Buch lesen: «Rundgang nur mit Korb», Seite 7

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»Guten Abend, Frau Müller. Entschuldigen Sie die Störung.« Sie winkte ab: »Sie haben gar nicht gestört. Wollten Sie zu meinem Mann oder zu mir?«

»Eigentlich gern zu Ihnen, wenn wir Ihre Hilfe noch einmal in Anspruch nehmen können.«

»Na dann ist es ja gut. Mein Mann ist mal wieder beim Fußball. Schiedsrichter. Und immer beschäftigt. Was kann ich denn für Sie tun?«

»Wir haben jetzt fast alles zusammen um unseren Sockel zu mauern. Nur keinen Zement. Ich war schon im Hauptlager am Bahnhof, dort wo das große Silo steht, nur der Genosse, der dafür zuständig ist, hatte für uns keinen Zement übrig.« Sie wurde neugierig: »Wie sah der denn aus?«

»Na groß, wenig Haare und sehr wichtig.«

»Ach der alte Bunge. Ach so, na das wundert mich nicht. Aber den können wir bestimmt übergehen.«

»Wirklich? Und wie?«

»Also, ich mache mal Folgendes: Ich bestelle dem Genossen Schulze, Hans Schulze so beiläufig einen schönen Gruß und erzähle von Ihnen. Wenn der ein bisschen Zement übrig hat, dann stellt er was für Sie zur Seite. Lassen Sie mir mal eine Woche Zeit und versuchen Sie es dann noch mal.«

»Sie sind ein Engel, Frau Müller, vielen Dank.« Sie kam nah zu ihm und flüsterte: »Das mit dem Engel erklären Sie mal meinem Mann.«

»Mache ich gern. Sie helfen uns ja wirklich mehr als genug.«

»Schon gut. Aber eine Garantie kann ich Ihnen auch nicht geben. In Berlin bauen die gerade so viel, dass der Zement bei uns nur noch kleckerweise ankommt. Das Silo ist nach der Füllung oftmals auch nur halb voll. Sie brauchen also wie überall Geduld und einen langen Atem.«

»Wir versuchen unser Glück.« entgegnete Axel entschlossen und fasste wieder neuen Mut.

7. Kapitel
WASSER MARSCH

Sie fuhren nach Wittenberg. Diesmal hatte Axel statt seiner Familie seinen Gartenfreund Christoph Filkert geladen. Der leere Anhänger tanzte wieder hinter dem Trabant her. Es entstanden die gleichen Bilder wie am Freitagnachmittag. Zwei Männer besetzten die vorderen Sitze. Zwei Männer in ungewisser Erwartung. Die Spannung knisterte und die Radiobox unterhalb des Handschuhfachs spielte die Musik nur für sich selber. Die Männer waren zu konzentriert, um sich den Melodien zu widmen.

»Hast du eine Idee, wo die Wasserleitung bei uns liegen kann? Ich habe nämlich schon mal nachgesehen und bisher nichts gefunden.« Axel sah kurz zu Christoph Filkert rüber. »Na, normalerweise sind die Leitungen an der Grundstücksgrenze in Richtung Haupteingang verlegt worden. Also müsste die bei euch zum Garten von Mitschorin liegen. So in etwa in der Mitte.«

»So weit bin ich mit dem Umgraben noch nicht.«

»Du würdest wahrscheinlich auch nur ein zugeschraubtes Rohrende in der Erde finden. Aber gelegt wurde es überall.«

»Dann werde ich beim nächsten Mal mit dem Spaten auf die Suchen gehen.«

*

Der Trabant hielt an der gleichen Stelle wie am letzten Freitag. Die beiden Männer stiegen aus, betraten die BHG und nahmen sich einen Drahtkorb vom aufgetürmten Stapel weg. »Na, dann wollen wir mal sehen.« Mit diesen Worten verschwand Christoph Filkert zwischen den Regalen. Axel folgte ihm und einen Augenblick später standen sie vor den letzten fünf gekrümmten und fast astlosen Obstbäumen, die die BHG noch zum Verkauf anbot. »Da kannst du mal sehen, wie schnell die Botschaft von eingetroffenen Ostgehölzen die Runde macht.«

»Sollen wir die jetzt trotzdem mitnehmen, auch wenn sie nicht so toll aussehen?« Axel war unsicher und ärgerte sich über sich selbst, dass er nicht schon am letzten Freitag die Bäume gekauft hatte. »Wie viele Bäume benötigst du denn?« Christoph dachte nach: »Fünf durch zwei geht nicht genau auf, oder?«

»Da hat ja jemand gut in Mathe aufgepasst. Aber ich denke, dass ich ja schon ein paar Kirschbäume stehen habe. Also kannst du alle haben.«

»Na, du bist ja mutig, wenn du das, was du in deinem Garten hast, als Bäume bezeichnest. Wie viele Kirschen haben sie denn getragen?«

»Na gar nichts. Aber wenn man sie gut schneidet?«

»Dann kann mal wieder was draus werden. Aber Axel, Obstbäume kann man niemals genug haben. Du kannst das Obst erntefrisch essen oder für den Winter einwecken. Also nimm wenigstens zwei von diesen Besenstielen. Denn ob die was bringen, kann noch niemand sagen.«

»Kannst du erkennen, was das überhaupt für eine Sorte ist?« Christoph schlich um die Stiele herum: »Apfelbäume vermutlich, oder Birnen. Aber das ist ja fast egal. Sie müssen nur anwachsen, dann kann man sie sowieso noch veredeln.«

Sie gingen noch eine Runde. Axel kaufte einen Wasserhahn und legte einen Gartenschlauch und eine Wassertonne zur Seite. »Das hätten wir. Dann lass uns fahren. Fenster und Türen sind nämlich noch nicht da. Kein Wunder, wir haben ja am Freitag erst eine Bestellung aufgegeben.« Christoph Filkert bremste: »Moment noch. Ich überlege gerade, wie du den Wasserhahn anbringen kannst, dass er in die Wassertonne tropft. Aber ich glaube, ein Stückchen Rohr mit Gewinde und Hanf zum Abdichten habe ich noch im Schuppen.«

»Siehst du, das hätte ich auch schon wieder vergessen.«

»Und wie willst du deine Gasbetonsteine eigentlich vermauern?« Axel war überrascht: »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

»Da hinten liegt nämlich säckeweise Porenbetonkleber, mit dem man Gasbetonsteine verkleben kann. Das hält gut zusammen. Und du musst dir um die Fugenhöhe keine Gedanken machen, denn der Kleber wird ganz dünn aufgetragen. Nimm mal noch sechs Säcke mit, dann hast du genug. Eigentlich reichen fünf, aber sicher ist sicher.« Axel war schon wieder verblüfft: »Ich werde zukünftig nur noch mit dir einkaufen gehen.«

*

»Wo können wir denn das ganze Zeug lassen?« Axel schaltete in den vierten Gang und gab wieder Gas, als sie das Ortsausgangsschild von Wittenberg passiert hatten. »Also die Bäume sollten am besten sofort in die Erde, damit sie noch zügig ein paar Wurzeln ansetzen. Die Wassertonne kannst du zu uns legen und die Säcke …« Christoph grübelte » … die Säcke sind ganz schön sperrig. Und wo willst du denn mit den Fenstern und den Türen hin?«

»Das ist eine gute Frage.« Christoph Filkert hatte einen Einfall: »Wir fahren beim alten Summke vorbei. Der hat genug Platz und über Besuch freut der sich doch auch immer.«

»Können wir das einfach so machen?«

»Wir können ja mal gucken, ob er da ist.«

*

»Ernst?« Die Stimme von Christoph Filkert verhallte an der Eingangstür. Die Gardinen hinter dem Küchenfenster bewegten sich. Ernst Summkes Gesicht zeichnete sich ab. Ein Lächeln wuchs auf seinen Lippen: »Wer hat euch denn hierher geschickt?«

»Wir kommen aus freien Stücken.« Christoph Filkert hob die Hand zum Gruß und nach ein paar Augenblicken öffnete sich die Eingangstür. Sie traten ins Haus und kamen schließlich in der Küche zum Sitzen. »Können wir bei dir ein paar Sachen für Axels Laube unterstellen. Er hat noch keinen Platz und unser Geräteschuppen ist übervoll.« Der Alte wippte mit seinem Kopf, was wohl so etwas wie Zustimmung bedeuten sollte: »Ich habe dir gleich gesagt, dass ihr größer bauen sollt.«

»Aber glaubst du wirklich, dass wir dann mehr Platz hätten?«

»Das stimmt auch wieder, je kleiner das Haus, desto weniger Zeug schleppt man da rein. Also von mir aus geht das alles in Ordnung. Ich freue mich ja über Besuch und wenn dein Freund nicht wäre, hätte ich dich wahrscheinlich erst zu Weihnachten wieder zu Gesicht bekommen. Du hättest ein schmerzverzerrtes Gesicht angedeutet und Besserung gelobt.« Er wendete sich Axel zu: »Eigentlich muss ich dir danken, dass du eine Laube baust.«

»Wenn das der positive Nebeneffekt ist, dann haben wir ja alle gewonnen.«

Christoph drängelte ein bisschen: »Los, lass und wenigstens die Bäume noch einpflanzen bevor es dunkel wird.« Axel gab sich einen Ruck. Sie bedankten sich, schüttelten dem alten, aufgewühlten Summke die Hände und fuhren mit halber Last weiter in die Gartensparte Karl Liebknecht.

*

Die neuen Bäume standen gerade wie zwei Zinnsoldaten bei der Wachablösung. Das war eine Freude. Die erste Freude des heutigen Feierabends. Weniger erfreulich war der verunkrautete Boden. Er lag schwer wie Blei auf dem Spaten und wollte sich nicht umgraben lassen. Das Unkraut ließ sich nicht ziehen. Axel sortierte mit den Händen aus jedem gegrabenen Erdklumpen das unerwünschte Wurzelwerk. Die größeren Kieselsteine warf er auf das Fundament. Er war müde, denn die Arbeit im Kombinat hatte ihn heute geschafft. Konferenz. Parteiversammlung. Und am Nachmittag wieder in der dröhnenden Werkhalle. Er hatte sich heute fehl am Platz gefühlt. Die kleinen warums und wozus zwickten ihn wie eine zu enge Hose. Hatte er die richtige Arbeit ergriffen? Warum war er nicht Lehrer geworden? Oder beim Militär geblieben? Warum musste er unbedingt ins Werkzeugmaschinenkombinat? Seine Gedanken kräuselten sich wie der Rauch aus einem Schornstein. Was wäre, wenn sie ihn in Neubrandenburg behalten hätten? Das wäre was. Oder erschien es jetzt nur so gut, weil es abgeschlossen und weit entfernt war? Seine Hände waren kalt und dreckig. Er hatte keine Lust mehr. Sollte er nach Hause gehen? Dann würde er hier nicht vorankommen. Und die Arbeit an der frischen Luft war besser, als tatenlos in der Stube zu hocken. Die frische Luft vertrieb die dunklen Gedanken. Gerade heute. Er beschloss, weiterzumachen. Aber etwas leichter musste er sich die Arbeit schon gestalten. Vielleicht ging es mit der Grabegabel besser. Er entschied sich, zu Christoph Filkert zu gehen. Ein Gespräch unter Gartenkollegen würde ihm neuen Auftrieb geben. Dann wüsste er wieder, dass er nicht umsonst hierher gekommen war.

*

Christoph Filkert goss mit einer großen Gießkanne flüssigen Dünger über seine Beete. »Grüß dich Axel.« Er freute sich über den Besuch. »Hallo mein Freund.« Christoph schüttelte den Kopf: »Irgendwie ist das heute ein komischer Tag. Mir ist so, als ob ich krank werden würde, aber mir tut nichts weh, außer der Kopf. Und das bei solch einem schönem Wetter.« Das tat Axel gut: »Wem sagst du das. Ich weiß es auch nicht. Ein seltsamer Tag.« Christoph stellte die leere Kanne ab: »Vielleicht ist es das Wetter.« Axel stimmte mit einem Kopfnicken zu. »Kann ich mir mal meine Grabegabel ausborgen? Vielleicht komme ich dann besser mit einem verwilderten Unkrautboden zurecht.«

»Sie liegt noch da, wo wir sie neulich hingelegt haben. Du kannst sie dir holen.« »Danke.«

»Ach Axel, weißt du was? Soll ich mal nach meinem Stückchen Rohrleitung sehen? Dann könnten wir dir eine Wasserzapfstelle einrichten.«

»Irgendwie wäre mir das auch lieber als weiter umzugraben.« Christoph holte mit seinen Armen Schwung: »Na dann geht es jetzt los.«

Ein paar Minuten später hatten sie das Leitungsrohr gefunden und alle übrigen Werkzeuge und Baumaterialien in Christophs Schubkarre gelegt. Dann verschwand Christoph noch einmal in der Laube und kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Er legte die Flaschen auf den Hanfbeutel, damit sie bei einem möglichen Zusammenstoß nicht zerplatzen konnten. »Erfolgsprämie!« fügte Christoph mit einem breiten Lächeln hinzu. »Der Mensch braucht einen Anreiz, damit er Leistung bringt.«

*

Sie suchten nach der Wasserleitung. Christoph stand an der Grundstücksgrenze und stach mit dem Spaten in die Erde. »Hier irgendwo müsste sie sein.«

»Wahrscheinlich ist sie tief eingelassen, dass wir sie nicht einfach so finden können.«

»Lass es uns mal in der Mitte versuchen, denn da stehen bei allen die Wassertonnen, also muss dort auch das Ende sein.«

»Und das sollte ja möglichst überirdisch liegen.« Christoph freute sich: »Ich komme mir vor wie ein Archäologe.«

»Tja, in Pompeji haben sie auch Wasserleitungen gefunden.«

»Allerdings diese sind von weltgeschichtlichem Interesse.«

»Aber wir haben doch viel mehr davon, wenn bei uns das Wasser fließt. Was können wir uns denn dafür kaufen, wenn die alten Römer dort unten das Wasser gebändigt hatten?«

»Hier, Axel, hier ist es.« Christoph Filkert grub mit den Händen die Erde um das Ende eines beschmutzten und mit einem Abschluss verschraubten Stücken Wasserrohr. »Das Abschlussteil haben sie drumgeschraubt, damit kein Sand in die Öffnung kommt.«

Axel schippte mit dem Spaten eine kleine Grube, sodass das Rohr jetzt frei in der Luft hing. »Steht die Leitung eigentlich unter Druck?«

»Und wie. Wenn wir dir einen Wasserzugang anbringen wollen, muss ich erst mal im Pumpenhaus das Wasser abstellen.«

Christoph Filkert verschwand in Richtung Pumpenhaus. Nach fünf Minuten standen sie vor der Öffnung und Axel schraubte die Abdeckung ab. Es tropfte nur noch eine kleine Pfütze in die Grube. Sie umwickelten das Gewinde mit Hanf und schraubten das Rohr, das senkrecht in die Höhe zeigte, fest. Dann drehte Christoph den Wasserhahn um die eigene Achse und zog ihn an. »Unter den Wasserhahn kannst du dann mal deine Wassertonne stellen.«

»Aber nicht mehr heute. Wenn das jetzt mit dem Wasser klappen sollte, dann haben wir für heute genug erreicht.«

Christoph verschwand in Richtung Pumpenhaus und als er wieder da war, entstand die feierliche Spannung wie bei einer Schiffstaufe. »Links um!« kommandierte Christoph und Axel drehte am senkrechten Stift auf dem Wasserhahn.

»Wasser Marsch!« setzte er hinzu. In der Wasserleitung gab es ein großes Poltern. Der Wasserhahn spuckte Luft und Wasser aus. Als er sich beruhigt hatte, lief das Wasser gleichmäßig wie aus einer Quelle in einem feinen Strahl auf den ausgetretenen Erdboden und machte die Fußabdrücke der beiden Männer unkenntlich.

»Stapellauf geglückt!« Christoph holte die zwei Bierflaschen aus der Schubkarre. »Ay ay Käpt`n!« Axel führte seine rechte Handfläche an die Schläfe und stand stramm wie ein Marinesoldat.

Die Bierflaschen stießen aneinander und die beiden Männer tranken auf das erfolgreiche Ende eines Tages, der für beide bis dahin wenig zufriedenstellend verlaufen war.

»Wo kommst du denn jetzt her?« Gerdas scharfe Stimme durchdrang ihn bis ins Knochenmark. »Du gehst nach der Arbeit nur mal für zwei Stunden umgraben. Hast du mal auf die Uhr geschaut? Die zwei Stunden sind bald dreimal um.« Er trat näher und bemerkte ihre roten Augen. Sie hatte geweint. »Axel, so geht das nicht. Ich habe auch meine Arbeit und brauche am Abend ein wenig Entspannung.«

»Ich habe mit Filkert unsere Wasseranlage aufgebaut. Wir haben jetzt fließend Wasser im Garten.« Sie war zu einer Versöhnung bereit als sie auf ihn zukam. Dann bemerkte sie seinen Bierdunst. »Ach ja, dass ich mich hier um den Haushalt kümmere muss ich nicht extra erwähnen, oder? Aber dass der Herr noch genügend Zeit findet, um Bier zu trinken, während seine treu sorgende Ehefrau mit den Kindern spielt, Hausaufgaben kontrolliert und sie in den Schlaf wiegt, das hat keine Relevanz.« Er wollte sie beruhigen und gab sich Mühe, besonders weich zu reden. »Ich mache das doch nicht nur für mich. Irgendwie möchte ich dir auch gern etwas bieten, damit du hier einen schönen Garten bekommst. Und das geht jetzt nun mal nur, wenn ich da bin und schufte.«

»Und das Biertrinken ist auch harte Arbeit?«

»Nein.« Er machte einen Schritt zurück. »Nein, das ist keine harte Arbeit gewesen. Aber Christoph hat mir echt gut geholfen uns das nicht zum ersten Mal. Wir wären lange noch nicht soweit, wenn wir ihn und die anderen Gartenkollegen nicht hätten.« Sie antwortete nicht und zeigte auch keine anderweitige Reaktion. »Außerdem habe ich mit meiner Arbeit auch genug zu tun. Und immer wieder mal abhauen, um in der BHG nach irgendwelchen Materialien zu sehen ist auch kein Kinderspiel. Und zusätzlich tut mir vom vielen Umgraben auch der Rücken weh. Und letztendlich möchte ich nur, dass wir es hier schön haben.« Jetzt gab sie ihre Anspannung auf. Sie drückte ihn fest an sich und strich ihn über das Haar. »Du kannst mal nachsehen, ob Heiko noch wach ist. Er hat heute im Diktat eine Eins bekommen. Er war den ganzen Abend aufgewühlt, rannte mit dem Heft durch die Wohnung und hat immerzu nach dir gefragt. Er wollte die Freude unbedingt mit seinem Vater teilen.« Axel öffnete die Tür zu Heikos Kinderzimmer. Das Licht der Korridorbeleuchtung holte einen kleinen Ausschnitt vom Kleiderschrank aus der Dunkelheit. Heiko schlief. Er atmete in tiefen Zügen und die Bettdecke hob und senkte sich gleichmäßig. Neben dem Kopfkissen lag sein aufgeschlagenes Diktatheft. Axel küsste ihn auf seine warme Stirn. »Schlaf gut, mein Held. Ich bin stolz auf dich.«

*

Die Werkhalle war heute leerer und leiser. Es wurde weniger Staub durch die Umgebung gewirbelt. Ein paar Kollegen hatten sich krank gemeldet und es entstanden Leerläufe in der Fertigungskette. In das Getriebe der sozialistischen Produktion waren einige Sandkörner geraten. Der Motor stotterte, aber er lief.

Als Axel sein Büro betrat, fand er einen Gartengrill der Marke Eigenbau vor. Er begutachtete die Schweißnähte und stellte fest, dass seine Kollegen gute Arbeit geleistet hatten. Dieser Anblick erfreute ihn doppelt. Erstens hatte er sich einen guten Stand bei seinen Mitarbeitern erarbeitet und zweitens konnten sie jetzt immer grillen, sobald sich etwas Fleisch oder Wurst auftreiben ließ.

Er setzte sich an seinem Schreibtisch und bearbeitete ein paar Unterlagen. Danach wollte er wieder zu seinen Kollegen gehen und die Schwachstellen überbrücken. Er lehnte sich einen Moment zurück. Er dachte nach. Heute fand er seine Position gar nicht mehr so schlecht. Es ging doch. Es machte ihm Freude, zu organisieren, Berichte zu schreiben und trotzdem bei der Arbeit dabei zu sein. Ein Bindeglied zwischen Betriebsleitung und Basis. Zwischen oben und unten. Er dachte an Gerda und die Kinder. Wenn es Winter wird, wird er sich mehr um seine Familie kümmern können. Er würde zwar hier und da etwas beschaffen müssen, aber sonst könnte er zu Hause sein. Das würde allen gut tun. Aber jetzt wird er noch was tun können, tun müssen. Und wenn Gerda dann die ersten Radieschen geerntet hat, wird sie ihm für seine Zielstrebigkeit schon dankbar sein.

Es klopfte an der Tür. Axel hatte nicht bemerkt, dass jemand an seinem großen Bürofenster vorbeilief. Er zuckte zusammen und beschloss so sitzen zu bleiben, wie die ganze Zeit. Er hatte die letzte Monatsauswertung noch vor sich liegen. Er konnte den Eindruck machen, als ob er über eine Zahl oder eine Angabe nachdachte.

»Herein.« Er hörte seine eigene Stimme als gestresst. »Genosse Weber?« Die Tür öffnete sich und die Sekretärin Frau Petersohn stand in der Tür. Langsam kroch der Fliederduft in Axels Nase. »Ja Frau Petersohn, nehmen Sie doch Platz. Ich brauche noch einen kleinen Moment.« Er tat so, als schließe er seine Begutachtung ab und riss sich dann von dem Papier los. »Entschuldigung, aber ich hatte die Auswertung gerade in den letzten Zügen bearbeitet.« Sie lächelte: »Sie sahen auch sehr konzentriert aus.«

»Immer im Dienst und immer bereit für die gute Sache.«

»Dann habe ich vielleicht auch was Gutes für Sie.« Er lehnte sich nach vorn »Jetzt bin ich gespannt.«

»Ich soll Ihnen liebe Grüße von meinem Mann bestellen. Als Sie damals die Gasbetonsteine abgeholt hatten, hat er Ihnen was versprochen.« Axel durchforstete seine Gedanken. Es fehlte ihm die Erinnerung. Sie war wie fortgeblasen. »Versprochen?«

»Ja, und zwar wollte er Ihnen mitteilen, wann ein Transport Gehwegplatten in die nähere Umgebung geliefert wird. Sie brauchen doch noch einen schönen Gartenweg, oder?« Die Erinnerung schlug ein wie ein Blitz. Er klatschte sich mit dem Handballen gegen die Stirn. »Natürlich, die Platten. Wir hatten drüber gesprochen. Aber es ist momentan so viel zu erledigen und an so viel zu denken, dass ich die Geschichte mit den Gehwegplatten fast verdrängt hatte.« Frau Petersohn entgegnete stolz: »Dafür haben Sie ja meinen Mann. Der denkt für Sie mit.«

»Wann und wo können wir denn unser Glück versuchen?«

»Morgen Vormittag fährt ein LKW nach Eilenburg. So bis zum Nachmittag haben die Kollegen ausgeladen und ab 16 Uhr wird die BHG wieder geöffnet sein.«

»Also sollte ich jemanden um halb vier dorthin schicken, damit er noch einen Korb für den Rundgang bekommt?«

»Sie können doch auch selber um drei hier Feierabend machen und hinfahren.« War das jetzt ein Test, wie er zu seiner Arbeit stand? Er konnte aus ihrem Gesicht keine Reaktion ablesen. Frau Petersohn war immerhin die Sekretärin des Kombinatsleiters. Und wenn er bei dem erst einmal als Faulenzer bekannt war, dann würde er es schwer haben. Er entschied sich, lieber vorsichtig zu sein: »Aber wir müssen doch bis um vier arbeiten. Ich kann doch nicht schon um drei gehen.« Frau Petersohn schüttelte den Kopf: »Also Herr Weber, Ihre Motivation in allen Ehren, aber jeder braucht doch mal was und die besten Gelegenheiten bieten sich doch sowieso immer in der Arbeitszeit.« Er täuschte Widerstand gegen ihre Aussage vor: »Aber Frau Petersohn, es fehlen doch sowieso schon so viele Leute in meiner Halle. Da kann doch der Montageleiter nicht noch blau machen.«

»Ach glauben Sie es mir Genosse Weber, die Kollegen der Brigade freuen sich auch mal über ein bisschen Windstille.« Er beschloss, noch einen Versuch zu starten: »Und die Produktion?«

»Privat geht doch vor Katastrophe, oder?« Er seufzte tief und Frau Petersohn sollte spüren, wie sehr er mit sich rang. »Also gut, aber nur mit schlechtem Gewissen.«

»Machen Sie sich in die Spur. So eine Möglichkeit kommt vielleicht nicht so schnell wieder?«

Als Frau Petersohn gegangen war, resümierte er den Dialog. ›Ob sie mir die Zurückhaltung abgekauft hat?‹ Er bewertete seinen Auftritt als überzeugend. Jetzt musste er Krugmann finden.

*

»Kann ich mir morgen deinen Anhänger ausborgen?« Er schüttelte den Kopf und sagte mitfühlend: »Den habe ich meinem Vater ausgeliehen. Er muss sich auch was besorgen. Tut mir wirklich leid, alter Freund.«

»Weißt du, ob Filkert einen Anhänger hat?«

»Der borgt sich den auch immer bei mir.«

»Naja, dann muss ich mal so weiterschauen.«

*

Axel beschloss, in der Mittagspause zu Gerda in den Kindergarten zu fahren. Er brauchte ihre Mithilfe bei der Beschaffung eines Anhängers. Seine blaue Simson rollte durch die Stadt und er fühlte sich frei. Als ob die Sorgen dem Tempo der Straße nicht folgen konnten. Er und das Moped. Eine gute Verbindung. Das Motorengeheul war das einzige Geräusch, was seine Ohren erreichte. Er rollte die Simson auf den Fußgängerweg und parkte direkt vor dem Kindergarten. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Die Mittagspause war kurz.

»Hallo Papa.« Jana lief die Treppen und ihm direkt in die Arme. »Mama hat gesagt, ich muss heute keinen Mittagsschlaf im Kindergarten machen. Ich darf mit nach Hause kommen.« Er kniete sich zu ihr hinunter: »Na, das ist ja eine tolle Nachricht. Hast du denn schön gespielt?«

»Ja, erst haben wir uns versteckt und dann eine Sonne gebastelt.«

»Und kann ich die denn mal sehen?«

»Nein, die ist noch nicht fertig.«

»Na dann warte ich eben, bis du sie mit nach Hause bringst.«

»Ich muss der Sonne nur noch ein Gesicht malen.«

»Ach so, na dann bin ich mal gespannt.«

»Das kannst du auch sein.«

»Wo ist denn die Mama?« Jana drehte sich um und zeigte auf die Eingangstür:

»Die ist noch da drin. Sie muss noch mit Frau Richter sprechen. Aber dann gehen wir nach Hause.«

»Wollen wir denn auch noch mal reingehen?«

»Aber meine Sonne zeige ich dir noch nicht. Sonst ist es doch keine Überraschung mehr.«

»Na gut.« Er nahm sie auf den Arm. Ihre blonden Zöpfe schaukelten. Er öffnete die Tür und beide betraten eine andere Welt. Ein Paradies für die Kinder. Spielsachen. Kinderbilder an der Wand. Kleine Schuhe. Kleine Jacken. Bunt bemalte Türen und Fenster.

»Was machst du denn hier?« Gerda löste sich aus der Unterredung mit einer etwas älteren Dame, die dem Anschein nach die Leiterin Frau Richter sein musste. »Ja, ich wollte euch mal besuchen und Jana hat mir verraten, dass du noch hier drin bist.«

»Darf ich dir Frau Richter vorstellen. Das ist mein Mann.« Frau Richter, eine kleine, kinderliebe und über die Maßen mitreißende Frau ergriff seine Hand.

»Sie haben eine nette Frau und eine nette Tochter, Herr Weber.«

»Das ist alles eine Sache der Erziehung.« antwortete er belustigend und Frau Richter verstand es richtig. »Ihre Frau ist gut aufgehoben in unserer Sportgruppe und sie erzählt immer mit ganzem Stolz, wie gut ihr Mann auf die Kinder aufpassen kann. Vielleicht ist das ja auch eine Sache der richtigen Erziehung.« Jetzt lachten alle drei.

Auf dem Weg nach draußen zog Gerda Axel am Arm: »Ich bekomme eine Festanstellung. Ich kann ab dem nächsten Monat immer vormittags kommen.«

»Glückwunsch. Aber was ändert sich denn jetzt eigentlich? Du bist doch sowieso immer da.«

»Ja schon, aber jetzt hat es Frau Richter durchgesetzt, dass ich offiziell angestellt bin und nicht nur eine Daueraushilfe.«

»Da hast du aber wirklich eine nette Chefin abgekriegt.«

»Ich kann mich nicht beklagen.«

Sein Blick wurde verbindlich: »Gerda, ich habe heute erfahren, dass morgen eine Lieferung Steinplatten nach Eilenburg in die BHG geht. Mit denen könnten wir uns einen Gehweg pflastern. Und wenn wir genug haben sogar noch eine Terrasse vor die Laube.« Gerda war bemüht, einen freundlichen Ton anzuschlagen. Sie hatte aus der gestrigen Auseinandersetzung auch gelernt: »Das klingt ja auch gut.«

»Wir haben nur ein Problem: Krugmann hat seinen Anhänger verborgt und wenn ich morgen Glück haben sollte, kann ich die Platten nicht transportieren.«

»Ach Axel, ich kümmere mich darum. Ich frage gleich noch mal Frau Richter. Vielleicht hat die eine Idee. Und du machst dich jetzt wieder auf den Weg. Sonst überziehst du die Mittagspause.«

Er setzte sich auf die Simson. »Papa, kommst du nicht mit nach Hause?«

»Nein mein Schatz, Papa muss noch mal auf die Arbeit fahren.«

»Aber bleib nicht mehr so lange.« Er nickte, zündete den Motor, stieß eine graue Rauchwolke aus dem Auspuffrohr, rollte auf die Straße und fuhr davon.

*

Am Abend erwartete ihn Gerda schon aufgeregt an der Tür. »Du kannst den Anhänger von Knorrichs haben. Frau Richter wusste gleich, dass sie einen haben. Ich habe auch schon geklingelt und mit Herrn Knorrich ausgemacht, dass du ihn morgen früh an seiner Garage abholen kannst. Er wartet zehn nach halb sieben vor dem Haus auf dich. Dann könnt ihr gemeinsam zur Garage fahren.«

»Du bist ein Schatz, Gerda.« Sie war stolz über das Lob: »Wir müssen doch zusammenhalten.« Das Laubenbaufieber hatte offensichtlich auch sie gepackt.

*

Axel saß in seinem Büro und sah auf die Uhr. Halb drei. Noch war Zeit. Er würde etwa 20 Minuten bis nach Eilenburg brauchen. Den Weg hatte ihm Karl Knorrich heute früh erklärt, als sie den Anhänger geholt hatten. ›Sieh dich mal um, was es sonst noch gibt.‹ hatte er ihm mit auf den Weg gegeben. Er hoffte, dass niemand mehr was von ihm wollte. Dann hätte er sich überlegen müssen, ob er hier bliebe und seine Arbeit machte oder weiter seinen Garten verschönerte. Aber bis jetzt kam niemand. Wenn er seinen Kollegen Bescheid gibt, dann schirmen die ihn schon jetzt ab. Er hatte irgendwie kein richtig gutes Gefühl. Mit Krugmann zusammen an die frische Luft zu gehen, das war für ihn kein Problem. Dann wären es Krugmann und er gewesen. Und Krugmann kannte die Leute. Er saß fest im Sattel. Aber er? Er war ja immer noch der Neue. Solange bis jemand noch Neueres kam. Dann wusste er besser Bescheid, wie die Dinge hier laufen. Sollte er die Platten einfach sausen lassen? Vielleicht gab es ja auch gar keine mehr, wenn er ankam. Wann kam denn schon mal jemand zu ihm? Wer wollte denn etwas, dass nur er beantworten konnte? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Und wenn er zu spät kam? Er hatte sich festgedacht. Er vertrieb die Hirngespinste, indem er aufstand, den Kollegen Krisch informierte, dass er an der frischen Luft sei und erst morgen wiederkomme. Der Kollege Krisch nickte aufmunternd. ›War doch gar nicht so schwer‹, dachte er, als er auf dem Parkplatz stand. Ein frischer Wind verwehte die nachmittägliche Schwüle. Die Pappeläste spielten mit ihren Blättern. Er stieg in den Trabant und fuhr los.

*

Vor der BHG stand eine lange Schlange. Es warteten mindestens fünfunddreißig Männer mit versteinerten Minen hier, die wie er nach Glück fischten. ›Zumindest der Informationsfluss funktioniert‹ dachte Axel. Er rechnete nach, wie viele Platten auf einen LKW passten und wie viele Platten jeder mitnehmen dürfte. Er rechnete auch schon den Bestand ab, der hinter dem Ladentisch verschwinden würde. ›Es dürfte reichen. Und wenn es nur die Hälfte wäre, dann hat sich der Weg trotzdem gelohnt.‹ Er konnte erahnen, was auf dem Schild in der Eingangstür stand: »Wegen Warenannahme geschlossen.« Das hieß immer was Gutes. Es lohnte sich, anzustehen.

Er dachte über die Leute nach, die sich hinter ihm eingefunden hatten. ›Die haben noch schlechtere Karten als ich.‹ Er sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde war bereits vergangen. Er hatte keine Lust mit irgendjemandem zu erzählen und sich so die Zeit zu vertreiben. Niemand redete in der Schlange. Jeder sah nach vorn und hoffte darauf, dass das Schild umgedreht wurde. Die Erlösung. Die Lüftung des Geheimnisses. Und wenn es nichts gab, dann hatte man es wenigstens versucht. Und alle die, die heute was kriegen, die stehen beim nächsten Mal nicht wieder hier an.

Unruhe kam auf. Das Schild wurde abgenommen. Die Tür öffnete sich und die Menschenschlange drängte in die kleine Hausöffnung. ›Jetzt kommt es drauf an.‹ Eine Weile rührte sich nichts. Alle Körbe waren in Benutzung. Nach zehn Minuten entstand eine Gegenbewegung. Die ersten Männer kamen raus. Mit leeren Händen. Jetzt entstand doch Gerede. »So ein Blödsinn.« regte sich ein Mann auf, der einen ganz roten Kopf bekam. »Die lassen uns hier anstehen und in dem Glauben, sie hätten hier Ware angenommen, aber die ist ja nur für Bestellungen draufgegangen. Ich sag euch was, die behalten die Platten alle für sich.« Andere Stimmen wurden laut: »Angeblich war der LKW nur halbvoll. In Berlin braucht man die Platten jetzt eher als hier – im Niemandsland. Als ob wir hier Nichts zu bedeuten hätten.« Die Schlange vor dem Eingang blieb stehen. Jeder wollte sich selber davon überzeugen, dass es keine Platten gab. Allerdings dauerte es nicht mehr so lange, bis die Leute wieder herauskamen. Dann war Axel an der Reihe. Er griff nach einem leeren Korb, den ihm jemand am Ausgang mit den Worten »Kannst du vergessen« hinstreckte. Er lief durch die Reihen. Sie waren wie leergefegt. Das Neonlicht versendete eine kühle Atmosphäre. Die Luft war gesättigt mit Adrenalin. Einige Verkäuferinnen bellten die verzweifelten Kundengesuche zurück. ›Heute gibt es hier keinen Blumentopf zu gewinnen‹ dachte er und verließ das Geschäft. Er stellte seinen Korb auf die fünf anderen Körbe, die jetzt schon niemand mehr haben wollte.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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