Buch lesen: «einfach unverschämt zuversichtlich», Seite 5

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Das Bilderverbot – biblischer Massstab der Würdigung Gottes und des Menschen

Die gleichursprüngliche Erschaffung des weiblichen und männlichen Menschen zum Bild Gottes fordert eine geschlechtergerechte Metaphorik im personalen Reden von Gott. Liefert die Gottesbildlichkeit als zentrales Motiv einer biblischen Anthropologie das Sachargument gegen eine (einseitige) Verdeutschung von kavod und doxa mit «Herrlichkeit», so tritt ihr das Bilderverbot als Kriterium eines angemessenen Redens von Gott zur Seite: «Du sollst dir kein Bild machen» (Ex 20,4–6; Dtn 4,16ff.; 5,8–10). Denn Gott hat sich selbst im Menschen Sein und Ihr Bild erschaffen, so dass sich in der Begegnung mit den Mitmenschen Bilder Gottes einstellen, die wir nicht herstellen können und dürfen. Die Vielfältigkeit der Bilder Gottes, die wir in der Begegnung mit den von Gott selbst gemachten Bildern, den Mitmenschen, wahrnehmen, lässt uns das Bilderverbot neu verstehen: «Du sollst dir kein = nicht ein Bild von Gott machen.» Wer sich nur ein (einseitiges) Bild von Gott macht, bildet sich ein, Gott zu kennen, über Gott im Bilde zu sein und darum auch rasch mit Gott fertig werden zu können.

Das Bilderverbot wahrt die Freiheit Gottes, indem es der Verfügung über Gott in der menschlichen Einbildung wehrt. «Herrlichkeit» verstösst als einseitige Wiedergabe von kavod und doxa gegen das Bilderverbot. Dieses fordert, den semantischen Reichtum der gewichtigsten Beziehungsweisen Gottes wiederzuentdecken: Gewicht, Schwere, Bedeutung, Würde, Wucht, Ehre, Ansehen, Glanz, Schönheit, Anmut, Klarheit, Pracht … und damit Motive, die eine geschlechterduale Identifizierung hinter sich lassen (vgl. Gal 3,28).

Gott Gewicht geben – Gott segnen

«Nicht uns, Gott, nicht uns, sondern deinem Namen gib kavod» – mit dieser Bitte beginnt der Psalm 115. Und er mündet in die bekenntnishafte Selbstverpflichtung: «Wir aber, wir wollen Jah segnen – von nun an und für immer: Hallelu-Jah!» (V18). Aus der doppelten Verneinung der BeterInnen am Anfang des Psalms ist am Ende ein emphatisches «wir aber, wir» geworden. Gott gibt dem eigenen Namen Gewicht, indem die Betenden diesen Namen segnen, ein Hallelu-Jah auf ihn einstimmen. Das dem Namen Gottes alle Ehre machende Wirken Gottes und Tun der Menschen liegen ineinander, denn die Menschen können nur deshalb Gott segnen und so dem Namen Gottes Ansehen verleihen, weil sie selbst von Gott Gesegnete sind (vgl. V12f.15). |52| Als Gesegnete sind sie selbst segensfähig; als von Gott Angestrahlte (vgl. Num 6,25) reflektieren sie Gottes Glanz.

Der Begriff «Kavodologie» ist ein Pendant zu «Doxologie», das den Sinnüberschuss der Hebräischen Bibel aufnimmt. Die intensivste Form des Gotteslobs, das die Bibel kennt, ist das Gottsegnen.18 Wie «Fluchen» (qallel) ein Leichtnehmen und Geringschätzen ist, so macht der Segen bedeutungsschwer. Psalm 115 zeigt eindrücklich wie im menschlichen Gottsegnen – frei von Konkurrenz, frei zur Kooperation – Gott und Mensch einander Gewicht geben.

Erschienen in FAMA 4/2008: «Gewicht»

Beziehungsweise …

Einige kritische Anmerkungen zu relationalen Gottesvorstellungen

Gisela Matthiae

Der Mensch ist keine Insel und Gott kein unberührbares, fernes, allmächtiges und allwissendes Wesen. Auch wenn die Inselträume einen immer wieder einholen und Gott in den allermeisten Gottesdiensten immer noch als Herr, König, Herrscher, Richter und Vater angesprochen wird. Nein, Freiheit als Unabhängigkeit und Autonomie gilt nicht mehr als menschliches Entwicklungsideal und als vornehmste göttliche Eigenschaft. Denn längst hat nicht nur feministische Kritik genau darin Hauptmerkmale einer patriarchalen Ordnung entlarvt. Das Ideal von Freiheit verstanden als Unabhängigkeit und Autonomie konnte bislang nur auf den Mann in seiner Entsprechung zu einem männlichen Gott zutreffen – und zwar nur solange wie Frauen die ausgeblendeten Facetten dieser Konstruktion ausfüllten: das Dasein für andere, die Unterordnung in der Rolle des Objekts und der Anderen des Mannes. |53|

Beziehungsreiches Sein

Donna Haraway, eine US-amerikanische Technologiewissenschaftlerin, nannte diese Ideologie den «God-trick» – eine vermeintlich objektive, körperlose, nicht situationsgebundene Perspektive von oben auf die Dinge, von denen man annimmt, dass sie auf diese Art beherrscht werden können.19 Aber sie lassen sich nicht beherrschen. Und Frauen beanspruchen ihrerseits längst einen Subjektstatus. Subjekt wird aber heute verstanden als beziehungsreiche Grösse. Der Mensch, auch der Mann, lebt in einem Geflecht von Beziehungen und Abhängigkeiten, die die eigenen Entscheidungen und das Handeln massgeblich beeinflussen und auch beeinflussen sollen. Eine Ethik, die sich nicht daran orientiert, droht in eine abstrakte Normativität abzudriften, etwa wenn Fragen des Embryonenschutzes ohne die konkreten Erfahrungen von Frauen behandelt werden. Ökologische Verantwortung berücksichtigt die Folgen jedes Handelns für die gesamte Schöpfung, Tiere, Pflanzen und Menschen, und das nicht nur in der unmittelbaren Umgebung. Eine Ökonomie der Bezogenheit orientiert sich nicht am totalen Markt und dem Gewinnstreben einzelner Grosskonzerne, sondern immer noch an den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit.20

Das so verstandene Subjekt nimmt Abschied von kontextlosen und geschichtsübergreifenden Allgemeingültigkeiten. Es setzt auf dialogische Prozesse, auf Demokratie, auf Veränderbarkeit auch der eigenen Identität und schliesst Irrtum und selbst Scheitern mit ein. Feministische Analyse macht allerdings auch auf die Brüchigkeiten weiblicher Subjektivität in den bestehenden Verhältnissen aufmerksam. Nomadisierend zwischen herrschenden Zuschreibungen von FrauGeliebteMutter und eigenen Wegen, weibliche Existenz zu leben, versucht Frau, quer zu Normen, Klischees und Rollenerwartungen, die weiblichen Muster nicht erneut zu bedienen – allenfalls mitunter aus taktischen Motiven –, sie letztlich aber aus den Angeln zu heben.

Gott als «Macht in Beziehung»

Es liegt nahe, dass die Veränderung des Subjektbegriffs auch zu einer Veränderung von Gottesvorstellungen führt. Bereits die Trinitätslehre benennt Gott nicht als einsames, sondern als dreieiniges Sein. Und so wie es zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist ein Beziehungsverhältnis gibt, ist auch das Wirken Gottes nach aussen beziehungsreich, kommunikativ und lebendig: durch die Schöpfung, durch einen Mensch gewordenen Gott, durch Gott als Leben und Gemeinschaft stiftendes Wirken. Und so kennt doch auch die klassische Theologie Bezogenheit als tief verankert im Gottesgedanken. Doch die Trinitätslehre vermittelt sich nicht so einfach, zumal alle drei göttlichen «Personen» immer noch als männlich gedacht werden und die Vorstellung des einen Vater-Gottes alles andere stets überschattet hat. |54|

Die feministische Theologie hat dieses Modell bislang noch kaum für sich entdeckt, aber einzelne Aspekte daraus übernommen und verändert. So wurde z. B. stark die Bezogenheit von Jesus und seinen Mitmenschen in dem Begriff der «Gegenseitigkeit» (Moltmann-Wendel) herausgestellt. Darauf aufbauend hat Carter Heyward bereits in den 1980er Jahren ihre sehr bekannt gewordene Definition von Gott als «Macht in Beziehung» entwickelt. Bis heute stellt sie ein wirksames und wichtiges Gottessymbol dar, das Gott nicht als ein Gegenüber zum Menschen versteht, sondern Gott selbst in den menschlichen Beziehungen ansiedelt. Gott ist nicht mehr eine Macht über uns, sondern «eine Macht unter uns, eine Macht, die wir teilen».21 Diese Macht ist nicht irgendeine, sondern inhaltlich bestimmt als Gerechtigkeit. Da, wo Menschen gerecht handeln, in liebevollen und gerechten Beziehungen miteinander leben, da sind sie wie Gott bzw. handeln sie göttlich. Aus dem Subjekt Gott wurde hier das Verb «to god» als der angemessene Ausdruck für das göttliche Wirken unter uns Menschen. Es ist letztlich eine menschliche Tat. Heyward erinnert in ihren Ausführungen daran, dass wir Frauen alle bereits diese Macht oder Energie gespürt haben: bei Protesten, in politischen Aktionen, in der gemeinsamen Arbeit, im gemeinschaftlichen Lernen, in Freundschaften, in der Liebe. «Göttliches Wesen treibt uns, sehnt sich nach uns, bewegt sich in uns und durch uns und mit uns, indem wir uns selbst als Menschen erkennen und lieben lernen, die von Grund auf in Beziehung stehen und nicht allein sind.»22 Wir haben also bereits unsere Macht in Beziehung erlangt, und sie ist es wert, Gott genannt zu werden.

Diesseitig und abhängig

Heyward gelingt es in ihrer Gottesdefinition, uns Menschen, besonders uns Frauen, aus einer Defizitposition herauszuholen. Was wir bereits erfahren und tun, darf göttlich genannt werden. Das Verständnis von Sünde wird hier geradezu auf den Kopf gestellt. Nicht das Sein-Wollen-wie-Gott ist Sünde, sondern ganz im Gegenteil wird genau dazu aufgefordert. Von Sünde kann nur dann die Rede sein, wenn Beziehungen nicht gerecht sind, wenn sie zerstört sind oder zerstört werden. Die Bestimmung von Gott als «Macht in Beziehung» ist ausserdem nicht mehr vereinbar mit der klassischen Unterordnung des Menschen – und besonders der Frau – unter Gott und der unheilvollen Verknüpfung von Liebe und Gehorsam. Denn Liebe ist gar nicht anders denkbar und lebbar als in gegenseitiger Abhängigkeit. Und so sind auch Gottesliebe und Nächstenliebe nicht mehr voneinander zu trennen, ja sie sind ununterscheidbar. Aus einem jenseitigen, allmächtigen Gott ist ein ganz diesseitiger Gott geworden, der letztlich über keine Macht verfügt, die über das hinausginge, was Menschen selbst tun. Und wiederum erfahren Menschen Gott nur in ihren gerechten |55| Beziehungen und in ihrem gerechten Tun. «Wir erfahren Gott gemeinsam oder gar nicht.»23 Solche Erfahrungen können zugleich als Wahrheitskriterium für die Existenz Gottes angesehen werden.

Aus einer Abhängigkeit der Menschen von Gott ist hier umgekehrt eine Abhängigkeit Gottes von den Menschen geworden. Heyward bezieht diese Gedanken auch auf die Erlösung. Sie ist in dem Masse verwirklicht, als wir bereit sind, Liebe und Gerechtigkeit in dieser Welt zu verwirklichen. Der Glaube wird ganz folgerichtig zu einer ethischen Handlungsweise, die Theologie zur Ethik, denn eine Rede von Gott jenseits menschlicher Praxis erübrigt sich.

Der Sinn einer Unterscheidung von Gott und Mensch

Etwas abschätzig nennt man es Immanentismus, wenn sich der Himmel in die Erde hinein auflöst, Gott zum Menschen wird, auch wenn hier die Latte sehr hoch gehängt wird, nämlich als gerechtes, gemeinschaftliches Handeln. Doch so ganz scheint auch Heyward nicht von der Vorstellung eines göttlichen Gegenübers abweichen zu wollen. Dafür sprechen Stellen, an denen sie betont, dass wir gerade nicht mit Gott identifiziert werden sollen oder zusammen mit Gott daran beteiligt sind, Gerechtigkeit in unsere Welt zu bringen.24 An verschiedenen Stellen wird deutlich, dass es neben Gott als Macht in Beziehung auch eine Beziehung zu Gott gibt.

Doch wie ist das zu verstehen? Ist dieses göttliche Gegenüber dann wie eine Freundin oder Geliebte zu verstehen, wie es ja auch in einigen Ansätzen vertreten wird?25 Ist sie darin aber, so wie gute Freundinnen es schliesslich sind, auch eine von mir und meinem Tun unabhängige Grösse?

Ich halte die alte theologische Unterscheidung von Gott und Mensch, von Trans­zendenz und Immanenz immer noch für unverzichtbar, und mir scheint, dass auch Carter Heyward in gewisser Weise daran festhält. Denn würde es sich ansonsten nicht völlig erübrigen, überhaupt noch von Gott zu sprechen? Wenn das Göttliche nichts weiter wäre als das, was wir selbst tun? Die Kritik an dem ungebundenen, absoluten göttlichen Sein mündet bei diesem Ansatz in dessen völliger Auflösung. An seine Stelle treten der Mensch bzw. menschliche, gerechte Beziehungen. Obwohl dieser Ansatz unsere eigenen Erfahrungen, Fähigkeiten und Visionen stärkt und fördert, hat er zugleich etwas Gnadenloses. Ich meine, dass diese Gottesdefinition auch eine völlige Überforderung und Überhöhung von Menschen darstellt. Denn was geschieht, wenn es uns nicht gelingt, in gerechten Beziehungen zu leben und Gerechtigkeit zu schaffen? Was, wenn wir uns nicht einmal als eingebunden in ein gutes Beziehungsnetz erleben? Müssen Frauen sich dann nicht wieder als defizitär erleben? Denn im |56| schlimmsten Fall verwirken sie nicht nur ihr Menschsein, sondern auch noch ihr Göttlichsein.

Der Sinn einer Unterscheidung von Gott und Mensch liegt auch darin, dass das Göttliche mir Erfahrungen ermöglicht, die ich aus mir selbst gerade nicht machen würde. Es wäre doch unendlich langweilig, wenn wir – bei aller Mannigfaltigkeit der Beziehungen – immer nur um uns selbst kreisen würden. Ich erwarte von Gott Überraschungen, die mich mir selbst fremd werden lassen, um auf diese Weise Befreiung von üblichen Routinen zu finden. Und ich erwarte, dass ich auch in meinem Tun scheitern werde und scheitern darf. Ein Ansatz, der aber einzig auf gelingendes Handeln bezogen ist, kann das Versagen nicht mehr reflektieren. Bei aller Vermenschlichung gerät diese Gottesdefinition schliesslich zu einer unmenschlichen Theologie.

Unerwartete Clownin Gott

Problematisch erscheint mir aber auch der Beziehungsgedanke selbst. Die Pflege sozialer Beziehungen gehörte immer schon in den Zuständigkeitsbereich von Frauen. Überspitzt gefragt: Wird hier nicht weibliches Sozialverhalten zur Definition Gottes erhoben? Beziehungen sind so vielfältig wie Menschen selbst, sie werden in Familien anders gelebt, als in Institutionen und Konzernen, anders von Männern als von Frauen. Ohne Differenzierung gerät Gott als Macht in Beziehung nur wieder zu einer Bestätigung der herrschenden Geschlechterordnung anstatt aus ihr zu befreien. Meines Erachtens bedarf es dazu Gottesvorstellungen, die aus einer geschlechtlichen Engführung herausfinden und die Seins- und Handlungsmöglichkeiten auf allen Gebieten, privat und öffentlich, erweitern. Dazu gehören Gottesvorstellungen, die uns in unserem Tun nicht nur bestätigen, sondern auch herausfordern. Ich halte fest an einem Gott der Fremdheit, der Irritation, des Unerwarteten und des Unverwertbaren. Um nicht selbst immer wieder das grammatikalische männliche Geschlecht dafür zu nutzen, habe ich von der «Clownin Gott» gesprochen.26 Es ist eigentlich Unsinn, denn Clowns sind sowieso schon geschlechterübergreifend, mal männlich, mal weiblich. Da sie aber immer noch häufiger von Männern gespielt werden und die androzentrische Gottesrede korrigiert werden soll, spreche ich von der Clownin. Es ist eine Metapher, die allerlei Assoziationen freisetzt. Clowns sind Figuren des Staunens und der Liebe zum Leben, weshalb sie es intensiv und in allen Facetten ausprobieren. Sie scheitern regelmässig damit, denn sie wollen die herrschenden Regeln weder lernen noch beherzigen. Doch jedes Scheitern eröffnet wieder neue kreative Möglichkeiten. Ihr Blick ist der vom Rand auf die Mitte, weshalb sie immer gut sind für eine kritische Analyse und Umgestaltung der Verhältnisse. Darin sehe ich göttliches Wirken am Werk. Freilich trifft es uns in aller unserer Bezogenheit, ohne diese |57| selbst zu einem Kriterium zu erheben. Und es ist ein Wirken, das wir selbst fortsetzen können – in clownesker menschlicher Existenz.

Erschienen in FAMA 2/2003: «Intimität»

SternMenschen

Jacqueline Sonego Mettner

Ich gehöre offenbar zu den Menschen, die Gott brauchen und die annehmen, dass Gott sie braucht. Es ist meine Kraft.

Ich brauche Gott vor allem, um Mut und Grossmut zu lernen und um meinen Glauben an die Sternengrösse der Menschen nicht zu verlieren. Rose Ausländer schreibt davon:

Die Menschen

Immer sind es / die Menschen

Du weisst es

Ihr Herz / ist ein kleiner Stern

der die Erde / beleuchtet27

Rose Ausländer

Ich weiss und erfahre – Gott sei Dank – dass es immer Menschen sind, durch die ich den Grossmut, die Weite, den Zorn und die Liebe Gottes lerne und erfahre. Gott hat keine andern Hände, Augen, Lippen, Herzen, Füsse als die unsern. Das ist oft wunderbar: Die kleinen Füsse meiner Tochter in meiner Hand, das Aufblitzen von Schalk und Leben in den Augen einer alten Frau, das Berührtwerden von Jugendlichen durch Ungerechtigkeit und der beginnende Eifer, etwas dagegen zu tun. Es sind immer Menschen und trotzdem brauche ich Gott, dem ich die Güte zutrauen kann, wenn ich sonst nur noch Verrat sehe.

Ich brauche Gott über meine Erfahrung hinaus als einen ohnmächtig-mächtigen Grund, der trägt, wo Menschen versagen, sich versagen, wo Bosheit, Neid, Missgunst, |58| ungelebtes Leben alles versanden lässt, alles zudeckt, alles nichtig und lächerlich macht, alles zersetzt in eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Ich brauche Gott, um die Schönheit, das Bleibende, das, was gemeint war, die Würde menschlicher Bedürftigkeit vollmundig und vollmächtig behaupten zu können und ich brauche Gott, damit ich dafür nicht blind werde, sondern die Kostbarkeit, das Heitere und das Rührende des Lebens immer neu und anders sehen kann.

Ich brauche das Aufgestörtwerden aus meiner Bequemlichkeit, meiner Einrichtung in tausend scheinbaren und wirklichen Verpflichtungen, in Ablenkungen von meinem eigenen Leben. Ich brauche Gottes Empörung und Untröstlichkeit über das Unrecht, die Lüge, die Gewalt und die Zerstörungen dieser Welt. Ich brauche seinen Schmerz über den Missbrauch ihres Namens, damit ich mich weder einlullen lasse durch ein harmloses Geschwätz von einem niedlichen, kleingehackten Gott noch mich einschüchtern lasse durch das imperiale Gerede von der «richtigen» Christlichkeit im Fürwahrhalten von dogmatischen Leerformeln wie Jesus-Christus-Gottes-Sohn-Herrscher-der-Welt-Erlöser-von-der-Sünde.

Gott, die tröstet und getröstet werden will

Ich vertraue darauf, dass «für Gott Sucher die wichtigsten Menschen sind» (H. D. Hüsch). Einen Christus als Imperator brauche ich nicht, aber mit Jesus lebe ich als dem Gewährsmann für Gottes Güte und Gerechtigkeit, für ihre mächtig-ohnmächtige Passion für alle und mit allen Entrechteten und Gequälten. Ich weiss, dass es immer die Menschen sind, durch die Gott wirkt. Trotzdem möchte ich Gott bitten dürfen für die Kranken, für die Sterbenden, für die Toten, für die Trauernden, für die Fremden, für die Kinder, für die Alten, für die Verlassenen und für die Aufbrechenden, für die entrechteten und gedemütigten Frauen und Männer, für die hirnverbrannten Männer und Frauen, für die geschändete Erde. Ich möchte mich in Gottes Arme werfen können auch wenn kein Mensch da ist, der hilft. Ich möchte von Gott getröstet werden und zugleich wissen, dass es Gott ist, die den Trost braucht, mindestens so sehr.

Näfäsch – die Kehle

Ich will Gott loben und singen. Dass das hebräische Wort für Seele näfäsch auch die Kehle bezeichnet, hat mich schon immer berührt. Im Weinen, im Schreien, in der Sprache, im Schweigen, im Gesang, im Essen und Trinken, im Hunger und im Durst geschieht für mich vielfältig Gott.

Ich singe Gott, ihr allein zur Ehre, und finde mich dabei befreit von mir selbst, vom bedrückenden Staub der Schwermut, der sich manchmal auf die Sinne zu legen und alles zu verstopfen droht.

Von Gott kommt keine ohne Auftrag zurück. Ich empfinde dies als wahr. Als oft ängstlicher Mensch hilft mir Gott, mich nicht zu ducken, sondern für ihr Recht zu streiten. Wunderbar ausgedrückt von Hilde Domin: |59|

Ich will einen Streifen Papier

so gross wie ich

ein Meter sechzig

darauf ein Gedicht

das schreit

sowie einer vorübergeht

schreit in schwarzen Buchstaben

das etwas Unmögliches verlangt

Zivilcourage zum Beispiel

diesen Mut den kein Tier hat

Mit-Schmerz zum Beispiel

Solidarität statt Herde

Fremd-Worte

heimisch zu machen im Tun

Mensch

Tier das Zivilcourage hat

Mensch

Tier das den Mit-Schmerz kennt

Tier

das Gedichte schreibt

Gedicht

das Unmögliches verlangt

von jedem der vorbeigeht

dringend

unabweisbar

als rufe es

«Trink Coca-Cola»28

Hilde Domin

Kein Wort von Gott in diesem Gedicht, aber für mich ist es pure Gottesrede, Gott als das Fremd-Wort, das heimisch werden will in unserm Tun. Grossmütig, unserer Verführbarkeit eingedenk mit Schalk und hoffentlich Barmherzigkeit, aber unerbittlich, nichts Geringeres fordernd und hoffend als unsere Stern-Menschlichkeit.

Erschienen in FAMA 1/1998: «Gott oh Gott»

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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