Regen, der sich um den Ort rankte, wo die Magie aufgetreten war. Aber ich hatte Angst davor, nichts zu finden, was entweder hieß, dass Marys zweite Theorie stimmte, (was ich einfach nicht glauben konnte, weil es so unsinnig klang) oder dass ich verrückt war (was auch keine gute Alternative dazu war).

Bea nickte. »Sofia«, sagte sie zögerlich auf meinen erschreckten Blick hin, »ich glaube, Mary hat Recht. Du solltest nachschauen, ob Goldregen auf dem Dach ist – ob die Götter wirklich da waren.«

Ich stöhnte frustriert auf. »Kann nicht einer von euch hochgehen? Ernsthaft – ich glaube nicht, dass ich mich das traue.«

Mary schüttelte den Kopf. »Das ist deine Entscheidung, weil auch du es warst, der die Magie erschienen ist. Entweder du gehst und findest heraus, was passiert ist, oder du lässt es bleiben.«

»Jetzt muss ich mich sowieso erst mal bei Merl entschuldigen«, murmelte ich, um diese ganze Magie-Götter-Dach-Sache so weit wie möglich nach hinten zu schieben.

Als ich in den Trainingsraum kam, waren Yu Weiß und Merl schon da.

Letzterer schaute mich verärgert an und ich wich seinem Blick aus. »Wir können deinen Ausbruch nachvollziehen, Sofia«, sagte Yu Weiß verständnisvoll und ich kam zu dem Schluss, dass er mit »Wir« sich selbst meinte, weil Merl mich so wütend anstarrte, als wollte er mich mit seiner Willenskraft im Boden versenken.

»Du hast noch keine Erfahrung mit diesen Dingen, und deshalb wollen wir dir das langsamer beibringen. Merl wird dir die einzelnen Schritte langsam zeigen, bevor ihr wirklich gegeneinander kämpft«, sagte Yu Weiß und ließ sich wieder unter der Wand mit den ganzen Waffen nieder.

Tatsächlich zeigte Merl mir erst die ganzen Schritte, bevor er sie mich ausprobieren ließ. Allerdings warf er mich beim »Vorführen« teilweise so hart auf die Matte, dass mir die gesamte Luft aus den Lungen gepresst wurde (was dazu führte, dass ich am Ende der Stunde hechelte wie ein Hund).

»Es wäre einfach nett gewesen, wenn du es freundlicher gesagt hättest«, sagte er und lächelte mich fast freundlich an, nachdem er mich mal wieder auf den Boden geworfen hatte. »Frieden?«, er streckte mir die Hand entgegen.

Erleichtert griff ich nach seiner Hand und ließ mir hoch helfen. »Frieden!«

Die Trainingseinheit hatte mir geholfen, über meine ganzen Probleme hinweg zu sehen, aber als es klingelte, stürmte alles wieder auf mich ein. Und ich hatte Schuldgefühle, weil ich Yu Weiß nichts davon berichtete. Wenn (wenn!) ich nicht verrückt war, dann waren gestern Schwarzkutten in der Schule gewesen, was auf jeden Fall ein Grund zur Sorge wäre. Aber ich hatte keine Beweise – und selbst ich glaubte nicht mehr wirklich an das, was geschehen war. Ich seufzte und beschloss, systematisch an die Sache heran zu gehen. Mary hatte Recht, ich musste auf das Dach zurück.

Kapitel 4

Ich ging alleine aufs Dach, aber Bea und Mary bestanden darauf, im Physikraum zu warten, wegen des Angriffs der Schwarzkutten. Nach dem Abendessen schlichen wir uns zu den Physik- und Chemieräumen, aber noch nie war ich deswegen so aufgeregt gewesen wie jetzt. Ich zitterte, als ich auf das Lehrerpult kletterte und die Falltür öffnete.

»Viel Glück«, wisperte Bea, die sich mit Mary auf die Fensterbank gesetzt hatte. »Danke«, formte ich lautlos mit den Lippen, dann stieg ich die Stufen langsam nach oben. Das Erste, was ich bemerkte, als ich das Dach betrat, war die frische Luft. Sie strich sanft über mein Gesicht und ich atmete erleichtert ein. In den Physikräumen stank es immer nach Schwefel, Pilzsäuren und Kräutermischungen, sodass die Luft hier oben einfach erfrischend war.

Auf den ersten Blick sah das Dach aus, als hätte hier nie eine Art Kampf stattgefunden. Aber als ich mir den Boden näher ansah, erkannte ich, dass am Rand des Daches, genau dort, wo die Schwarzkutten und ich gestanden hatten, keine Pflanzen mehr wuchsen. Statt den kleinen, weißen Blumen und dem Moos, die auf dem Dach verteilt waren, konnte man hier nur das nackte, dunkle Dach sehen.

Ich seufzte tief und hatte das Gefühl, nie aus dem schlau zu werden, was gestern Abend passiert war. Aber was ich ganz sicher erkennen konnte war, dass hier nichts Goldenes war. Keine goldenen Tropfen auf dem Boden; noch nicht einmal unten im Hof oder im Himmel (ich vergewisserte mich mehrere Male, dass ich auch nichts übersehen hatte). Nachdem ich wirklich alles abgesucht hatte, musste ich mir eingestehen, dass die Götter die Magie anscheinend wirklich nicht verursacht hatten. (Und ehrlich gesagt kam ich immer mehr zu dem Schluss, dass ich verrückt sein musste.)

Resigniert stieg ich die Treppe wieder nach unten zu den Physikräumen. Auf Beas und Marys stumme Fragen hin schüttelte ich nur den Kopf.

»Dort, wo ich stand, ist kein Moos mehr«, erzählte ich flüsternd, während wir zurück in unser Zimmer huschten. »Aber nichts Goldenes.«

Ich weiß nicht genau, wie ich es schaffte, aber ich blendete das alles die nächsten Tage aus (mit »das alles« meine ich in diesem Fall die merkwürdige Nacht mit den Erdbeben, die Schwarzkutten und Isabells Geheule in der Mädchentoilette).

Dass ich Merl angefaucht hatte, hatte einen Vorteil – ich begann allmählich wirklich Kampfsport zu lernen. Allerdings auf die harte Tour, Merl ging nicht gerade zimperlich mit mir um. Immer, wenn ich hart auf der Matte landete, warf Yu Weiß mir einen mitleidigen Blick zu, sagte aber nichts. Merl erklärte mir vieles, erkundigte sich immer wieder, ob ich alles verstanden hatte und wurde nicht müde, mir komplizierte Bewegungsabläufe auch zehnmal zu erklären. Ich wünschte mir die Tage herbei, an denen wir nur Theorie geübt hatten. Merl und ich kämpften mit Schwertern und Dolchen, oder auch ganz ohne Waffen. In manchen Stunden musste ich wieder mit Pfeil und Bogen schießen, in anderen liefen wir die ganze Zeit durch den großen Raum und machten Krafttraining.

Bea und Mary hatten sicher entspanntere Stunden, allerdings bekamen sie umso mehr langweilige Hausaufgaben auf. Wir hatten bis zum Wochenende praktisch keine Zeit, uns mit etwas anderem als der Schule zu beschäftigen. Mir war das ganz recht – ich wusste immer noch nicht, was ich von dieser ganzen Sache halten sollte. Und dass die Götter auf jeden Fall nicht die Magie herbeigerufen hatten, machte mir auch zu schaffen.

Am Samstagmorgen machte Mary allerdings meine Hoffnungen darauf, dass sie den Vorfall vergessen hätte, zunichte, indem sie mich am frühen Morgen (soll ich noch mal betonen, dass Samstag war?!) wachrüttelte. »Sofia, wir müssen was unternehmen«, rief sie mir ins Ohr und weckte Bea.

»Wieso jetzt?«, grummelte ich und drehte mich auf die andere Seite. »Also wirklich, Mary. Es ist noch nicht einmal sieben Uhr! Wir können auch nach dem Mittagessen etwas unternehmen.«

Bea schien das genauso zu sehen wie ich, sie öffnete ein Auge, sodass sie auf ihren Wecker schauen konnte und stellte sich danach tot.

»Leute, wann können wir das sonst prüfen? Sofia, wir wollen doch herausfinden, wer oder was die Magie hat erscheinen lassen. Und wenn du es warst, können wir es noch mal versuchen. Aber dafür brauchen wir Ruhe – und die haben wir unter der Woche nicht.«

Mit einem Schlag waren Bea und ich hellwach. »Du glaubst also ernsthaft, dass die Magie von mir kam?«, ich musste fast lachen, so absurd klang das. »Mary, soll ich dich noch einmal darauf hinweisen, dass niemand alle vier Elemente beherrschen kann? Die Götter jetzt mal ausgenommen?«

»Ja, aber die Götter waren es ja nun mal nicht«, sagte Mary gereizt. »Ich ziehe doch nur alle Möglichkeiten in Betracht, die es gibt!«

»Mary hat Recht«, murmelte Bea und rollte sich aus dem Bett. »Heute haben wir genügend Zeit, es auszuprobieren.«

»Wisst ihr überhaupt, was ihr da machen sollt? Mit Magie habe ich nun wirklich keine Erfahrungen«, sagte ich und spielte auf meine Magielosigkeit an, nur um noch einmal zu betonen, dass die Magie nicht von mir kommen konnte.

Mary verdrehte die Augen. »Du vielleicht nicht, Sofia, aber Bea und ich können Magie seit Jahren kontrollieren. Auch wenn sie verschieden ist, es ist immer noch Magie.«

»Und was beherrschst du jetzt genau für eine Magie?«, wollte ich wissen. Mary hatte mir auf diese Frage noch nie eine richtige Antwort gegeben, und auch heute sagte sie nur: »Nekromantie. Sofia, zieh dich um, dann legen wir los. Dieser rosa Pferde-Schlafanzug ist ja wirklich ganz süß, aber für das, was wir vorhaben, gänzlich ungeeignet.« Verlegen krabbelte ich zu meinem Schrank und fischte ein paar rote Kleidungsstücke heraus.

Mary schloss unser Zimmer ab, vergewisserte sich, dass Isabells Mentor vor der Tür selig schlief und zog dann die Vorhänge zu. Im Zimmer war es jetzt so dunkel, dass ich Mary und Bea, die auf meinem Bett saßen, nur schemenhaft erkennen konnte. Ich stand ein bisschen verloren in der Mitte des Raumes (und kam mir ziemlich albern vor).

»Okay«, sagte Mary. »Sofia, du musst jetzt versuchen, alles loszulassen. Hm … das ist schwierig zu erklären. Entspann dich einfach, und versuch, Magie heraufzubeschwören.« Ich war kurz davor, albern loszukichern. Sie konnte ja nicht wissen, wie oft ich das schon versucht hatte – heimlich in meinem Zimmer, vor Ärzten, vor Lehrern, vor meinen Eltern, mit Isabell, mit Bea …

Trotzdem seufzte ich nur und versuchte mich zu entspannen, was allerdings nicht wirklich funktionierte. Ich streckte die Hände aus und redete mir ein, dass da jetzt gleich irgendwie Magie rauskommen würde (ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich nicht wirklich daran glaubte).

Als sie Sonne aufgegangen war, gaben wir es auf und Mary zog die Vorhänge wieder auf, sodass Tageslicht in den Raum strömte.

»Ich hab’s doch gesagt«, brummelte ich und warf mich auf mein Bett. »In mir ist kein Funken Magie.«

»Das kann sein«, stellte Mary fest, während sie die Tür wieder aufschloss.

»Es kann aber auch sein, dass du die Magie einfach nicht kontrollieren kannst. Oder denkst du, Sechsjährige können sagen: Jetzt lass ich mal diesen Gegenstand fliegen? «

»Am Anfang kommt die Magie, wann sie will«, stimmte Bea ihr zu.

»Toll«, sagte ich gedehnt. »Aber wenn es euch aufgefallen ist – ich bin nicht sechs! Und ich habe keine Magie. Also können wir uns bitte auf etwas konzentrieren, dass mehr Sinn ergibt?« Ich hatte keine Lust mehr, die ganze Zeit über meine Ich-Habe-Keine-Magie Geschichte diskutieren zu müssen, wo ich das Ganze doch am liebsten ausblenden wollte. Die beiden machten mir mit ihrem Gerede sinnlose Hoffnungen, die doch nur wieder zerstört werden würden.

»Gut«, sagte Mary ruhig. »Aber lass mich noch eine Sache ausprobieren.«

Nach dem Frühstück schickten Mary und Bea mich aufs Zimmer, während sie noch Crossiants aßen. Die Erinnerung an die Begegnung mit den Schwarzkutten wurde immer verschwommener, und ich bekam wirklich Zweifel wegen meiner Auffassungsgabe. Ich wollte gerade ins Bad gehen, als ich ein leises Kratzen hinter der Tür hörte. Erstarrt blieb ich stehen und sah, wie jemand die Klinke langsam herunterdrückte. Wie festgefroren blieb ich stehen, die Hand nach der Badezimmertürklinke ausgestreckt. Langsam öffnete sich die Tür und jemand schob sich in den Raum – eine Schwarzkutte! Ich reagierte panisch (was wohl nur nachvollziehbar ist, wenn man sich an das Ereignis auf dem Dach erinnerte).

Ich wich bis an die Wand zurück, dann schrie ich los und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich, wie unsere Bettdecken brannten. Durch einen Windstoß (im Zimmer?!) wurde die Schwarzkutte ins Badezimmer geworfen. Die Tür des Badezimmers knallte laut zu, dann hörte ich, wie sich Dusche und Waschbecken selbstständig machten und Wasser sprühten.

Entgeistert ließ ich mich auf dem Boden nieder. Meine Gedanken wirbelten herum und ich wusste, dass ich Yu Weiß auf jeden Fall von den Schwarzkutten berichten musste. Aber erst mal sollte ich irgendjemanden holen. Mein Herz pochte wie wild und ich brauchte einige Zeit, bis ich mit zittrigen Beinen aufstehen konnte.

Ich war gerade auf dem Weg zur Tür, als Bea vorsichtig den Raum betrat, einen Blick auf die rauchende Bettwäsche warf und erschreckt aufkeuchte.

»Eine Schwarzkutte – hier im Zimmer!«, ich rüttelte sie an der Schulter, während ich losstammelte. »Plötzlich kam sie hier rein … und ich – ich hab gar nichts gemacht, aber dann sind die Bettdecken irgendwie in Flammen …«

»Sofia, das ist Mary. Sie hat ihre Schwarzkuttenrobe angezogen, um deine Magie zu prüfen«, unterbrach Bea mich zerknirscht. »Das war eine bescheuerte Idee – sorry. Aber jetzt müssen wir erst einmal Mary retten.«

»Bei den Göttern«, stöhnte ich halb erleichtert, halb wütend und wäre zusammengesackt, wenn Bea mich nicht gestützt hätte. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade einen Marathonlauf hinter mir.

Bea öffnete die Tür zum Badezimmer, während ich nur auf dem Boden hockte und verzweifelt versuchte, nicht ohnmächtig zu werden. Dennoch riskierte ich einen Blick ins Bad – und bereute es. Mary saß auf dem Boden, ihre Haarspitzen waren angekokelt und ihr Arm stand in einem merkwürdigen Winkel ab – wahrscheinlich war sie ungünstig mit ihm aufgekommen, als der Wind (oder was auch immer) sie ins Badezimmer befördert hatte. Außerdem war sie klatschnass und zitterte. Wasser aus der Dusche und vom Waschbecken spritzte immer noch auf sie ein, und ich schüttelte wild den Kopf.

»Stopp, stopp«, murmelte ich, aber nichts passierte. Bea zog Mary aus dem Badezimmer und schloss die Tür hinter ihnen.

Ich blendete das Flimmern vor meinen Augen aus und sah Mary verängstigt an. »Sorry, Mary«, flüsterte ich.

Doch diese schüttelte nur den Kopf. »Jetzt wissen wir es«, sagte sie nur und zuckte schmerzhaft zusammen, als Bea ihren Arm berührte.

»Wo ist Isabells Mentor – dein Aufpasser?«, fragte ich sofort.

»Ich hab ihn abgelenkt und so getan, als würde ich in die Klassenzimmer rennen«, sagte Bea leise. Jetzt, wo Mary außer Lebensgefahr war, funkelte ich sie wütend an. »Seid ihr eigentlich noch ganz klar im Kopf?«, wollte ich fauchen, aber da ich so erschöpft war, klang es eher wie eine freundlich gestellte Frage.

Bea sagte nur: »Ja, danke der Nachfrage, aber darüber müssen wir später noch mal reden«, dann verfrachtete sie Mary nach draußen. »Was wollt ihr denn der Krankenschwester …?«, begann ich, doch Mary unterbrach mich. »Wir denken uns schon was aus. Unfall«, sagte sie.

»Ja klar, unter der Dusche …«, begann ich, doch die beiden waren schon verschwunden.

Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett sinken und schloss die Augen. Ich konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Ich hatte Mary für eine Schwarzkutte (na ja, das war sie ja auch – für eine böse Schwarzkutte) gehalten und schon wieder hatte plötzlich alles verrückt gespielt. Und dieses Mal waren Mary und Bea dabei gewesen – ich war also nicht geisteskrank. Die Götter waren auch ausgeschlossen, da im Zimmer nichts Goldenes zu finden war (außer Beas Lieblingskessel, den sie für mehr als hundert Silbermünzen gekauft hatte).

Aber die Möglichkeit, die dann noch blieb, verursachte mir starke Kopfschmerzen. Konnte es wirklich sein, dass ich die Magie heraufbeschworen hatte? Okay, ich war ein totaler Freak. Jetzt war es amtlich. Entweder besaß ich keinen Funken Magie – oder so viel, wie niemand zuvor jemals besessen hatte, so viel, wie eigentlich unmöglich sein sollte. Ich hatte das Gefühl, gerade erst die Augen geschlossen zu haben, als Bea ins Zimmer kam, gefolgt von Mary, die ihren Arm in einer Schlinge trug und irgendein Schmerzmittel bekommen zu haben schien, (ich tippte mal auf Randerkraut, nur das hatte so eine starke Wirkung) denn sie grinste mich breit an.

»So – wenn auch mit einigen Verlusten«, sie deutete mit ihrer freien Hand auf den Arm in der Schlinge, »wissen wir jetzt, wer diese Magie verursacht hat – Du.«

Bea und sie starrten mich in einer Mischung aus Faszination und Verwirrung an, aber ich hob nur die Schultern. »Leute, ich habe keine Ahnung, was da passiert ist!«, sagte ich und hatte das Gefühl, mich zu wiederholen.

»Aber ich«, sagte Mary zufrieden. »Du kannst die Magie nicht kontrollieren – noch nicht. Aber sie hilft dir, wenn du angegriffen wirst – oder dich in Gefahr fühlst. Das heißt, dass sie da ist.«

»Ihr seid echt krank«, empörte ich mich und wollte gerade losschimpfen, doch Bea unterbrach mich: »Komm schon, Sofia. Es hat doch alles so geklappt, wie wir es wollten – abgesehen jetzt mal von Marys Arm. Wir wissen, dass du diese Magie ausgeübt hast. Allerdings erklärt das vieles nicht – Du bist anscheinend eine Blaukutte. Aber irgendwie auch nicht wirklich, weil du alle vier Elemente beherrschst. Und das ist eindeutig nicht normal.« (Na, das sollte ja nichts Neues für mich sein!) Von den ganzen Problemen schwirrte mir der Kopf, und außerdem war ich immer noch so fertig, dass ich es noch nicht einmal schaffte, aufzustehen.

»Und was mache ich jetzt?«, fragte ich und klang ziemlich verzweifelt. Eine Ironie des Schicksals übrigens (immerhin hat das Schicksal noch Humor), weil ich mir ja immer gewünscht hatte, Magie zu beherrschen. Aber so, wie es jetzt war, wollte ich es irgendwie auch nicht.

»Du musst es Yu Weiß sagen«, meinte Mary, aber ich schüttelte wie wild den Kopf.

»Sofia«, fuhr Bea mich an, »das ist gefährlich, wenn du die Magie in dieser Intensität und Vielfalt nicht beherrschst. Wenn junge Rotkutten mal aus Versehen ein Glas gegen das Fenster fliegen lassen, ist das nicht so schlimm. Aber du kannst zerstören und töten mit deiner Magie. Ehrlich gesagt will ich gar nicht wissen, was mit den Schwarzkutten passiert ist, die versucht haben, dich anzugreifen.«

Ich nickte, eingeschüchtert von Beas Ausbruch. Bea und Mary hatten Recht. Ich musste mich dem stellen und konnte nicht immer weglaufen.

Vor dem Mittagessen holte mich Merl zu einer »Extrastunde« ab.

Ich war nicht wirklich konzentriert (aber ganz ehrlich: das war auch mein gutes Recht bei allem, was heute passiert war), weshalb Merl ziemlich genervt von mir war.

»Verdammt, Sofia. Kannst du dir bitte ein bisschen Mühe geben?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen, während er mir ein und dieselbe Übung mindestens das zwanzigste Mal vorführen musste, weil ich immer noch nicht begriffen hatte, wie es ging.

»Nein, heute nicht«, fauchte ich. »Sorry, aber ich hab im Moment genug Probleme und keine Lust, mich mit diesem komischen Taekgien auseinanderzusetzen!«

»Taekgyeon«, verbesserte Merl mich. »Das wir übrigens schon über eine Woche üben. Aber du solltest wissen, dass wir hier nicht zum Spaß trainieren.«

»Mir sagt ja niemand was!«, sagte ich anklagend und deutete auf den Platz unter der Armet-Statue, an dem normalerweise Yu Weiß saß. »Selbst mein eigener Mentor nicht!«

»Im Moment noch nicht. Du musst dich gedulden«, sagte Merl sanft.

»Oh, toll!«, sagte ich sarkastisch. »Das hilft mir natürlich auch, das Training noch ernster zu nehmen als sowieso!«

Merl schnaubte und zeigte mir die Stellung, die wir schon die ganze Stunde übten, noch einmal. Als er mich endlich entließ, hatte ich das Mittagessen verpasst. Als ich an der Mädchentoilette vorbeiging, hörte ich schon wieder so ein merkwürdiges Schniefen. Ich schaute vorsichtig rein, nur um mich zu vergewissern – und konnte es echt nicht glauben. Die selbstbewusste, starke (und egoistische dumme Kuh!) Isabell saß zum zweiten Mal innerhalb einer Woche im Mädchenklo und wischte sich verheult ihre verlaufene Schminke aus dem Gesicht. (Vielleicht sollte sie sich mal überlegen, nicht immer geschminkt herum zu laufen, wenn sie so etwas häufiger abzog.) Ich lief weiter und fragte mich wieder, was Isabell so aus der Bahn werfen konnte. Nicht, dass ich mir Sorgen um sie machen würde (niemals!), aber sie sah doch ziemlich entkräftet aus.

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