Buch lesen: «Kirche», Seite 5

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Was eigentlich ist die Kirche?

Die Einladung unseres Bischofs, die Rede von den örtlichen Gemeinden in unseren synodalen Akten ernst zu nehmen, hat etwas Wesentliches in uns bewirkt. Um eine Antwort zu finden auf diese doch scheinbar recht simple Frage, brauchte es zunächst einmal Klärung in uns: Was ist eigentlich Kirche? Was braucht es, um Kirche zu sein – oder zu werden? Das genau zu beschreiben war uns eine sehr kostbare Arbeit: zum einen – und das möchte ich noch einmal betonen – um nicht aus einem rein organisatorischen Blickwinkel zu schauen, sondern eine Herangehensweise gemäß dem Evangelium zu finden. Wir haben immer wieder die Schriftstellen von der Auferstehung Christi gelesen, besonders die Geschichte der Emmaus-Jünger (Lk 24), wir haben verstanden, dass Kirche die Gemeinschaft derer ist, die Christus erkennen durch die Deutung der Schrift, durch das gemeinsame Teilhaben an der Eucharistie und in der Begegnung mit dem Bruder und der Schwester.

Keiner dieser drei Aspekte – martyria, liturgia und diaconia – darf in der Kirche fehlen. Und so sind die Dienste in den örtlichen Gemeinden entstanden – nicht als Aufgaben, die man eben erfüllen muss, sondern vielmehr als ein Ort, wo sich ein Gesicht von Kirche zeigt, in dem Christus zu erkennen ist.

Die Entfaltung dieser drei Dimensionen christlichen Lebens findet offensichtlich ihre Quelle in der Taufe. Der Ritus ist klar: nach dem Eintauchen oder Übergießen mit Wasser salbt der Priester die Stirn des Taufkandidaten mit Chrisam und sagt dabei: „Du wirst nun mit dem heiligen Chrisam gesalbt, denn du bist ein Glied des Volkes Gottes und gehörst für immer Christus an, der gesalbt ist zum Priester, König und Propheten in Ewigkeit.“

Christus ist der Priester, König und Prophet – und für die Getauften geht es darum, ihre Taufe zu leben, das heißt, Glied am Leib Christi zu bleiben. Die Versuchung besteht darin, die örtlichen Gemeinden als eine Notlösung zu sehen – auf dem Hintergrund der immer kleiner werdenden Zahl von Priestern. Das wäre aber ein großer Irrtum, eine völlig falsche Perspektive, denn es geht vielmehr um Kirchwerdung aus der Quelle der Sakramente, weil es ja Gott ist, von dem alles ausgeht. Es geht eben gerade nicht um eine neue Aufgabenverteilung, sondern wirklich um die Entfaltung der Sendung der Kirche Christi auf der Grundlage der Taufe, die uns zu Christen macht. Ich möchte Sie einladen, in dieser Perspektive über die Zukunft der Kirche nachzudenken: ausgehend von der Taufe, genährt durch die Eucharistie und bestärkt im Glauben. Das ist die lebendige Quelle unseres Glaubens.

Eine Kirche, die sich gesandt weiß

In unseren örtlichen Gemeinden gibt es ein radikales Erfordernis: Da wir von der Taufe ausgehen, und also von der Gnade, muss deutlich und klar werden, dass nicht eine Einzelne oder ein Einzelner quasi „im Besitz“ der Sendung ist. Es geht um die Sendung der Kirche selbst, d. h., wir sind als ein Leib gesendet. Das Konzil sagt es ganz deutlich: „Es besteht in der Kirche eine Verschiedenheit des Dienstes, aber eine Einheit der Sendung …“ (Apostolicam actuositatem, Nr. 2 Dekret über das Laienapostolat ). Die Erneuerung der Equipen in den örtlichen Gemeinden, die sich alle drei Jahre vollzieht, bezeugt, dass alle gerufen und gesandt sind und dass es nichts gibt, was ausschließlich „im Besitz“ eines oder einer Einzelnen wäre. Die Equipen bezeugen also, dass Glaube immer in der Dynamik des Rufens und des Sendens gelebt wird. Das ist ja auch die Erfahrung des biblischen Prophetentums – von Abraham bis Ezechiel, Moses, Jesaja oder Jeremia – und das ist auch die Erfahrung der zwölf Apostel und die der Jünger. Kirche entsteht und wird nicht aus sich heraus, sondern aus der Dynamik des Rufens und Sendens, so wie der Vater Christus gesandt hat. Glaube ist kein sanftes Ruhekissen, es geht nicht darum, Kirche einfach zu erbauen, sondern sie ist gesandt, Frucht zu bringen. Gegenwärtig denken wir in unserer Diözese über die Errichtung neuer Pfarreien nach. Dabei geht es nicht darum, Pfarreien nach altem Muster, so wie wir sie ja kennen, wieder zu errichten. Es geht vielmehr darum, die Pfarrei neu zu entdecken als provisorischen Ort (paroikos). Man könnte sagen, dass Abraham, auf der Pilgerschaft zu Gott hin, das erste „Pfarrkind“ war.

Eine Kirche der Nähe (proximité)

In der Sendung zeigt sich eine Kirche „der Nähe“, eine Kirche nahe bei den Menschen, inmitten aller ganz alltäglichen menschlichen Situationen. Hier verbindet sich die Stimme der Christen mit den Stimmen aller anderen. Mir ist aufgefallen, dass dieser Punkt bei der römischen Synode zur Neuevangelisierung noch einmal unterstrichen wurde. Das Evangelium wird nicht „aus der Ferne“ verkündet. Christus ist uns nahe gekommen. Zweifellos ist die Zeit des Fischfangs mit großen Netzen vorbei und es ist jetzt die Stunde des „Fischens mit der Angel“. Das ist natürlich aufwendiger, aber es ist unerlässlich in einer Zeit, wo das, was wir die „Krise“ nennen, viele Männer und Frauen hart trifft und sie sich unnütz oder überflüssig fühlen. Da ist es vielleicht eine frohe Botschaft, eine Gemeinde zu erfahren, die einfach ist, auch zerbrechlich, wo aber Geschwisterlichkeit, Nähe und Solidarität helfen, die Schwere der Existenz auszuhalten und wo sich Menschen rufen lassen sich zu engagieren.

Nähe zu leben in so einfacher Form spricht von der Großzügigkeit des Evangeliums. Und damit dies möglich ist, müssen wir Menschen ins Christsein rufen und so zeigen, wie „köstlich das Evangelium ist“. Wie könnten wir den Dialog zwischen Jesus und den Arbeitern der letzten Stunde vergessen: „Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?“ Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben.“ (Mt 20,6–7). Wir leben heute in einer Zeit, wo wir gut auf diese Sätze hören müssen. Frankreich ist heute sicher ein „Missionsland“, aber das darf uns nicht zu nostalgischem Rückblick verleiten, sondern es geht darum, zunächst einmal für uns selber den Glauben neu zu entdecken und ihn vorzuschlagen als Antwort auf einen Ruf.

Die Priester

Wenn wir von örtlichen Gemeinden sprechen, dann fragt man uns sehr oft nach den Priestern in diesem Kontext: Was wird aus ihnen? Werden sie nicht vergessen, wenn sich Kirche so organisiert? Ganz klar und zum Glück heißt die Antwort: Nein! Von der Taufe auszugehen, das heißt nicht, die Priester zu vergessen. Ganz im Gegenteil: wir gehen von der Gnade aus, für die der Priester Zeichen und Werkzeug in der Gemeinschaft ist. Ich möchte noch einmal Presbyterorum ordinis, Nr. 6 zitieren: „Darum obliegt es den Priestern als Erziehern im Glauben, selbst oder durch andere dafür zu sorgen, daß jeder Gläubige im Heiligen Geist angeleitet wird zur Entfaltung seiner persönlichen Berufung nach den Grundsätzen des Evangeliums (…). Noch so schöne Zeremonien und noch so blühende Vereine nutzen wenig, wenn sie nicht auf die Erziehung der Menschen zu christlicher Reife hingeordnet sind. Um diese zu fördern, sollen die Priester ihnen helfen, zu erkennen, was in den wichtigen und den alltäglichen Ereignissen von der Sache her gefordert ist und was Gott von ihnen will.“

Die Priester sind Erzieher im Glauben. Sie dienen dem Aufbau des Leibes Christi. Die Vielzahl ganz unterschiedlicher Christen sollen sie sammeln und zu einem Leib aufbauen. Damit dies gelingen kann, sind sie aufgerufen, auf jede und jeden Einzelnen zu schauen, jedem zu ermöglichen, das Beste, was sie oder er zu geben hat, hervorzubringen und es in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen.

In diesem Text findet sich auch das Wort von der Berufung. Erziehen, das heißt auch rufen, hervorrufen – es geht darum Menschen in eine Sendung zu rufen. Es geht nicht darum, alles selber zu tun, alles zu kontrollieren, sondern es geht um Ruf und Sendung. So wird deutlich, dass alle gerufen und gesandt sind und dass alle aufgefordert sind, zu rufen und zu senden.

Man kann den Dienst des Priesters nicht auf die Summe dessen reduzieren, was er tut oder was er tun darf bzw. was die Laien nicht tun dürfen. Hier lauert eine große Gefahr, nämlich die Sakramentalität der Kirche zu ignorieren und so, mit einem Schlag das Innerste des Dienstes der Priester zu zerstören. Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen.

Paulus spricht von den Presbytern als „Vätern im Glauben“. Wir haben diesen Ausdruck in unserer Synode wieder aufgenommen. Im Gegensatz zu den Vorstellungen der Welt von heute, die manchmal aus den Priestern so etwas wie kirchliche Kader machen wollen, zeigt uns dieses paulinische Bild das Herzstück des priesterlichen Dienstes. Was ist ein Vater? Vater ist der, der zeugt, aber auch der, der Wachstum ermöglicht, der seinem Kind hilft, erwachsen zu werden, und es in die Welt entlässt. Genauso steht der Priester im Dienst an der Communio. Indem er der Gemeinschaft immer wieder ins Gedächtnis ruft, worauf sie gründet, was ihr Ursprung ist, verhindert er, dass sie nur um sich selber kreist.

Formation, Bildung 2

Es ist klar, dass diese Punkte, die ich hier nur kurz angetippt habe, auch Indikatoren für unsere Formation sind. Deshalb möchte ich zum Schluss hierzu einige Aspekte benennen.

Unsere Priester werden, soweit wie möglich, gemeinsam mit den Laien ausgebildet. Sicher ist es auch erforderlich, dass sie einige spezifische Kurse absolvieren, aber nichts verhindert – vielmehr spricht alles dafür –, dass sie die gleichen theologischen Ausbildungsformate mit den Laien teilen. Nicht nur im Blick auf die Inhalte der einzelnen Kurse, sondern vor allem im Blick auf die Herangehensweise: Die große Herausforderung besteht darin, dasselbe zu hören, dieselben Erfahrungen zu teilen, zu lernen, wie man andere gut kennenlernt, besonders auch die, mit denen man gerufen ist, später zusammenzuarbeiten. Das Theologische Zentrum von Poitiers, das für die Bildung zuständig ist, öffnet die meisten seiner Kurse für alle.

Natürlich soll Formation, soll Ausbildung so genau wie möglich, so ernsthaft wie nur möglich sein. Trotzdem zielen wir aber nicht in erster Linie auf gelehrtes Wissen ab, sondern wir versuchen, so etwas wie eine Kunst im Leben des Glaubens zu entwickeln. Das impliziert eine Kohärenz des Glaubens, die nicht bloße Abfolge der Lehre von Gott ist, sondern ein organisches Ganzes. Das impliziert aber auch, dass wir uns mit der Intelligenz der Welt, in der wir leben, auseinandersetzen müssen, die Mentalitäten verstehen und die Entwicklungen in der Gesellschaft analysieren können. Glaube hat ja ganz klar auch mit dem Denken zu tun, aber vor allem und in erster Linie mit dem Leben.

Und schließlich muss die Formation uns im Evangelium verwurzeln, muss das verbinden, was wir nur allzu oft trennen: Theologie, Pastoral und geistliches Leben. Das sind nicht drei entgegengesetzte Diskurse, sondern drei Realitäten, die sich gegenseitig befruchten.

Konkret zusammengefasst: Wir zielen darauf ab, so etwas wie eine „Formation der Nähe“ zu verwirklichen. Wir gehen, meistens in kleineren Gruppen, dorthin, wo die Menschen leben. Mit ihnen schlagen wir das Evangelium auf, denken über die Haltung Jesu im jeweiligen Evangelium nach und darüber, wie uns das für unser heutiges Leben inspirieren kann. Wir versuchen, so etwas wie einen „freien Raum“ anzubieten – eine zeitliche Rückzugsmöglichkeit in einer Welt, die häufig von Aufgaben und Verpflichtungen überlastet ist.

In diesem Kontext bemühen wir uns auch darum, die Dokumente des Konzils möglichst vielen bekannt zu machen und gemeinsam über die Rezeption des Konzils nachzudenken.

Sicher ist diese Art der Formation sehr einfach: ein Abend im Monat auf die Dauer von einem oder zwei Jahren. Aber ich kann das ernsthafte Engagement jeder und jedes Einzelnen bezeugen und die Früchte, die sie bringen. Viele erzählen uns von ihrer Freude, dass sie ihre Glaubenserfahrung jetzt ins Wort bringen können, dass sie ins Innerste des Glaubens vorstoßen können. Sie sprechen von Befreiung, oft im Blick auf Kindheitserfahrungen und alte Erinnerungen an den Katechismus. Für die, die diese Ausbildung oder Schulung leiten, ist die Rede von der Befreiung wesentlich, denn sie entspricht der ersten Erfahrung der Hebräer, für die Gott vor allem der ist, der sie aus Ägypten befreit hat.

1 Aus dem Französischen von Gabriele Viecens, Dipl.-Übersetzerin.

2 Vgl. auch Eric Boone, Aus- und Weiterbildung in den örtlichen Gemeinden, in: Christian Hennecke, Dieter Tewes, Gabriele Viecens (Hg.), Kirche geht … Die Dynamik lokaler Kirchenentwicklungen, Würzburg 2013, 67–73.

Estela Padilla

„Ohne Vision verkümmert das Volk“ (Spr 29,18)1
Wege zu einer gemeinsamen Visionsentwicklung

Was ist eigentlich eine Vision? Und warum ist es so wesentlich, mit einer Vision auf dem Weg zu sein? Und schließlich: Warum reicht es nicht aus, dass jemand eine Vision hat, die er dann versucht umzusetzen? Warum braucht es vielmehr eine Vision, die in ihrem Werden und in ihrer Umsetzung von möglichst vielen geteilt wird? Das sind die Fragen, die ich zunächst klären möchte, um dann in einem zweiten Teil die konkreten Schritte der gemeinsamen Visionsentwicklung darzustellen, wie wir sie auf den Philippinen an vielen Orten gestalten und durchführen.

Die Bedeutung einer „gemeinsam geteilten Vision“ (shared vision)

Es gibt natürlich verschiedene Versuche zu beschreiben, was eine Vision ist. Zwei Aspekte möchte ich unterstreichen: Zum einen ist eine Vision ein bewusstes Träumen darüber, wie man sich eine Zukunft vorstellt, die das eigene Leben wertvoller und sinnvoller macht. Zum anderen geht es um ein inneres Bild dieser sozusagen „erträumten“ Zukunft. So kann man eine Vision vielleicht vergleichen mit einem Werbeplakat in einem Reisebüro: Das Bild zeigt die paradiesische Landschaft, das Meer, die Berge eines Reiselandes – und will damit einladen, genau dorthin zu kommen. Eine Vision will also Sehnsucht und Energie wecken, um auf ein gewünschtes Ziel zuzugehen.

Und genau deswegen ist eine Vision auch so wichtig. Ohne sie, so sagt das Buch der Sprichwörter (29,18), verkümmert eine Gemeinschaft. Sie verliert die Orientierung, sie dämmert vor sich hin – sie ist in einem Kreislauf ewiger Wiederholung und hat deswegen keine Energie für ein weitergehendes Ziel. Man kann sagen: Wenn man nicht mehr weiß, wohin man geht, wo das Ziel ist, dann ist es eigentlich egal, welchen Weg man nimmt. Mich beeindruckt deswegen der Satz der bekannten Amerikanerin Helen Keller, die selbst blind war. Als man sie fragte, was für sie schlimmer wäre, als blind zu sein, antwortete sie: „Was schlimmer ist, als blind zu sein? Sehen zu können, aber keine Vision zu haben“.

Aber es reicht nicht, eine Vision zu haben. Es geht um mehr: Wir brauchen eine Vision, die von möglichst vielen Menschen geteilt wird. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Einmal hörte ich einen Bischof sagen: „Das Bistum hat eine gemeinsame Vision, denn ich bringe meinen Leuten immer wieder und unaufhörlich meine Vision bei.“ Aber genau das ist nicht gemeint! Eine gemeinsam geteilte Vision ist eben keine mitgeteilte Vision, die man dann nur noch zu übernehmen braucht. Es geht um etwas anderes: Diese Vision will von allen geteilt werden, und dieses Teilen geht nur, wenn sie auch in allen und mit allen entsteht. Man sieht ja genau, dass es nicht funktioniert, wenn ein Pfarrer oder ein Bischof einfach seine Vision umsetzen will. Die Vision muss in den Menschen verwurzelt sein, und das geht nur, wenn sie die Vision der Leute ist – und sie sie gemeinsam entdecken und sich zu eigen machen können.

Bischof Claver, ein bekannter Theologe und Anthropologe auf den Philippinen, formuliert das so: „Ein wirklicher Wandel bei den Menschen und in den Gesellschaften wird erst dann effektiv, wenn das Volk frei und bewusst teilhaben kann an dem Visionsentwicklungsprozess, von Anfang bis Ende, wenn gemeinsam entschieden wird über Ziel, Mittel, über die konkreten Aktionen, die Verteilung der Aufgaben und ihre Durchführung – und dann gemeinsam ausgewertet wird, gemeinsam die neuen Zugänge ausprobiert werden.“ Eine Idee und ein neuer Zugang „werden nicht funktionieren, wenn sie nicht von der ganzen Gemeinschaft entwickelt und praktiziert werden, die sich selbst entsprechend dieser Vision organisiert“.2

Das gilt in besonderer Weise für die Kirche. Sie ist ja das Volk Gottes. Und eine Vision, die von den Menschen, von den Getauften her entsteht, aus ihrer alltäglichen kirchlichen Praxis heraus, gewissermaßen als von unten wachsende Ekklesiologie, wird sehr viel mehr den konkreten sozialen Kontext berücksichtigen und konkrete Antworten auf die konkreten Herausforderungen suchen (wie z. B. die Auswirkungen von Globalisierung, Pluralismus, Migration etc.).

Und das ist in der Tat unsere Erfahrung: Nichts kann Menschen so stark verbinden und ihnen Energie geben wie eine wirklich geteilte Vision. Sie macht es möglich, dass große Dinge umgesetzt werden können. Denn die Vision ist dann die Energie hinter jeder Anstrengung und die zielgerichtete Kraft, die durch alle Anstrengungen hindurch wirkt. Das gelingt, weil die Menschen spüren: Es ist unser gemeinsames Ziel, wir sind wirklich die Protagonisten und „Eigner“ dieser Vision – und so gelingt ein Miteinander und eine Zusammenarbeit im Blick auf die Verwirklichung eines gemeinsamen Ziels: Menschen fassen Mut für gemeinsame Initiativen, sie werden kreativ und versuchen neue Wege des Denkens. Sie lassen sich auf Experimente ein und sind auch bereit, Risiken auf sich zu nehmen. Mit einer gemeinsamen Vision werden alle Aktivitäten stimmig, die auf das gemeinsame Ziel ausgerichtet sind – denn sie gründen in derselben Vision.

Durch die geteilte Vision wächst ein gemeinsamer Fokus, und so entstehen Optionen und Prioritäten, die gemeinsam angegangen werden. Wenn man das große Zielbild versteht, dann gewinnen eben auch die eigenen Bemühungen einen größeren Sinn. In einer Gruppe und einer Gemeinschaft führt das dazu, dass pastorale Prioritäten gesetzt werden, die zur Erneuerung und Revitalisierung des Lebens der ganzen Pfarrei führen. Eine solche Vision ist der Ausweg aus dem richtungslosen Aktivismus, der häufig zu einem Drehen um sich selbst wird, ohne irgendwelche Ergebnisse zu erzielen.

Aber man muss unterscheiden zwischen Traum und Vision. Eine Vision hat ein konkretes Ziel, sie will umgesetzt werden und ist nicht unbestimmt. Sie ist verankert in der Wirklichkeit und wird damit ganz konkrete Zielvereinbarungen kennen. Träume sind wichtig, denn sie ermöglichen den Aufbruch, aber es ist mehr nötig, damit dieser Traum wirklich werden kann. Deswegen müssen Träume, um ernsthaft ihr visionäres Potenzial entfalten zu können, in der Wirklichkeit verwurzelt sein. Andernfalls werden sie sogar destruktiv – es sind dann Spinnereien, die uns fesseln mögen, aber nicht ins Handeln bringen.

Leidenschaft – das wesentliche Merkmal visionärer Pastoral

Oft haben Pfarreien, ja ganze Diözesen eine wirklich schöne Vision. Sie haben Leitbilder niedergelegt und veröffentlicht, die dann auch für die pastorale Planung benutzt werden – aber zuweilen werden sie dennoch nicht umgesetzt. Woran liegt das? Natürlich kann es Hunderte von Gründen geben, weswegen ein Leitbild keine Umsetzung findet. Vor allem liegt es oft daran, dass diese Visionen gar nicht wirklich gemeinsam gewachsen sind – und deswegen die Gemeinschaft der Gläubigen sie sich nicht zu eigen gemacht hat. Es kann auch daran liegen, dass die Leitung nicht glaubwürdig hinter dieser Vision steht. Es kann aber auch daran liegen, dass Strukturen fehlen oder nicht angemessen gestaltet sind, um diese Vision Fleisch werden zu lassen. Ein weiterer Grund kann darin liegen, dass die großen Ziele und Leitbilder nicht in umsetzbare kurzfristige Meilensteine umgemünzt werden. Und natürlich kann es auch daran liegen, dass einige Menschen, gerade auch aus der Leitung der Gemeinschaft, die Vision abtöten. Sofort fallen mir Beispiele ein: Da gibt es jene, die so gesättigt sind, dass sie sich gar nicht mehr auf den Weg machen wollen; es gibt die bekannte Gestalt des Bedenkenträgers, die ewigen Kritiker und auch jene, die das Misslingen vorhersagen. Hier gilt es achtsam zu sein und sich zu überlegen, wie man mit diesen Personen, die es immer und überall gibt, umgeht.

Aber vielleicht der wichtigste Faktor ist in diesem Zusammenhang einer Vision und eines Leitbildes die Frage nach der Leidenschaft. Ohne Leidenschaft ist es unmöglich, eine Vision und ein Leitbild ins Leben zu bringen. Leidenschaft antwortet auf die Frage nach dem „Warum“! Warum haben wir eine Vision, ein Leitbild? Es ist die Leidenschaft, die uns letztlich eine Vision verfolgen lässt und die dann zur Umsetzung eines Leitbildes antreibt. Ja, Leidenschaft ist so etwas wie das Blut, die Energie und der „spirit“, der eine Vision und eine Sendung durchpulsen muss.

Ohne Leidenschaft wird der ganze Weg, den wir auf ein Ziel zugehen, ein unglaublicher Kraftakt – und wir verwirklichen vielleicht einfach irgendein Projekt, irgendeinen Traum, der aber nicht unser eigener ist. Leidenschaft ist aber notwendig, denn eine Vision, die in ein Leitbild mündet, ist eine Herzensangelegenheit, und Leidenschaft ist das Herzblut, das man dafür gibt. Zuerst muss die Leidenschaft da sein, dann kann man eine Vision entfalten und sich auf einen Umsetzungsprozess einlassen.

Solche Leidenschaft ist letztlich eine Leidenschaft für Jesus, eine Leidenschaft für Gott und sein Reich der Liebe, des Friedens und der Gerechtigkeit – und also eine Leidenschaft all derer, die ihm folgen. Es geht also immer um das Reich Gottes, das Fleisch wird in der tiefen und ehrlichen Sehnsucht des Volkes nach einem guten und sinnvollen Leben, nach einer Richtung und Orientierung für das alltägliche Leben und zugleich um die tiefen Sehnsüchte, die in jedem Menschen eingewurzelt sind.

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