Buch lesen: «Lebenskunst nach Leopardi», Seite 2

Schriftart:

II. Der Vogel und der Mensch

Ein «Io solitario», ein einsames, denkendes und singendes Ich inszeniert Leopardi aber auch in weiteren Canti, nicht nur im bereits zitierten Gesang des umherirrenden Hirten oder in jenem der Sappho, sondern insbesondere in jenem, der den canto zwar nicht im Titel trägt, aber dennoch «canto» ist und zudem, wie der Elogio, unter anderem vom Gesang der Vögel handelt: im Passero solitario.

Il passero solitario

D’in su la vetta della torre antica,

Passero solitario, alla campagna

Cantando vai finchè non more il giorno;

Ed erra l’armonia per questa valle.

Primavera dintorno

Brilla nell’aria, e per li campi esulta,

Sì ch’a mirarla intenerisce il core.

Odi greggi belar, muggire armenti;

Gli altri augelli contenti, a gara insieme

Per lo libero ciel fan mille giri,

Pur festeggiando il lor tempo migliore:

Tu pensoso in disparte il tutto miri;

Non compagni, non voli,

Non ti cal d’allegria, schivi gli spassi;

Canti, e così trapassi

Dell’anno e di tua vita il più bel fiore.

Oimè, quanto somiglia

Al tuo costume il mio! Sollazzo e riso,

Della novella età dolce famiglia,

E te german di giovinezza, amore,

Sospiro acerbo de’ provetti giorni

Non curo, io non so come; anzi da loro

Quasi fuggo lontano;

Quasi romito, e strano

Al mio loco natio,

Passo del viver mio la primavera.

Questo giorno ch’omai cede alla sera,

Festeggiar si costuma al nostro borgo.

Odi per lo sereno un suon di squilla,

Odi spesso un tonar di ferree canne,

Che rimbomba lontan di villa in villa.

Tutta vestita a festa

La gioventù del loco

Lascia le case, e per le vie si spande;

E mira ed è mirata, e in cor s’allegra.

Io solitario in questa

Rimota parte alla campagna uscendo,

Ogni diletto e gioco

Indugio in altro tempo: e intanto il guardo

Steso nell’aria aprica

Mi fere il Sol che tra lontani monti,

Dopo il giorno sereno,

Cadendo si dilegua, e par che dica

Che la beata gioventù vien meno.

Tu, solingo augellin, venuto a sera

Del viver che daranno a te le stelle,

Certo del tuo costume

Non ti dorrai; che di natura è frutto

Ogni vostra vaghezza.

A me, se di vecchiezza

La detestata soglia

Evitar non impetro,

Quando muti questi occhi all’altrui core,

E lor fia voto il mondo, e il dì futuro

Del dì presente più noioso e tetro,

Che parrà di tal voglia?

Che di quest’anni miei? che di me stesso?

Ahi pentirommi, e spesso,

Ma sconsolato, volgerommi indietro. (Il passero solitario, vv. 1–59)

[Die einsame Amsel

Droben, hoch auf der Spitze des alten Turmes, | einsame Amsel, singst du ins weite Land | dein Lied hinaus, bis schließlich der Tag vergeht. | Und harmonischer Wohlklang erfüllt dieses Tal. | Frühling glänzt überall | in den Lüften und jubiliert auf den Feldern, | und Rührung ergreift das Herz, wenn man schauend steht. | Du hörst die Schafe blöken, die Rinder muhen. | Die anderen Vögel ziehen vergnügt um die Wette | am blauen, heiteren Himmel tausend Kreise | und feiern ihres Lebens schönste Zeit. | Du bleibst sinnend beiseit und betrachtest das alles. | Du nimmst nicht teil, und du fliegst nicht. | Scherz und Fröhlichkeit abgeneigt, sitzt du da und singst du, | und so, in Gedanken, verbringst du | des Jahrs und des eigenen Lebens Blütezeit.

Weh mir, wie ähnlich im Grunde | ist deine Art zu leben der meinen. Frohsinn | und Lachen, stets mit der Jugend in süßem Bunde, | und Liebe, auch dich, der Jugend leibliche Schwester | und der späteren Tage bittere Sehnsucht, | achte ich nicht, ich weiß nicht, warum. Statt dessen | zieht es mich fluchtartig fort. | Ein Einsiedler gleichsam und Fremder | am eigenen Heimatort | schaue ich zu, wie der Lenz meines Lebens verstreicht. | Den heutigen Tag, der nun dem Abend weicht, | pflegt man fröhlich zu feiern in unserem Städtchen. | Du hörst in der klaren Luft die Glocke schallen, | hörst wieder und wieder das Donnern aus ehernen Rohren | von Dorf zu Dorf in der Ferne widerhallen. | Die Burschen und Mädchen verlassen | die Häuser im Festtagskleid | und schlendern durch den Ort und füllen die Gassen. | Man sieht und wird gesehen und freut sich von Herzen. | Ich stehle mich einsam beiseit | und suche diese entlegenen Felder, verschiebe | auf eine spätere Zeit | Freude und Scherz, und indessen trifft meinen Blick | in lichtdurchfluteter Luft | die Sonne, die in der Ferne zwischen den Bergen | langsam versinkt und erblindet | am Ende des heiteren Tags, und es scheint mir, sie ruft, | sie flüstert mir zu, daß die glückliche Jugendzeit schwindet.

Einsamer kleiner Vogel, du wirst am Abend | deines Lebens, den dir die Sterne bestimmen, | die Art, wie du lebtest, sicher | nicht bedauern. Denn eure Neigung ist nur | eine Frucht der Natur. | Ich aber, wenn ich nicht | die verabscheute Schwelle | des Alters zu meiden vermag, | wenn diese Augen nicht mehr zum Herzen des andren | sprechen, die Welt sich leert und der morgige Tag | trostloser, dunkler noch als der heutige zu werden verspricht, | was wohl werde ich denken | von mir selbst, und wie ich gelebt und gehofft? | Bereuen werd ich und oft, | doch ungetröstet, die Blicke rückwärts lenken.]

Außer den drei oben angesprochenen Fragen hat sich, vor allem in den letzten Jahren, die Forschung selbstverständlich auch weiteren Aspekten zugewandt: Neben der immer wieder auftauchenden biographistischen Deutung des Textes, derzufolge Leopardi mit dem Ich des Textes exakt sich selbst und sein Leben in Recanati portraitiert habe, und neben den zahlreichen intertextuellen Anknüpfungspunkten vom «passer solitarius» in Psalm 102 über diverse Gedichte Petrarcas bis hin zu Texten ungefähr aus Leopardis Zeit sind dies vor allem zwei Bereiche: Zum einen wird, gerade in den neuesten Arbeiten, die Frage nach der Selbstbezüglichkeit des Textes gestellt, die Frage danach, ob es sich um ein Gedicht über das Dichten handle, zum anderen die Frage nach der Zeit, die in Anbetracht der vielen und vielfältigen Erwähnungen im Gedicht als dessen zentrale Isotopie angesehen werden muß, die zugleich die meisten anderen Aspekte berührt oder einschließt.1

Der oben vollständig abgedruckte Text ruft in Erinnerung, daß das Gedicht nicht in regelmäßige Strophen, sondern in drei ungleich lange Versabschnitte geteilt ist, von denen der erste und der dritte mit 16 und 15 Versen ungefähr gleichlang sind, während der mittlere mit 28 Versen beinahe die doppelte Länge umfaßt und damit fast die Hälfte des Gedichts ausmacht. Diese freie Strukturierung, die einhergeht mit nur wenigen, verstreut eingesetzten Reimen, findet sich bekanntlich auch sonst in der Lyrik des späten Leopardi, der sich nach und nach von der strengen Canzonenform löst, wie sie aus der provenzalischen Dichtung in die italienische übernommen und vor allem in der bei Petrarca gestalteten Weise kanonisiert wurde. Diesem Aufbau in drei Teile entspricht die Sprechsituation des Gedichts, die, auch wenn das ganze Gedicht hindurch das lyrische Ich die Sprechinstanz bleibt, doch mehrfach changiert: Im ersten Teil wendet es sich vor allem an den Vogel, der im zweiten Vers direkt angesprochen wird. Hier dominiert ein eher beschreibender Gestus, insofern die Lebensgewohnheiten des Vogels geschildert werden, die sich von denen anderer Vögel unterscheiden. Demgegenüber beschreibt das Ich im zweiten Abschnitt, wie wiederum gleich die ersten beiden Verse unterstreichen («quanto somiglia | Al tuo costume il mio» [«wie sehr ähnelt deine Lebensweise der meinen»]), seine eigenen Gewohnheiten, die nun wiederum dargelegt werden, aber hier ist sein Gesang von vornherein mit der Exclamatio Oimè als Klage statt als neutrale Beschreibung gekennzeichnet. Diese Doppelheit wiederholt sich im dritten und letzten Versabschnitt, der wie zuvor einen kürzeren Teil dem direkt angesprochenen Vögelchen, «Tu, solingo augellin», widmet und diesem mit dem «A me» ab Vers 50 einen doppelt so langen Teil entgegensetzt. Dieser mündet in den letzten beiden Versen in einen durch «Ahi» eingeleiteten, klagenden Ausruf, die einzige Antwort auf die drei zuvor gestellten Fragen des Ich.

Insbesondere zwischen erstem und zweitem Abschnitt sind die Bezüge vom Gedicht klar markiert und lassen sich bei aufmerksamem mehrfachem Hören und Lesen deutlich wahrnehmen, weil sich essentielle Elemente wiederholen: In der Mitte des ersten Teils ist zunächst von der «primavera» die Rede, dann vom Hören, «Odi», und von den anderen; dies wiederholt sich exakt im zweiten Teil, wo in v. 26 der Frühling, in v. 29sq. insistierend das «du hörst» und mit der «Dorfjugend» in v. 33 auch das Pendant zu den anderen Vögeln wiederkehren. Dies wird in der Weise umrahmt, daß Teil I mit dem Du und auf dem Land beginnt, während Teil II mit dem Ich auf dem Land endet (cf. v. 2sq. und v. 36sq.); umgekehrt endet Teil I damit, daß der Vogel sich nicht um das schert, was den anderen Freude bereitet – «non ti cal d’allegria» (v. 14) –, so wie der zweite damit beginnt, daß das Ich sich um Frohsinn, Lachen und Liebe nicht kümmert: «non curo» (v. 22). Zahlreiche Elemente des Gedichts also lassen die enge Verbindung, die Ähnlichkeit zwischen Ich und «passero» hörbar und sichtbar werden, und tatsächlich unterstreichen diese beiden Teile in vielerlei Hinsicht die Gemeinsamkeiten zwischen beiden.2

Allerdings könnte man doch leise Skepsis anmelden, wenn man die raffiniert überkreuzte Struktur der jeweiligen Rahmenteile betrachtet, die die Parallelen im Innern überlagern: Zwar wird so einerseits der Zusammenhalt der beiden Versabschnitte sehr deutlich markiert – am Anfang und Ende die «campagna», die Ich und Du in ihrer Gemeinsamkeit umschließt, dazwischen mit «non ti cal || non curo» ein gleitender Übergang vom Du zum Ich, der seinerseits die Ähnlichkeit durch den ähnlichen Klang sinnlich wahrnehmbar macht. Andererseits und gleichzeitig stellt durch diesen Chiasmus der zweite den ersten Teil auf den Kopf und weist damit bereits auf den dritten Teil voraus, der, wie erwähnt, die Strukturierung des Vorausgegangenen in einer Art Stretto wiederholt und dabei im Ich-Teil auch den Klagegestus wiederaufnimmt. Anders als zuvor jedoch betont das Ich nun vor allem die Unterschiede, wie schon die Opposition von «Tu – A me» andeutet, während zuvor mit «Passero solitario» und «Io solitario» die Analogie hervorgehoben worden war. So steht jetzt auf der einen Seite die Selbstgewißheit des Vogels, den in all seinem Wollen und Streben die Natur leitet. Auf der anderen Seite setzt das Ich diesem fraglosen «certo del tuo costume» (v. 47) konsequent seine eigenen Fragen entgegen, die es als reflexives und reflektierendes, als, wie der letzte Vers sagt, sich zurückwendendes Wesen zeigen – und mit diesem «volgerommi indietro» endet das Gedicht und wird daher gern als Beleg für die alles andere zum Schweigen bringende, aber kaum je selbst verstummende Pessimismus-These gewertet.

Daß der canto und das, was er wie besingt, in einem Band über die «arte del vivere» und «anti-pessimistische Strategien» damit nicht seinerseits zum Verstummen gebracht werden kann, mag auf einen ersten Blick als petitio principii erscheinen, gründet sich aber weiterhin auf den Wortlaut des Textes und auf die bereits zitierten wie auch weitere Passagen des Leopardischen Werks. Keinesfalls soll damit suggeriert werden, es handle sich um ein per se fröhliches oder gar – horribile dictu – optimistisches Gedicht: Dies hieße, die Komplexität von Leopardis Texten einmal mehr, nur von der anderen Seite her, weit über Gebühr zu reduzieren, wenn nicht zu verfälschen – und nicht umsonst spricht der Bandtitel von anti-pessimistischen, nicht von optimistischen Strategien. Dennoch gilt es, dem nachzugehen, daß in diesen schönen, klangvollen und daher weiterklingenden Versen mehr stecken muß als nur ein pessimistischer Leopardi, der aus seinem engen Recanati nicht herauskommt und das ganze menschliche Leben unter einem ebensolchen Zeichen der Enge und Ausweglosigkeit sieht. Einmal mehr ließe sich mit und frei nach Hölderlin3 sonst fragen: «Wozu Dichte[n] in dürftiger Zeit?» und antworten: «Was bleibet aber, stiften die Dichter.»

Fraglos ist das bereits angesprochene Thema der Zeit als die zentrale Isotopie des Gedichts in vielfachen Bedeutungsaspekten so präsent, daß man die Zeit als das trotz seiner Vielfalt alle einzelnen Aspekte einende Element bezeichnen kann. Auffallend ist dabei, wie insbesondere Gier herausarbeitet4, daß unterschiedliche Ebenen, unterschiedliche Bezugsrahmen der Zeit kombiniert werden, wenn etwa gleich im ersten Versabschnitt zunächst vom ‹Sterben des Tages› die Rede ist, mithin vom sterbenden Tageslicht am Abend (v. 3), danach von der «primavera», dem Frühling (v. 5), und schließlich von der besten Zeit der Vögel (v. 11), von der Blüte des Lebens und der des Jahres (v. 16). Bezogen auf den Vogel werden hier Tageszeit, Jahreszeit und Lebenszeit thematisiert, so wie erneut im folgenden Abschnitt bezogen auf das Ich: Wieder wird der Frühling erwähnt, die untergehende Sonne am Ende des heiteren Tages und die Jugend im Gegensatz zum fortgeschrittenen Alter. Im dritten Versabschnitt, der im Gegensatz zum bisherigen Präsens als der typischen Zeit für Beschreibungen in einem visionären Futur gehalten ist, taucht erneut der Abend auf und in v. 50 die «vecchiezza», das Alter, in dem jeder künftige Tag dunkler, aussichtloser erscheint als der gegenwärtige: «fia […] il dí futuro | Del dí presente più noioso e tetro» (v. 54sq.).

Doch Tageszeit, Jahreszeit und Lebenszeit werden nicht nur nebeneinandergestellt; sie werden auch miteinander verflochten, in der Weise, daß jede zur Metapher, vielleicht auch einer Art metonymischer Metapher der anderen werden kann: So werden Jahreszeit und Lebenszeit nicht nur wie in v. 16 mit der Blüte des Lebens und des Jahres parallelisiert; vielmehr kann, nachdem der erste Versabschnitt zu solchem Lesen angeleitet hatte, im zweiten das eine unmittelbar für das andere einspringen: «Passo del viver mio la primavera», singt das Ich in v. 26, um unmittelbar danach von dieser metaphorischen Verwendung der Jahreszeit zur eigentlichen Verwendung der Tageszeit zurückzuspringen: «Questo giorno ch’omai cede alla sera» (v. 27). Der sich dem Abend zuneigende Tag kehrt im dritten Teil wieder, nun aber erneut in metaphorischem Gebrauch, wenn das Ich sein Vögelchen mit einer poetischen Apostrophe anspricht mit den Worten: «Tu, solingo augellin, venuto a sera | del viver che daranno a te le stelle» (v. 45sq. [‹wenn Du am Abend der Lebensspanne angekommen sein wirst, die dir die Sterne zuweisen›]). Dieses poetische Bild des Lebensabends ist die letzte bildliche Evokation des Themas Zeit, denn wenn das Ich es nun wiederum auf sich selbst bezieht, benennt es sie mit dem kruden, dem eigentlichen Wort «vecchiezza», das es zudem durch eine andere Metapher stark in den Vordergrund rückt: durch die verabscheute, aber gleichwohl nicht zu umgehende Schwelle zu diesem Alter. Dementsprechend wird diese Lebensphase in den folgenden Fragen auch nicht wieder poetisch als Herbst oder Abend stilisiert; vielmehr weist das Demonstrativum «questi» schlicht und klar auf ‹diese meine Jahre› hin, insofern «quest’anni miei» die «vecchiezza» wieder aufnimmt, so daß das ebenso bildhafte wie bilderreiche Gedicht in ein ungeschöntes Benennen mündet, dem die offenen Fragen und der klagende Ausruf korrespondieren.

Aber nicht nur die für den Vogel und für das Ich jeweils gebrauchten Bezeichnungen divergieren hier; vor allem unterscheidet sich, wie das Ich darlegt, die Haltung, die der Besungene und der Singende, das Tier und der Mensch zu ihrer jeweiligen Lebenszeit einnehmen. Während beide sich von den jeweiligen Art- und Zeitgenossen absondern, die Einsamkeit suchen und dem lustigen Treiben allenfalls von ferne zuschauen, lebt der Vogel dabei, anders als das Ich, ganz in seiner Gegenwart: Er singt von seinem Turm aus über das Land, bis der Tag sich neigt, wie es gleich zu Beginn heißt, und singend verbringt er auch den besten Teil des Jahres und des Lebens, wie die Alliterationen und Assonanzen zusätzlich hervorheben: «alla campagna | Cantando vai» (v. 2sq.), und «canti e così trapassi | Dell’anno e di tua vita il più bel fiore» (v. 15sq.). Während also der Vogel nur seine Gegenwart kennt und jeden Tag mit seinem Gesang füllt, weiß das Ich um die Zukunft, weiß, daß die Liebe im fortgeschrittenen Alter Ursache bitterer Seufzer sein wird (cf. v. 20sq.), und läßt doch den Frühling seines Lebens einfach so vergehen: «Passo del viver mio la primavera». Zweimal weist es selbst auf den Abend hin, einmal fühlt es sich gar von der untergehenden Sonne ermahnt, deren Bild schon im zweiten Versabschnitt proleptisch den Lebensabend evoziert (cf. vv. 39–44), aber anders als der in seiner Gegenwart lebende, stets singende Vogel, anders auch als seinesgleichen, die festlich gekleidet die Straßen füllen und fröhlich miteinander umgehen (cf. vv. 32–35), verschiebt das Ich alle Freude auf eine unbestimmte Zukunft: «Ogni diletto e gioco | Indugio in altro tempo» (v. 38sq.).

Solcher Aufschub jedoch bewirkt nicht das Glück, von dem Leopardi im Zibaldone, wo er an verschiedenen Stellen seine teoria del piacere entfaltet, schreibt, es sei nur in der Erinnerung, im Rückblick, oder in der Hoffnung darauf, in einer imaginierten Zukunft, zu haben, nie in der Gegenwart, weil es, insofern es zwangsläufig ein Streben nach unbegrenztem Glück ist, nur in der Imagination ‹verwirklicht› werden kann, hinter der die konkrete Erfüllung stets zurückbleibt. So genügt dem Ich das Treiben der festlich gekleideten jungen Menschen nicht, allein die mahnenden Strahlen der untergehenden, der sich quasi auflösenden Sonne führen ihm vor Augen, daß eine Zeit kommen wird, in der auch diese unbestimmte ‹andere Zeit›, auf die es sein erfülltes Leben verschoben hatte, Vergangenheit sein wird.

Eben diese Zukunft, in der «[s]ollazzo e riso, […] amore, […] diletto e gioco» keinen Ort und keine Zeit mehr haben werden, imaginieren die letzten Zeilen, die das Alter des Vogels und das des Ich vor Augen stellen und so vorwegnehmen: Während der Vogel dank seiner ständigen Gegenwärtigkeit auch dann seine Gegenwart hinnehmen wird, wie sie ist, nicht nach Unerreichbarem streben und sich nicht bedauernd zurückwenden – «Non ti dorrai» (v. 48) –, fürchtet das Ich die Zeit schon vorab, in der ihm die Welt leer scheinen wird, seine Augen kein Herz eines anderen mehr ansprechen werden und jeder Tag dunkler sein wird als der vorausgehende. Das einzige, was dann bleibt, ist, zu bereuen und sich zurückzuwenden, wohl wissend, daß darin kein Trost zu finden sein wird. Genau gegensätzlich also, verglichen mit dem ‹jugendlichen Irrtum› in Petrarcas Eröffnungsgedicht, dessen Ich ebenfalls im vorletzten Vers nur die Reue beim Blick auf das vergangene Leben bleibt, bereut das Ich im Passero solitario nicht, sich dem, was der Welt gefällt und doch nur leerer Schein ist, zu sehr hingegeben zu haben; es bereut vielmehr, die Jugend in der Erwartung des Aufgeschobenen nicht gelebt zu haben und sich nunmehr nur zu ihr zurückwenden zu können.

Das Tier also lebt glücklich, wie es der Elogio degli uccelli bereits vorgeführt hatte und wie die Zusammenschau der beiden Texte von anderer Warte her vorführt: Der unaufhörliche Gesang, der einem Lachen gleicht und das Leben der Vögel an das der Kinder erinnern läßt, signalisiert das ungebrochene Sein in der Gegenwart, das weder Vergangenheit noch Zukunft kennt. Das Ich hingegen lebt nur in der imaginären Vorwegnahme der Zukunft oder der Zurückwendung zur Vergangenheit; es scheint seine Gegenwart trotz des Carpe diem der untergehenden Sonne nicht zu erleben. Vielmehr besitzt es, anders als der Vogel und die Kinder, die Fähigkeit zur Reflexion, die aber, begnügt man sich mit der oberflächlichen Lesart, eher eine unheilvolle Gabe ist und einmal mehr das Tier dem Menschen entgegensetzt. Denn während das Tier einfach seiner Natur folgt und sich und diese nicht in Frage stellt – «di natura è frutto | Ogni vostra vaghezza» (v. 48sq.) –, daher auch keine künftige Zeit in Gedanken vorwegnimmt und keine gewesene bedauernd erinnert, scheint dem Ich die Gegenwart zu entgehen, scheint es sie am Ende gar verpaßt zu haben.

Aber es gibt doch etwas, was zwischen der gewesenen Jugend und dem gefürchteten Alter, zwischen erinnerter Vergangenheit und vorweggenommener Zukunft stehenbleibt, und eben dies verbindet über alle Unterschiede in gewisser Weise dann doch das singende Ich mit seinem besungenen Vogel: eben der canto, der Gesang. Hier wird die Fähigkeit zur Re-flexion, zum Zurückwenden, das «volgerommi indietro» gleichsam vom Fluch des Menschen zu seinem Segen. Zwischen der vergangenen Jugend des Ich und der noch nicht erreichten, nur vorgestellten Zukunft erklingen die Verse, wird die Klage zwar nicht erneut zu einem Elogio, zu einem Loblied, aber doch zu Musik, die vom Ende wieder an den Anfang springen kann, zu Klang, wie nicht zuletzt die Reime unterstreichen, die die Grenzen der so klaren gedanklichen Strukturierung doch wieder verwischen5.

Was sie jedoch, über das Verwischen der klaren Gliederung hinaus, vor allem bewirken, ist das unaufhörliche Weiterklingen des canto, in dem gerade nicht, wie in einer typischen Canzone, identisch gebaute, aber sonst klanglich voneinander unabhängige Strophen aneinandergereiht werden. Allein der ‑ore-Reim durchzieht das ganze Gedicht von «core» in Vers 7 über «migliore», «fiore» und «amore» bis hin zum erneuten «core» im siebtletzten Vers und verbindet so alle drei Versabschnitte. Ähnliches ließe sich zeigen für die einzelnen Teile eines jeden Abschnitts, die alle, trotz der semantischen Gegensätze, klanglich verknüpft werden, wie besonders eindrücklich der letzte Abschnitt hörbar macht, der ausgerechnet «vaghezza» und «vecchiezza», das Ersehnte und das Verabscheute, in einen Klang, in Einklang bringt und so die scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen der Welt des Vogels und der des Menschen durch das Weiterklingen schließt. Überhaupt fällt in diesem letzten Versabschnitt auf, daß im dem Vogel gewidmeten Teil nur dieser eine Vers als Brücke zum nächsten reimt, während ausgerechnet im folgenden allerletzten Teil des Gedichts nur ein einziger Vers, signifikanterweise «il dì futuro», nicht reimt, alle anderen hingegen geradezu einen klangvollen Gegen- oder zumindest einen Nebengesang, para odia, zu den offen bleibenden Fragen und zu den stumm werdenden Augen anzustimmen scheinen.

Mit anderen Worten: Der Gesang des Vogels verstummt einfach an dessen Lebensende, gleichsam naturgemäß, denn der Vogel kennt nur seine Gegenwart; der Gesang des Ich hingegen, auch wenn er sich in der Zeit entfaltet, gehorcht nicht solcher Linearität, sondern vermag in seiner Sprache, seinen Bildern, seinen Klängen die Zukunft, auch wenn aus ihr logischerweise noch nichts widerhallen kann, imaginativ vorwegzunehmen und sich erinnernd zur Vergangenheit zurückzuwenden; er klingt weiter, wie die Reimdichte am Ende belegt und wie das Ich selbst ausspricht, indem es sein eigenes «volgerommi indietro» evoziert. Statt wie die lineare Zeit und wie der Vogelgesang unaufhörlich voranzuschreiten, zeichnen sich Verse – im Unterschied zum vorwärtsdrängenden prorsus der Prosa – eben durch dieses Zurückwenden, das vertere, aus, und was sie in solchem Re-flektieren bewirken, ist, daß aus dem prosaischen Vorwärtsdrängen, aus der Linie vom Schlüpfen aus dem Ei bis zum Tod, wie sie der Elogio evoziert hatte, ein Raum entsteht, ein Klangraum, in dem – wie erinnerte Vergangenheit und vorgestellte Zukunft in der Gegenwart des Ich – alles gleichzeitig gegenwärtig sein kann, alles präsent ist und präsent bleibt, wie die weiterklingenden Bilder und Töne des Schrift gewordenen Gedichts zeigen. Und in diesem Sinn kann dann der «passero solitario», wenngleich er dank seiner Unbewußtheit in Opposition zum melancholischen Menschen steht, doch zum Analogon des Dichters oder mehr noch von dessen Gedicht werden. Denn so wie der Vogel stets in seiner Gegenwart lebt, so ist im Gedicht alles gleichzeitig gegenwärtig und erlaubt es stets von neuem, sich zurückzuwenden und wieder neu mit dem Gesang einzusetzen. Damit aber ist die vergehende und vergangene Zeit kein Grund, pessimistisch zu verstummen; vielmehr öffnet sich in solcher Re-flexion die Zeit auf ein Unendliches, wie das oben erwähnte, das berühmteste Gedicht Leopardis, L’infinito, das in der Sammlung der Canti unmittelbar und wohl kaum zufällig6 auf den Passero solitario folgt, in seinen nur 15 Versen vorführt. Wiederum entsteht das Unendliche, das hier die quasi endlos weiterklingenden, über die Versgrenzen hinweg schwingenden Verse und das unaufhörliche Hin und Her zwischen «questo» und «quello» andeuten, allein im Innern des Ich, in Reflexion und Imagination, im Nebeneinanderstellen aller Zeiten, in deren Unermeßlichkeit der Gedanke endlich Schiffbruch erleidet und untergeht. Doch dieser Schiffbruch ist ebensowenig wie das «volgerommi indietro» Grund zu pessimistischer Klage, im Gegenteil: «il naufragar m’è dolce in questo mare».

Gegen die gängige Lesart, derzufolge die letzten beiden Verse des Passero solitario ein «gelido distico»7, ein ‹eisiges Verspaar› seien, eine «conclusione disillusa», die aus der «amara consapevolezza che gli anni più maturi hanno portato» resultiere und somit eine dem Ende des Elogio degli uccelli genau entgegengesetzte «chiusa […] cupa, funebre e appesantita»8 darstelle, läßt sich dieses Gedicht folglich auch ganz anders lesen. Nicht als «Verkörperung des philosophischen Pessimismus Leopardis»9, nicht als am Schluß «explizit» ausgesprochene «pessimistische Botschaft», die den sich als «absolut» erweisenden «Pessimismus des Gedichts» noch einmal bündelte10, und schon gar nicht als Eingeständnis des Scheitern des Dichters, wie Bárberi Squarotti formuliert: Er liest die beiden letzten Verse als «dichiarazione dello scacco del poeta», für den im Angesicht der ‹Wahrheit› von Alter und Tod das Dichten sinnlos geworden sei: «la poesia finisce, nel confronto con il prezzo di vita e di giovinezza e di gioia che è costata, ad apparire vana e senza senso».11

Gewiß bezeichnet das Ich sein Sich-Zurückwenden als «sconsolato», führt doch an der Einsicht in die finitudine nach einer solchen ‹Analytik der Endlichkeit›, als die das Gedicht in Anlehnung an Foucault12 auch qualifiziert werden könnte, kein Weg vorbei, gibt es mithin keinen billigen ‹Trost› und keinen programmatischen ‹Optimismus› im Sinne der ‹besten aller möglichen Welten›; es gibt kein banales ‹positive thinking›, das die Wirklichkeit menschlichen Lebens nicht sehen und nicht wissen will, und kein selbstbetrügerisches ‹wishful thinking›, das sich über sich selbst belügt. Aber das «sconsolato», das nicht weg- und nicht schönzuredende Wissen um die Endlichkeit als conditio sine qua non der conditio humana, bewirkt gerade nicht den Verzicht auf das vertere und damit auch nicht den Verzicht auf die Poesie, im Gegenteil, ist doch der canto, ist die Dichtung letztlich die einzige Möglichkeit des Glücks13 und damit immer ein ‹Gegengesang› zum «acerbo vero» [zur «herbe[n] Wahrheit»], immer ‹anti-pessimistische Strategie› und Lebenskunst in Anbetracht gewußter Negativität: «conosciuto, ancor che tristo, | Ha i suoi diletti il vero» (Al Conte Carlo Pepoli, v. 140 und v. 151sq. [«Die Wahrheit, die man erkennt, auch wenn sie | traurig ist, hat ihre Freuden»]).

In diesem Sinne erweist sich gerade das Ende des Gedichts als zentral für das Verständnis des Textes wie der «poesia pensante» und des «pensiero poetante»14 im Werk Leopardis generell, impliziert doch das ‹volgersi indietro› in eins das poetische Moment des Verses und das philosophische der Reflexion. Zwar scheint der Passero solitario mit seinen komplexen Zeitverhältnissen zunächst der berühmten «teoria del piacere», derzufolge das Glück nicht in der Gegenwart, sondern nur in der erinnerten Vergangenheit oder der imaginativ vorweggenommenen Zukunft erfahren werden kann, geradezu antithetisch zuwiderzulaufen, insofern vom Ich dieses Gesangs die Vergangenheit vor allem als unwiederbringliche, die Zukunft vor allem wegen des Alters gefürchtet wird (cf. vv. 50–56). Doch gerade die Möglichkeit des Zurückwendens, über die der scheinbar beneidete Vogel nicht verfügt, erweist sich als Strategie, um dichtend das Gedachte zu bewältigen: Allein der canto als sich umwendendes vertere statt als vorlaufendes prorsus vermag dem Ich des Gedichts, vermag dessen Leserin und Leser wie dem poeta e pensatore als seinem ersten Leser als lebenskünstlerische Strategie zu dienen15.

Mit ihrem «Volgerommi» evoziert die Sprechinstanz des Passero solitario, evoziert das Gedicht selbst somit diese Spezifik dichterischen Sprechens, memoria und ripetizione, Erinnerung und Wiederholung zu sein, wie sie Agamben aus seiner Lektüre des Infinito entfaltet und wie sie vergleichbar für eine Lektüre des Passero solitario Gültigkeit besitzt, insofern auch hier jeder Leser und jede Leserin das «Volgerommi indietro» ebenso mit-, nach- oder überhaupt vollziehen muß, wie dort jedes sprechende oder lesende Ich dem questo allererst ‹seinen› Sinn gibt16. Wie das «Volgerommi indietro» ausspricht und wie die sich in ihrem Rhythmus stets wieder zum Anfang zurückwendenden Verse samt den Reimen, Alliterationen, Assonanzen und anderen Rekurrenzphänomenen des Passero solitario unterstreichen, führt die Lyrik geradezu ihr Spezifikum, Erinnerung und Wiederholung, immer schon erklungene und immer neu erklingende Sprache zu sein, vor:

la poesia – ogni poesia – contiene […] un elemento che avverte già sempre chi l’ascolta o ripete che l’evento di linguaggio, che è, in essa, in questione, è già stato e farà ritorno infinite volte. Questo elemento, che funziona, in qualche modo, come un super-shifter, è l’elemento metrico-musicale. […] L’elemento metrico-musicale mostra innanzitutto il verso come luogo di una memoria e di una ripetizione. Il verso (versus, da verto, atto di volgere, di far ritorno, opposto al prorsus, al procedere dirittamente della prosa) mi avverte, cioè, che queste parole sono sempre già avvenute e ritorneranno ancora, che l’istanza di parola che, in esso, ha luogo, è, pertanto, inafferrabile.17

49,60 €