Buch lesen: «Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 34/35», Seite 5

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»Die Kritik der ›reinen‹ Soziologie bedarf aber nun wieder eines Bodens, von dem aus sie das in Frage stellen kann, was die Soziologie über das gesellschaftliche Sein ausmachen will und kann; ein Boden der in Wahrheit ›grundlegend‹ sein muß, also nicht mehr Standpunkt gegen Standpunkt stellt, sondern die ursprüngliche Möglichkeit aller Aussagen über das gesellschaftliche Sein begründet. Dieser Boden kann allein von der Philosophie vorgegeben und gesichert werden. Das gesellschaftliche Sein kann als eine Grundweise des menschlichen Seins auf seine seinsmäßigen Charaktere, Gesetze und Formen nur von der Philosophie befragt werden.«21

Marcuse verteidigt hier zunächst die Rolle der Philosophie als Phänomenologie im heideggerschen Sinne einer Fundamentalontologie.22 In seinem ersten Aufsatz schlägt Marcuse eine Synthese zwischen Phänomenologie und Dialektik als der einzigen Methode vor, die »der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins gerecht zu werden [vermag].«23 Eine solche Synthese bezeichnet er als »dialektische Phänomenologie«: »Sie geht zunächst auf die ihrem Sein nach geschichtliche menschliche Existenz, und zwar sowohl in ihrer Wesensstruktur als in ihren konkreten Formen und Gestaltungen.«24 Die dialektische Phänomenologie also betrachtet die Geschichtlichkeit des Daseins sowohl auf der Ebene ihrer Grundstrukturen, das heißt sowohl auf ihre ontologische Dimension als auch auf der Ebene ihrer konkreten Verwirklichungen, ihre ontische Dimension hin. Der junge Marcuse will beides beibehalten: Marx’ geschichtliche Konkretion und Heideggers ontologischen Anspruch.

In seiner Auseinandersetzung mit Freyer behauptet Marcuse, dass nur eine »Analyse des menschlichen Lebens als geschichtliches«25 in der Lage ist, die Grundstrukturen der Geschichtlichkeit herauszustellen und die angemessene philosophische Grundlegung für ein System der Soziologie oder eine Theorie der Gesellschaft zu geben. Aber diese phänomenologische Grundlegung gebe uns zugleich eine neue Vorstellung davon, was philosophische Begriffe eigentlich seien:

»Die Grundcharaktere der Geschichtlichkeit liegen (ontologisch) vor jeder bestimmten geschichtlichen Sozialstruktur; sie müssen sich herausstellen lassen, ohne daß sie zu abstrakten und formalen Kategorien umgedeutet werden. Phänomene wie Herrschaft und Knechtschaft, Bewährung und Vergegenständlichung, Arbeit und Bildung, Selbst-transzendenz und Revolution sind solche Grundweisen des Seins des geschichtlichen Lebens«26.

Wie sind nun nach Marcuse solche Grundweisen des Seins des geschichtlichen Lebens zu verstehen? Mit Heidegger könne man, wie er fortfährt, sagen, dass solche Grundstrukturen des geschichtlichen Lebens dessen Grundmöglichkeiten seien:

»Die Strukturen des Daseins, die Zeitlichkeit selbst, sind nicht so etwas wie ein ständig verfügbares Gerüst für ein mögliches Vorhandenes, sondern sie sind ihrem eigensten Sinn nach Möglichkeiten des Daseins zu sein, und nur das.«27

Die Phänomenologie als Fundamentalontologie ist also auch für Marcuse der dem Sein des geschichtlichen Lebens geeignete Zugang und daher in der Lage, alle möglichen Gebilde und Phänomene des geschichtlichen Lebens zu umfassen. Im Unterschied zur beschränkenden Auffassung der Begriffe bei Freyer (und Koselleck) könne sie eine vollständige Herausarbeitung der Grundkategorien oder -begriffe des geschichtlichen Lebens liefern, die alle Phänomene, sogar diejenigen, für die es noch keinen geschichtlichen Präzedenzfall gebe, umfassen. Nach Marcuse gibt sie die eigentliche philosophische Grundlegung für die Wissenschaften und Theorien ab, die sich mit der geschichtlichen Wirklichkeit beschäftigen. Im Unterschied zu Heidegger hat die Fundamentalontologie bei Marcuse nun aber nicht etwa das individuelle Dasein als Gegenstandsgebiet, sondern das gesellschaftliche Dasein, die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer gesamten sozial-politischen Problematik. Die Fundamentalontologie wird damit bei Marcuse zu einer Sozialontologie, die das soziale Dasein zum Gegenstand nimmt:

»Dieses Dasein ist nun eben als geschichtliches ein primär veränderndes und zu veränderndes. Die Geschichtlichkeit als seine seinsmäßige Bewegtheit geschieht nicht mit ihm oder an ihm, sondern es selbst ist dieses Geschehen und ist nur dieses Geschehen. Das Dasein findet jeweils seine Situation vor, es muß sie auf sich nehmen, – aber nur um sie zu verändern. Denn diese Situation ist selbst ›Geschehen‹, sie trägt in ihr selbst die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Veränderung. Die Veränderung ist die eigentliche Kategorie der Geschichtlichkeit des Daseins.28

Für Marcuse ist es also das Ziel der Phänomenologie des sozialen Daseins zu zeigen, dass die Veränderung, die Umwälzung, die Revolution eine Grundmöglichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Diese Sozialontologie Marcuses will auf ontologischer Ebene belegen, dass die Veränderung der bestehenden Gesellschaft ihr als eine ihrer Grundmöglichkeiten offen steht. Marcuses Anspruch ist es, die Veränderung als ontologische Möglichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuzeigen. Auf der politischen Ebene hat dies Folgen gerade für die sozialen Kollektive, die auf eine tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft hin zu einem gerechteren Modell drängen. Der Nachweis dieser ontologischen Möglichkeit würde ihre Aneignung als reale und politische Aussichten für die kollektive Praxis erlauben.

Auch Marcuses Beschäftigung mit Hegels Lebensbegriff und dessen Idee von Geschichtlichkeit hat politisch-ontologischen Charakter. In seiner Habilitationsschrift will er zeigen, dass Hegels Idee von Geschichtlichkeit auf diesem Lebensbegriff gründet. Der Begriff wurde von Hegel mit Blick auf die Seinsweise des menschlichen Lebens konzipiert, dessen Geschehen aus dem »Bei-sich-selbst-bleiben im Anderssein«, das heißt aus der »Sichselbstgleichheit« in allen seinen Äußerungen, besteht.29 Hier glaubt Marcuse bei Hegel die Bestimmung eines Geschehens als Grundcharakter der Geschichtlichkeit gefunden zu haben. Diese innere Beziehung zwischen Leben und Geschichtlichkeit zeige die Verbindung zwischen Hegels und Diltheys Denken, und daher auch zwischen der hegelianisch-marxistischen und der hermeneutischen Tradition.30 Außerdem findet Marcuse bei Hegel (wie es, so glaubt er, auch bei Dilthey der Fall sei) einen Begriff von Geschichtlichkeit vor, der sich nicht auf die Ebene des Individuums beschränkt (wie bei Heidegger), sondern auf die Ebene des Kollektiven verweist: eine Ebene, die von der kollektiven Praxis der Erzeugung von Wirklichkeit (das »Thun Aller und Jeder«) bestimmt ist.31 Marcuse ist in diesem Moment bereits der Überzeugung, dass eine kritische Theorie der Gesellschaft ihre philosophische Grundlage nur durch eine Theorie der Geschichtlichkeit finden kann, die jede Form von Objektivismus in der Erkenntnis der Wirklichkeit und in der Wirklichkeit selbst auflöst.

IV. Zwischen Ontologie und kritischer Theorie

Was Marcuse damit gegen Freyer – und meines Erachtens immanent auch gegen Koselleck – vorbringt, wäre nur dann die Lösung für das bei ihm diagnostizierte Problem, wenn sein Vorschlag einer Fundamentalontologie des geschichtlichen Lebens überhaupt realisierbar wäre. Erlaubt nun Marcuses philosophische Position aus den Jahren 1928-1931 einen solchen Vorschlag für eine Ontologie der Geschichtlichkeit? Kann er von seinem philosophischen Ausgangspunkt aus eine phänomenologische Ontologie herausarbeiten?32

Ein Leitfaden von Marcuses frühen Schriften ist die Idee, dass die theoretische und philosophische Arbeit konkret werden müsse, um das Dasein in seiner bestimmten Not und Bedrängnis zu erreichen – so die Hauptthese des Aufsatzes Über konkrete Philosophie von 1929. Dazu müsse sich die Philosophie ihre eigene Geschichtlichkeit – und zwar ihre konkrete Geschichtlichkeit – völlig aneignen. Diese Tendenz wird bereits bei Marcuses Verarbeitung der Phänomenologie in seinem Aufsatz Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus deutlich. Dort kann man lesen:

»Phänomenologie bedeutet: Frage und Zugang von den Gegenständen selbst leiten lassen, die Gegenstände selbst voll in den Blick bringen. Die Gegenstände selbst aber stehen beim Zugriff zunächst in der Geschichtlichkeit. Diese Sphäre der Geschichtlichkeit beginnt, als konkret geschichtliche Situation, schon beim Ansatz der den Gegenstand suchenden Frage: sie umspannt die einmalige Person des Fragenden, die Richtung seiner Frage und die Weise des ersten Erscheinens des Gegenstandes.«33

Das betrifft auch die Dialektik, die damit ebenfalls konkret werden müsse: »Insoweit konkrete Dialektik die Vielspältigkeit, Gewordenheit und Grenze geschichtlicher Daseinsweisen und -formen aufweist, bedingt sie ein jeweiliges Stellungnehmen zu diesen Daseinsweisen und -formen und ihrer Wirklichkeit.«34

Nach Marcuse muss eine solche »dialektische Stellungnahme« »eine kritische sein«, denn »konkrete Dialektik als objektive, standpunktlose Wissenschaft ist ein Widersinn.«35 Ihm zufolge ist es eine wichtige Aufgabe der Philosophie, mit der Abstraktion und formalen Allgemeinheit der traditionellen theoretischen Philosophie zu brechen. Das Ziel der Philosophie sei aber vielmehr das Dasein in seiner geschichtlichen Situation, in seiner Not und seinen Bedürfnissen. Der Antrieb der Philosophie sei damit die Sorge um den Menschen, deshalb müsse sie die Praxis einfordern, die die Not des Daseins umkehren könne: Für Marcuse wäre das eine radikale Tat, die den zeitgenössischen Kapitalismus der Krise – einer Krise, die eine Krise der ganzen Existenz verursache – überwinden müsse.36

Wenn dies so ist, wenn also die Philosophie nach Marcuse nicht mehr bloß theoretisch bleiben darf, wenn sie sich ihrer geschichtlichen Situation mit ihren politischen Aufgaben stellen, wenn sie konkret und geschichtlich werden muss, wie kann so eine Philosophie dann eine ontologische Analyse des Seins des menschlichen geschichtlichen Lebens durchführen? Wie kann eine konkrete Philosophie die ontologischen Grundstrukturen oder Grundmöglichkeiten des geschichtlichen Lebens herausarbeiten? Wie kann sie etwas, das selbst nicht geschichtlich ist, aber schon Bedingungsmöglichkeit des geschichtlichen Geschehens enthält, herausstellen?

In der Antwort auf diese Fragen finden wir die wichtigste Spannung in Marcuses Frühwerk. Auf einer Seite gibt es bei Marcuse die Forderung nach Bewusstwerdung der eigenen konkreten Geschichtlichkeit des Denkens. Diese beinhaltet zugleich das Bewusstsein der notwendigen Stellungnahme der Philosophie in einer von sozio-politischen Konflikten bestimmten geschichtlichen Situation. Auf der anderen Seite bleibt Marcuse dem Anspruch auf eine ontologische Analyse des geschichtlichen Lebens treu, d. h. der Geschichtlichkeit überhaupt, als Analyse jenseits des Antagonismus zwischen entgegengesetzten ideologischen Standpunkten.37 Wenn diese Forderung auf eine Art von kritischer Theorie im Sinne von Max Horkheimers Aufsätzen der 1930er Jahre verweist,38 bleibt dieser Anspruch zugleich aber doch auch ganz in der Nähe von Heideggers Fundamentalontologie.39 Diese zentrale Spannung in Marcuses Frühwerk wird auch durch die Veröffentlichung von Marx’ Pariser Manuskripten von 1844 und Marcuses enthusiastischen Stellungnahmen dazu nicht gebrochen. Die zwei Aufsätze, die Marcuse 1932 und 1933 dazu veröffentlicht – Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus und Über die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriff40 – zeigen, dass er vielmehr umgekehrt Marx’ Manuskripte als Bestätigung für die Richtigkeit seines Versuchs aufnahm, mit Hilfe von Sein und Zeit eine materialistische bzw. dialektische Phänomenologie der Geschichtlichkeit zu unternehmen. Tatsächlich finden wir in diesen Aufsätzen eine Auffassung der Arbeit im Sinne der von Marcuse 1928 vorgeschlagenen dialektischen Phänomenologie als ontologisch bzw. anthropologisch – als Praxis der Selbstverwirklichung des Menschen (und deswegen als eigentliches Geschehen der menschlichen Geschichtlichkeit) und zugleich eine Betrachtung der geschichtlich konkreten Realisierungen der Arbeit in den verschieden sozio-ökonomischen Ordnungen.

Die Zäsur in Marcuses philosophischer Tätigkeit ist dann auf äußere, nicht auf theoretische Faktoren zurückzuführen: Im Frühjahr 1933 verließ Marcuse Deutschland in Richtung Schweiz als neuer Mitarbeiter des von Horkheimer geleiteten Instituts für Sozialforschung nach dem Scheitern seines Versuchs, sich in Freiburg bei Heidegger zu habilitieren.41 In diesem neuen Kontext bestimmte Marcuse nun in enger Zusammenarbeit mit Horkheimer sein theoretisches Projekt in Richtung einer kritischen Theorie der Gesellschaft neu. Horkheimer war damals kritisch gegenüber der Ontologie und der philosophischen Anthropologie eingestellt, und in dieser neuen Richtung gab es offiziell keinen Platz mehr für ontologische phänomenologische Ansprüche.42 Auch vollzog sich im Jahr 1933 ein weiteres Ereignis, das Folgen für die theoretische Entwicklung Marcuses hatte: Im März 1933 hatte Heidegger in Einklang mit dem neuen Nazi-Regime das Rektorat der Freiburger Universität aufgenommen. Für Marcuse war dies ein persönlicher und ein philosophischer Schock zugleich, der seine Bewertung Heideggers für immer ändern sollte.43 Im Jahr 1963 schrieb er in diesem Sinne in einem Brief an den tschechischen Philosophen Karel Kosík: »Heideggers positive Haltung dem Nazismus gegenüber ist meiner Meinung nach nur der Ausdruck des zutiefst anti-humanen, geist- und lebensfeindlichen, geschichtlich reaktionären Grundzugs seiner Philosophie.«44 Diese beiden Faktoren haben dann für Marcuse den Weg frei gemacht für eine radikale Historisierung der Philosophie, für ein radikales Konkret-Werden der Philosophie, die in Richtung einer kritischen Theorie der Gesellschaft führte und die für eine phänomenologische Analyse der ontologischen Grundstrukturen der Geschichtlichkeit keinen Raum mehr ließ.

Das heißt, zusammengefasst, dass Marcuse seine positive Haltung gegenüber der fundamentalen Ontologie nicht aufgrund einer theoretischen Selbstkritik aufgegeben hat. Es waren biographische und geschichtliche Ereignisse, die ihn motiviert haben, eine Änderung in seiner theoretischen Arbeit vorzunehmen. Nach 1933 war Marcuse letztlich davon überzeugt, dass eine kritische theoretische Analyse der bestehenden Gesellschaft keine Ontologie des geschichtlichen Daseins braucht und der Anspruch auf eine ontologische Geschichtlichkeit die wirkliche Geschichte verfehlt. Aber die Voraussetzungen dieser »Kehre« waren bei Marcuse, wie gesagt, keine rein theoretischen Gründe; vielmehr handelte es sich vor allem um die große Heidegger-Entäuschung und den Anfang seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter unter der Leitung von Horkheimer. Die Frage hier ist nicht, ob in seinem späteren Werk heideggerianische Motive zu finden sind – meiner Meinung nach sind solche Motive noch ziemlich oft zu finden. Entscheidend ist, dass bei Marcuse die heideggerianische Idee einer fundamentalen Ontologie des geschichtlichen Daseins später keine Rolle mehr spielt. In diesem Sinne können wir 1933 für Marcuses Denken als eine echte philosophische Zäsur ansehen. Die philosophische Spannung zwischen 1928 und 1933 – der Anspruch auf eine Synthese von Ontologie und Historischem Materialismus – verschwindet, weil eines der Momente – das Projekt einer Ontologie des geschichtlichen Daseins – verabschiedet wird.

Dirk Stederoth

Kulturindustrie und Musik *

Willkommen im »Haus of Gaga«

»Kulturindustrie und Musik«: Das klingt in den Ohren der Kundigen sofort nach einer der hundertfachen Abrechnungen mit Adornos Jazz- und Popularmusik-Kritik und einem schnöden Hinweis darauf, dass Pop- und Rockmusik doch gar nicht so affirmativ sein müssen, wie der Kritiker vorgibt, welchem Hinweis vielerorts der Applaus so sicher ist wie der abgesprochenen Pointe in einer beliebigen Comedyshow. Keine Angst – nichts dergleichen erwartet Sie, und ich habe auch das übliche Applausschild zuhause gelassen. Im Gegenteil möchte ich zunächst eines klarstellen: Adorno hatte völlig recht mit dem, was er über den Jazz gesagt hat, wenn man seine Aussagen auf den Bedeutungsgehalt bezieht, den Adorno mit dem Wort »Jazz« verbunden hat. Die Allgegenwart des seichten, bequemen und honigsüßen Pop-Swing in den amerikanischen Radios und Filmen der 1930er und 1940er Jahre, der mit Benny Goodman, Glenn Miller & Co. zur Massentauglichkeit arrangiert wurde, ist in der Tat kaum weniger ein Gräuel als die deutschen Heile-Welt-Schlager der gleichen Zeit, insofern die Heile Welt zwar nicht im Text, jedoch nicht weniger wirkungsvoll in der Kantenlosigkeit des Arrangements wie auch in der schnulzigen Biederkeit der Melodien sich wiederfindet. Der Bebop oder der Blues konnte von Adorno in den entsprechenden Passagen der Dialektik der Aufklärung gar nicht gemeint sein, da sie als Anti-Swing-Bewegung bzw. als Inbegriff schwarzer Musik keineswegs radio- oder gar massentauglich waren.

Aber auch Adornos Kritik der Popularmusik trifft meines Erachtens etwas völlig Richtiges, wo sie sich auf Pop-Musik mit einem unangemessenen und konträr zur Musik stehenden politischen Sendungsbewusstsein richtet.1 Ich will das hier nicht länger ausbreiten und lediglich exemplarisch die rhetorische Frage stellen: War es nicht wahrlich unerträglich, als pünktlich zur deutschen Einheit die Live-Version von Westernhagens Freiheit durch die Radios quoll und die frischgebackenen Bundesbürger bei der »befreiten« im Sinne von »entfesselten« Konsumjagd begleitete, wobei diesen erst später schmerzlich bewusst werden konnte, dass nur die Freiheit, die zahlen kann, die ist, »die zählt«?

Ebenfalls sind Adornos kritische Analysen in seinem 1941 erschienenen Essay On Popular Music,2 was die Strukturen kulturindustrieller Verwertung von Musik betrifft, noch recht aktuell, obgleich sie noch in den – heutzutage meist nur noch von bornierten Klassikkonzertbesuchern krampfhaft festgehaltenen – Kategorien von E- und U-Musik gestrickt sind. Zudem unterliegt Adorno in dieser Schrift einer mittlerweile allseits bekannten Voreingenommenheit: Wenn er auf der einen Seite dasjenige, was er über die Popularmusik sagt, auch für schlechte E-Musik als einschlägig erachtet,3 so hätte er umgekehrt auch dasjenige, was er an der guten E-Musik lobend heraushebt, problemlos auf eine gute Popularmusik beziehen können, die gleichwohl in seinem Universum gar nicht vorkommt.4 Hier greift Adorno klar zu kurz – Einzelheiten erspare ich mir an dieser Stelle.

Diesbezüglich geht Marcuse in seiner Rede vor dem New England Conservatory of Music aus dem Jahre 1968 mit dem Titel Musik von anderen Planeten5 einen gehörigen Schritt weiter, wenn er der schwarzen Musik ein subversives Element beimisst, das in einer »Erfahrung außer- und unterhalb des tradierten Universums selbst noch der atonalen Musik«6 bestehe. Auch wenn er in der Ausführung dieser Subversion noch recht vage bleibt, trifft er hier möglicherweise einen nicht unerheblichen Punkt.

Exakt 40 Jahre nach der Rede von Marcuse tritt mit Lady Gaga nun erneut eine Person explizit mit dem Anspruch auf, die Popmusik »revolutionieren« zu wollen, wobei im Folgenden zu untersuchen sein wird, ob von ihr – wie oft behauptet – ebenfalls subversive Kräfte ausgehen. Dass Lady Gaga einer der gegenwärtig größten Popstars, vielleicht sogar, wie Tobias Rapp schrieb, »der einzige Popstar der Gegenwart«7 ist, daran ist wohl nicht zu zweifeln – die mittlerweile über 45 Millionen eingetragenen Facebook-Fans, ihre 18 Millionen-Gefolgschaft auf Twitter und über 90 Millionen verkaufte Tonträger innerhalb von drei Jahren sprechen für sich. Das Geheimnis dieses Phänomens hat viele Facetten: die Art ihres Auftretens, die Nutzung des Internets und sozialer Netzwerke, ein vernetztes globales Team von Künstlern und Designern, die Produktionsweise ihrer Musik, ihr Showtalent – all das trägt zu ihrem Erfolg bei und wird gleich noch nähere Beachtung finden. Zudem hat Gaga noch eine Botschaft, die sich vielleicht folgendermaßen auf ein Schlagwort bringen lässt: die soziale Anerkennung der naturgegebenen Individualität. Von dieser Botschaft her erklären sich ihr Engagement für Homosexualität, die Exzentrik ihrer öffentlichen Auftritte, die wiederholten Plädoyers an ihre Fans, sich selbst und die eigene Einzigartigkeit ernst zu nehmen, wie auch der eigenwillige Brauch, ihre Fans »Little Monsters« und sich selbst »Mother Monster« zu nennen. Auch wenn letzteres angeblich eine Erfindung der Fans gewesen ist, hat dieser Sprachgebrauch direkt mit der Herkunft dieser Botschaft zu tun, die sich in Montaignes Essai Über ein mißgeborenes Kind (»Of a Monstrous Child«) findet, über den Stefani Germanotta alias Lady Gaga 2004 im ersten Semester ihres kurzen Musikstudiums einen kleinen Text verfasste. Montaigne beschreibt in seinem Essai ein vierzehn Monate altes Kind, das mit einem zweiten Kindskörper ohne Kopf zusammengewachsen ist, und stellt die These auf, dass auch dieses Kind von Gott so gewollt war, wie es ist, und letztlich alle individuellen Formen von Wesen als naturgemäß zu erachten sind. Er schließt mit den Sätzen: »Was wider die Gewohnheit geschieht, nennen wir wider die Natur. Doch es gibt nichts, überhaupt nichts, was nicht gemäß der Natur geschähe. Laßt uns anhand ihrer universalen Vernunft die abwegige Verblüffung abschütteln, die uns bei ungewohnten Erscheinungen jedesmal überkommt.«8 Die 18-jährige Stefani Germanotta schreibt entsprechend: »We are trained only to be accepting of the regular, and it is this blindness that prevents us from seeing the prodigy in that which we have never seen before.«9 Dass wir also darauf trainiert sind, nur das Normale und Regelgerechte zu akzeptieren und uns deshalb entgeht, das Wunder dessen zu erkennen, was noch nie da gewesen ist, ist zwar nicht gerade ein bahnbrechender Gedanke, aber es macht deutlich, was Gaga in ihrer Arbeitswut antreibt: Ein Gedanke, der sich auf den ersten Blick gegen die kulturindustrielle Vereinnahmung zu sperren scheint. Aber lassen Sie uns im Detail sehen, wie sie ihn umsetzt.

Beginnen wir mit dem Teil des Gaga-Projekts, der doch wohl bei einer Musikerin im Zentrum stehen sollte: die Musik. Aber gleich hier ist die Verwunderung groß – klingt diese doch so gar nicht nach »never seen before« bzw. »never heard before«. Reichen zwar die öffentlichen Kommentare zur letzten Gaga-CD von: »Sehr gut gemachter Kirmestechno« (Jens-Christian Rabe)10 bis »brilliante Songwriterin« (Tobias Rapp)11, so ist doch zurecht nirgendwo vom Wunder des nie Dagewesenen die Rede. Verwunderung löst vielmehr allenthalben der Kontrast zwischen der Exzentrik und Kreativität von Gagas Auftreten und der Gewöhnlichkeit ihrer Musik aus. Mögen die Kompositionen ihrer Songs noch einigen Reiz haben, zumal wenn sie mitunter nur mit Piano und der fraglos guten Stimme Gagas performed werden, so ist insbesondere die Produktionsweise der Songs mit dem Begriff »gewöhnlich« sehr angemessen getroffen, kann man an ihr doch recht gut ablesen, was gegenwärtig Massentauglichkeit im musikalischen Sinne (zumindest bezogen auf die Sparte, die Gaga bedient) bedeutet. Das ist erstens – fast selbstverständlich – ein tanzbarer Beat, der bei Gaga zumeist europäisch gerade gestaltet ist; das ist zweitens das weitgehende Fehlen von Sound-Dynamik, was bedeutet, dass die Differenz zwischen leisen und lauten Anteilen der Musik durch Kompressoren und Limiter möglichst niedrig gehalten wird – das macht die Produktion laut und vermeidet Spitzen, Ecken und Kanten; drittens wird die leitende Singstimme exzessiv mit Vocodern, Harmonizern und anderen Effekten bearbeitet, damit sie sich enger in die Synthie-Sounds, die das restliche Klangbild bestimmen, einfügt. Alles wird hier extrem an die Hörgewohnheiten angepasst und alles getan, um ein Stirnrunzeln beim Hörer zu vermeiden, weshalb die Gaga-Produktionen (hierin der genannten Ära des Swings ganz analog) gezielt auf Massenkonsum angelegt sind.

In der Musik findet sich das Gaga-Prinzip also nicht verwirklicht, was aber letztlich in der Logik der Sache kulturindustrieller Massenproduktion liegt, denn will man einen Massengeschmack erreichen, so muss man die Produktion solchermaßen abrunden, dass sich möglichst wenige an ihr stoßen können. Je mehr sich das Besondere, Eigentümliche, individuell Charakteristische in eine Produktion einmischt, desto weniger erweist sie sich als allgemeintauglich. Aber vermutlich ist dies auch Lady Gaga klar und die Musik dient ihr möglicherweise lediglich als Medium, um auf anderen Wegen ihre Botschaft umzusetzen, denn spätestens mit Michael Jackson und Madonna wurde in der Popgeschichte deutlich, dass die Musik allein noch keinen Megastar hervorbringt, insofern mittlerweile fast alle Felder des Showgeschäfts in eine Pop-Produktion einbezogen sind.

Schaut man sich die Art der öffentlichen Präsentation von Lady Gaga und ihrer Musik an, so zieht sie in der Tat alle Register, die das Showgeschäft zu bieten hat. Und vor allem tut sie dies nicht allein, sondern versammelt um sich ein ausgesuchtes Netz von Designern und Künstlern, das sie in expliziter Bezugnahme auf das Bauhaus »Haus of Gaga« nennt. Ebenfalls steht der Verweis auf die Warhol-Factory immer wieder im Raum. Auch wenn über den Sachverhalt einer Vernetzung von Kreativen unterschiedlicher Genres hinaus mit diesen Traditionen nur wenig Verbindung besteht, ist das »Haus of Gaga« die eigentliche Kreativstätte des Gaga-Styles, weshalb man es ebensogut als Kreativ-Team im Marketingbereich bezeichnen könnte.

Doch was ist nun das Produkt dieser Kreativgruppe? Was ist »Lady Gaga«? Ein geschicktes Marketing-Konzept oder vielmehr eine »soziale Skulptur«, wie es der spex-Autor Georg Seeßlen12 unlängst ausdrückte, oder gar ein »Gesamtkunstwerk«, wie es Jens-Christian Rabe13 formuliert? Gehen wir doch die drei Vorschläge einmal der Reihe nach durch und beginnen am Ende der Reihe, beim Gesamtkunstwerk.

Um zunächst ganz unbefangen danach zu fragen, was mit einem Gesamtkunstwerk gemeint sein könnte, sollten wir vielleicht den klassischen Experten in diesem Genre heranziehen: Richard Wagner. Gerade in seiner frühen Schrift Die Kunst und die Revolution entfaltet Wagner die Grundansätze seiner Idee des Gesamtkunstwerkes aus einer Kritik der Kunst seiner Zeit heraus, die der Kritik des Kulturindustriekapitels nicht nur dem Wortlaut nach recht nahe kommt. Dort schreibt er: »Das ist die Kunst, wie sie jetzt die ganze civilisierte Welt erfüllt! Ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb, ihr ästhetisches Vorgeben die Unterhaltung der Gelangweilten.«14 Der Hauptgrund für den Verfall der Kunst liegt für Wagner in der Zersplitterung der Kunst in vereinzelte Künste, die er in der griechischen Tragödie noch vereint sah:

»Mit dem späteren Verfall der Tragödie hörte die Kunst immer mehr auf, der Ausdruck des öffentlichen Bewußtseins zu sein: das Drama löste sich in seine Bestandteile auf: Rhetorik, Bildhauerei, Malerei, Musik u.s.w. verließen den Reigen, in dem sie vereint sich bewegt hatten, um nun jede ihren Weg für sich zu gehen, sich selbständig, aber einsam, egoistisch fortzubilden.«15

Die Revolution, die Wagner dagegen fordert, ist eine erneute, aber nicht restaurative Vereinigung der Künste in einem Gesamtkunstwerk:

»Umfaßte das griechische Kunstwerk den Geist einer schönen Nation, so soll das Kunstwerk der Zukunft den Geist der freien Menschheit über alle Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen«16.

Ist eine solche Revolution gemeint, wenn Gaga sagt: »ich habe es mir zum Ziel gesetzt, die Popmusik zu revolutionieren«?17 Schaut und hört man sich Musik, Text, Video und live performance eines Gaga-Songs einmal vor diesem Hintergrund an, so sucht man den einheitsstiftenden Zusammenhang (sieht man einmal von ihrer geschilderten Botschaft ab) vergeblich. So hat beispielsweise der Text des Songs Telephone, in dem es darum geht, dass eine Frau, die Schampus nippend in einem Club weilt, ständig von ihrem Typen am Telefon belästigt wird, nur noch durch marginale Gesten mit dem Inhalt des hochgelobten Videos zum Song zu tun, in dem zwei Frauen (Gaga und ihre R’n’B-Kollegin Beyoncé) einem offensichtlichen male chauvinist mit Gift den Garaus machen. Von Gesamtkunstwerk im wagnerschen Sinne kann hier wohl keine Rede sein – oder vielleicht doch, wenn Adorno und Horkheimer in der »flüchtig getarnte[n] Identität aller industriellen Kulturprodukte […] [die] hohnlachende Erfüllung des Wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk« sehen, gelinge doch die »Übereinstimmung von Wort, Bild und Musik […] um so viel perfekter als im Tristan, weil die sinnlichen Elemente, die einspruchslos allesamt die Oberfläche der gesellschaftlichen Realität protokollieren, dem Prinzip nach im gleichen technischen Arbeitsgang produziert werden und dessen Einheit als ihren eigentlichen Gehalt ausdrücken.«18 Aber auch diese Analyse befriedigt wenig, ist doch die Realität des Fernsehens der 1940er Jahre, auf die sich dieses Zitat bezieht, zu weit entfernt von der Kultur gegenwärtiger Video-Produktionen. Die Idee des Gesamtkunstwerkes scheint also bei Gaga und ihrem »Haus« nicht zu greifen. Allerdings scheint Nietzsches Kritik an Wagner zumindest partiell auch Gaga zu treffen (gewissermaßen stellvertretend für den gegenwärtigen musikalischen Zeitgeist). Zwar wäre es gegenüber Gaga etwas unfair, mit Nietzsche zu wettern: »Wenn ein Musiker nicht mehr bis drei zählen kann, wird er ›dramatisch‹«19, obgleich dies doch für viele unserer musikalischen Zeitgenossen gilt; gleichwohl trifft auch die folgende wagnerkritische Passage Nietzsches die musikalische Kulturindustrie unserer Zeit: »Noch nie wurde die Rechtschaffenheit der Musiker, ihre ›Echtheit‹ gleich gefährlich auf die Probe gestellt. Man greift es mit Händen: Der große Erfolg, der Massen-Erfolg ist nicht mehr auf der Seite der Echten – man muß Schauspieler sein, ihn zu haben!«20 In diesem Sinne sind Wagner und unsere gegenwärtige Kulturindustrie sehr verwandt.

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