Animus oder Die Seele eines Stärkeren

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Nik Morgen

Animus oder Die Seele eines Stärkeren

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Abfärben

“Adventsnacht”

Aloe

Androhungen

aries

Arme

attached

Attacke

Auf der rechten Seite des Todes

Balkonszene

Bart

Bauch

Begegnung mit dem Captain (und dem Trikot-Team)

Bitte um Intervention

Blumenbeethoven

Broccione

Brust

Brustöffnung

cancer

Chiron und der vierte König

Christophorus

Das Fehlen nach dem Abschied

Das Glück im Bett

Das Haus

Das Krippenspiel

Den Sonntag beichten

Den Thorax leihen

Der Bulgare

Der Darsteller (und sein Stück)

Der Diener seines Sohnes

Der Dozent im Kirchengrundriss

Der Engel

Der Geringere

Der Häftling

Der König schaut rein

Der Lichtschacht

Der schöne Verletzte

Der Schutzkämpfer

Der Sieg des Löwen

Der Spiegel (im Nacken)

Der Traum vom Fussgelenk

Der verliebte Junge

Die Beichte des Oberst

Die Eigenschaften des Königs

Die Farbe der Wandlung

Die Hand in der Faust

Die Kiste

Die Last ist leicht

Die Liebesfalle

Die Muschel

Die Plage

Die Seele des Bären

(Die Suche nach) AIDAN

Die Taufe

Die Verwandlung der Kentauren

Die zwanzig Stufen

“Doppel”

eerie

Ein Engel zum Freund

„Ein love-mail“

Einmal die Rolle gespielt

Ein Topf Honig

“Ein wirksamer Umgang”

Energien

Engel in die Nacht

Er

Erschaffen

Erstbegegnung

Erste Härten

Erwachsenenkleid

„Erwägungen eines Einsamen“

Festbrauch

Fingerkommunion

Flügelschlag

“Freunde werden”

Füsse

Gebet

Gebet eines Waschbärs

Gebet für die Schwangere

Gebet für einen Schatten

Gemeinsame Siesta

gemini

Geschlecht

Gespräch mit dem Baumeister

Götter der Antike und der Mann am Kreuz

Hals

Harnisch

Heiraten

Hephaistos

Herz

Hilfe und Not

Hilfsversuche

Im Fluss

Im Strafraum

“Jesus”

Johann Sebastian Bach

Jungpriester-Segnung

Keim

Kleiner Engel ii

Knie

Kohle im Bauch

“Konstellationen”

Kopf

 

Kopien

Körperflammen

Kräfte lösen

Lenden

Liebe

Lieblingslehrer

Männer

Mars‘ Backenzahn

“Mein Tagebuch”

„Mythen“

Nackt

Nemo

Oberschenkel

Ohne Titel

Perlenraub

Pilatus

”Portal”

Proletarier

Rabe Erbarmen

Rev. Gerry Rian

Risiko tut Not

Salomo

“Seelsorger”

Sichtbar werden

Sie leuchten nachts

“Sie sind ein Dom“

Siegerpodest

So sein wie mein Vater

Solidarisch

“Spurensuche”

suCHESTive

„Tantra?“

Taufbilder

taurus

Tote Pferde

Trab

Transit

Umarmen

US Gospel

Vaters Erbe

“Verliebt”

Verluste

Vogelhochzeit

Waden

Weihrauch anstelle eines Spiegels

Weinen

Wundöffnung

“Zug”

Zurück in Vaters Schoss

Zu wenig Zeit

Impressum neobooks

Vorwort

**irgendwo/**irgendwann/**irgendwie

Lieber Josef

Dir ist dieses Buch gewidmet. Nicht weil der Verfasser es so will, nicht weil du gefragt wurdest, nicht weil ich dich kenne. Sondern einzig aus dem Grund, weil du...

Was immer ich erlebt habe von alle dem, was hier geschrieben steht. Was immer für Abbildungen gewählt wurden, um es zu illustrieren oder mich zu desillusionieren... Nie hab ich mich dir nur auf Sichtweite genähert. Nie hab ich ungefähr getroffen, wie du wirklich bist. Oder wie es sich verhält, wenn du die unsichtbaren Moleküle das Tanzen lehrst, sobald du in den Raum trittst.

Ich entbehre dich schmerzlich; ich habe dich zu kurz. Du bleibst unfassbar, frei – wie ich dich beneide! Und einsam?

Dies ist also einzig der Grund, weshalb dir dieses Buch gewidmet ist. Weil du niemandem nur Gott gehörst, ja nicht einmal dir selber, obwohl du in dir atmest, dich in dir bewegst, dich zu dir hin begibst, und immer da bist - ganz weit weg. Und weil mit dir immer alles so paradox gewesen ist, deshalb soll dir dieses Buch gehören. Hab Nachsicht mit ihm. Es ist voller Mängel. Kein Wunder, allein und ohne dein Wissen.

Aber damit uns doch etwas gemeinsam ist, hab ich dir seinen Namen gegeben.

Mein Animus

Abfärben

S lag lange da, schwer wie ein Bilderhaus, wie ein riesiges Gemälde, welches anzusehen mich froh machte. Er stellte mir pragmatische, auf tätiges Handeln hin orientierte Fragen, auf die ich nur indirekt über die Bilder zu entgegnen wusste, was er nicht verstand. Ich habe dann versucht, ihn an einen fruchtbaren Ort zu bringen, wo pragmatische Menschen leben. Ich band mir seine schweren Glieder um, aber er war zu gross und wir fielen beide hin. Wieder versuchte ich ihn eine Strecke zu tragen, ich spürte auf mir die Segensstellen, die auf dem Gemälde wie eine Öffnung gegen das Unendliche ausgesehen haben, und es gab mir Kraft. Dennoch konnte ich mit meiner Postur wenig ausrichten. Da merkte ich, wie er von mir hinabgeglitten war und auf eigenen Füssen ging, ja mich dabei unter den Arm genommen hat und trug. All seine Bilder färbten so auf mich; sie öffneten mir das Herz und machten mich weit wie das Land.

“Adventsnacht”

Lieber Pater K

Darf ich Ihnen wieder einmal schreiben? Ich schreibe Ihnen öfters, ohne dass Sie es wissen, und richte meine Tagebucheinträge an Sie.

Im Moment beschäftigt mich so vieles. Mein Inneres ist aufgewühlt, wie schon oft in meiner Vergangenheit. Darf ich Ihnen die Umstände schildern?

Die Crux der ganzen Geschichte ist die Liebe. Eben bin ich einem Menschen wieder-begegnet, der mir bewusst macht, wie ausgehungert ich mich beziehungsmässig fühle. Und das obwohl ich nun schon seit einigen Jahren enge Freundschaften pflege. Dieser Mann, er kommt aus Bulgarien, hat mir auch weniger einen gegenwärtigen Stand aufgezeichnet als vielmehr ein Defizit, welches ich seit früher Kindheit entwickelt habe. Er spiegelt mir so sehr die Fülle eines satten Beziehungsbedürfnisses, dass seine Ausstrahlung mich richtiggehend überflutet und ich kaum nach Luft schnappen kann. Dabei ist nichts anderes zwischen uns vorgefallen als eine Wiederbegegnung ohne Berührung.

Vor ungefähr zwei Jahren, ich müsste im Tagebuch zurückblättern um den genauen Zeitpunkt auszumachen, hat er seine Anstellung in der Klinik begonnen. Ich erinnere mich an jene Pause, die ich mit einem Teamkollegen im Garten der Cafeteria verbracht habe – und er entfernt allein unter einem Vordach sass. Mein Herz strömte über, ich weiss es klingt kitschig, aber ich kann die Empfindung nicht anders wiedergeben. Es war mir, als wäre ein Heiliger gegenwärtig. (Ich habe meine Auffassung von „Heiligen“ inzwischen in Abhebung von der katholischen Lehre für mich gefunden: Es sind dies schlichtweg Menschen, unvollkommen wie sie sein mögen, die ich liebe und deren Ausstrahlung mich heilsam berührt. Es erübrigt sich, Ihnen zu sagen, dass auch Sie, seitdem ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, für mich ein Heiliger sind.) Natürlich musste ich mich nach diesem Ereignis eingehend mit Christus über ihn unterhalten. Ich fragte Ihn, was es für mich bedeute, wenn die Klinik nun plötzlich, was vorher nicht der Fall war, ein Herz und eine Seele hat.

Sie müssen sich ihn klein und untersetzt und sehr kräftig vorstellen, ruhig, behutsam, natürlich. Ein freundliches, ernstes Gesicht und ein dünner, schwarzer Haarkranz, fast wie eine mönchische Tonsur. Wie ich erst gestern herausfand war er vor zwei Jahren erst 23, er ist aber bereits Vater von zwei Kindern, die heute sechs und zwei Jahre alt sind.

Dieser Kinder willen war er eine Woche später zur Nachtschicht angetreten, und war seither aus meinem Blickfeld verschwunden, ohne dass ich darauf reagieren konnte. Ich hab ihn nicht mehr gesehen und langsam vergessen. Nicht ganz allerdings. Einmal machte ich den Versuch, auf dem Schriftweg an seine Geburtsdaten zu kommen, um sein Horoskop deuten zu können. Er hat aber nicht darauf reagiert, was ich als einen Entscheid gegen eine private Kontaktaufahme auffasste und respektierte. Ausserdem hab ich einen Hörspieltext begonnen, in welchem ich ihm meine Verfehlungen gegen jedes der zehn Gebote bekenne und ihm die Rolle eines Gesandten Gottes, nämlich eines Engels, zuweis. Aber davon weiss er natürlich nichts.

Wegen eines Krankheitsfalles war ich nun angefragt worden, zwei Nachtschichten zu übernehmen. Der gute Gott (wer sonst?) hat es so arrangiert, dass ich die erste von zwei Nächten noch ohne ihn arbeiten und mich an den fremden Ablauf und die Gäste gewöhnen konnte. In der zweiten Nacht aber würde er erscheinen, passend im Advent. Am Abend vorher (das Schlafen am Tag hat nur halbwegs funktioniert) war ich vollkommen aus dem Häuschen. Ich musste Gott ins Gewissen reden, was ich in einem Tagebucheintrag festhielt. Und dann kam die Nacht. Ich habe mich nicht getäuscht. Er hatte seine ganze Bedeutung für mich erhalten. Ja, der Eindruck, den er auf mich machte, war noch grösser als in meiner Vorstellung. Um drei Uhr ging ich ihn auf seiner Abteilung besuchen. Es war der dritte und letzte Versuch, denn vorher war er nicht aufzufinden. Ich wollte ihn fragen, ob mein Brief mit dem Horoskopangebot zu aufdringlich war. Und er setzte sich mit seiner ganzen Aufmerksamkeit mit mir an einen Tisch und schrieb die Angaben auf. Ich fühlte mich wie schon während der Zusammenarbeit sehr unsicher, aber er war geduldig. Am morgen war ich halbwegs „durch“. Alles war ein bisschen viel für mich gewesen. Ich machte einen Computerausdruck von seinem Horoskop, kombinierte es mit meinem, und mich überfiel ein grosses Verlangen. Auch er kennt eine tiefe, religiöse Sehnsucht nach Beziehung, auch wenn sie nicht auf mich gerichtet ist wie meine auf ihn. Dennoch sah ich seine Annahme meiner Person im gemeinsamen Horoskop reflektiert, und das rührt mich sehr. Es ist möglich, dass er mich mag. So unwahrscheinlich das ist, und so wenige Grundlagen, die ich ihm bieten kann, vielleicht ist es dennoch so, dass auch ich ihm ein Spiegel bin für etwas, was ihm wichtig ist.

Dienstag Abend ist für mich immer Therapiegruppenabend bei einem Analytiker. Heute fiel die Sitzung aus, aber ich hatte die Meldung auf meinem Telefonbeantworter nicht abgehört. Die vergebliche Reise störte mich nur insofern, als dass ich vorher begonnen hatte, sein Horoskop schriftlich zu deuten. Mein Zustand führte mich während der Wartezeit auf dem Bahnhof in einen Musikladen. Aufenthalte in solchen Geschäften, wo Kopfhörer mit Musikproben aufgehängt sind, sind für mich selten fruchtbar. Gestern schon. Ich hörte Musik, ich hörte Texte, und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Jedes Wort, das ich gesungen hörte, wollte ich in dieser From an ihn richten. Eine neue Produktion eines deutschen Interpreten traf mich genau in die Mitte. Der Titel der CD lautet "Mensch“. Es ist ein sehr persönliches Werk des Interpreten, der darin den Tod seiner Ehefrau verarbeitet. Die tiefen Sinnfragen, auf die ihn seine Trauer führt, hat er musikalisch und literarisch in eine überzeugende, zeitgemässe Form gebracht. Ich vergass die Zeit, betete und wurde mir der grundlegenden Bedeutung bewusst, die Liebe für mich hat. Er ist für mich eine solche mensch-gewordene Gestalt der Liebe. Er ist ein Spiegel für die Sehnsucht, die Kraft, die Fürsorge, die Annahme und das Verantwortungsbewusstsein nicht gegenüber der ganzen Menschheit, aber gegenüber denen, welche ihm nahestehen. Und es ist mein grosser Wunsch, zu seinem weiteren Umfeld zu gehören.

 

Danke, dass ich Ihnen dieses anvertrauen durfte. Falls auch Sie einmal etwas brauchen, was ich Ihnen besorgen kann, dann tue ich es gern. Sie haben bei mir ein Stein im Brett! nm.

Aloe


ARZT: Meine Sehnsucht nach ihm verzehrt mich. Wieso sind wir hier und nicht bei ihm?

SAKRISTANIN: Weil er es so gesagt hat! Wir müssen ihn hier erwarten, damit er rechtzeitig die Messe lesen kann.

ARZT: Und er kämpft allein dort draussen bei der Meute. Die Liebe selber kämpft.

SABINERIN: Nicht allein! Ich bin mit ihm dort draussen auf dem Schlachtfeld. Aber lange halt ich es nicht mehr aus. So viele hab ich schon umgebracht. Mit seinem Schwert um ihre Seelen zu retten.

SAKRISTANIN: Sag ihr, sie soll aufhören. Sie macht mich krank mit ihrem Satan!

SABINERIN: Meinst du, es wäre lustig, in der Flamme zu stehen und zu sehen, wie sie brennt? Meinst du, es wäre lustig zu wissen, dass er blutig hier ankommt und stirbt? Weißt du, dass heute Fronleichnam ist, und zwar nicht bloss als Fest im Kirchenjahr. Oh doch, ein Fest! Ich freue mich! Fronleichnam. Heute ist der Tag meines Lebens!

SAKRISTANIN: Es gibt schon genügend widrige Umstände. Auch ohne Furien, die das Schlimmste heraufbeschwören. Ich kann mit Katastrophen umgehen, aber nicht mit Irrationalität, Wichtigtuern und Fantasten. Und du lässt dich von ihr treiben und trotzt mir.

ARZT: Lass sie. Ich kann dich nicht trösten. Meine einzige Hoffnung besteht darin, ihn gesund zu machen. Wenn sich das als eine Utopie erweist, dann kann ich dir gar nichts mehr anbieten.

SABINERIN (Zur SAKRISTANIN): Sei doch ein bisschen selbständig. Wir brauchen dich. Wieso bist du eifersüchtig? Denkst du nicht an ihn, der für dich leidet?

SAKRISTANIN: Natürlich. Aber ich spalte ihn nicht ab vom Rest der Menschheit. Wir leben weiter, auch wenn er stirbt. Um ihn bin ich von allen am wenigsten besorgt. Er geht doch nicht verloren. Aber wir gehen einander verloren auf diese Weise. (Zum ARZT, flehentlich.) Andreas!

ARZT: Ich bitte dich, sei still.

SAKRISTANIN: Ich weiss, dass du ihn mehr liebst als mich.

ARZT: Was spielt das für eine Rolle? Er steht ausser Konkurrenz. Ich würde niemanden lieben ohne ihn.

(Stimmen werden durch die hintere Tür zur Sakristei vernehmbar.)

Hört.

SABINERIN: Er kommt. (Geht zur Tür. Sie öffnet sie und der PRIESTER kommt herein gestützt und begleitet von einer ganzen Horde.) Jozef.

ARZT: (Springt auf ihn zu.) Jozef.

SABINERIN: Blut. (Sie reisst sein Hemd über der Brust weit auf. Hysterisch.) Da ist er verletzt. Wir müssen ihn verbinden. Allmächtiger, hilf!

ARZT: (Ellbogt sich durch die Leute zu ihm.) Lasst mich zu ihm durch.

SABINERIN: Die Leute müssen raus. (Beginnt, die Leute zu vertreiben.) Raus. Verschwindet. Er braucht den Arzt. Wollt ihr ihn umbringen?

ARZT: Schliesst beide Türen. (Zu ihm.) Herr, was haben sie dir getan.

(Die Türen werden geschlossen.)

SABINERIN: (Laut.) Was haben sie dir getan! Oh nein, oh nein.

SAKRISTANIN: (Zerrt sie zu Boden.) Weg. Du stürzt ihn.

ARZT: (Untersucht ihn.) Ein Kugelschuss und Messerstiche. Wir müssen die Wunden waschen. Ich stütze dich. Komm, lehn dich an.

SAKRISTANIN: Ja, kann er das überleben? Muss er nicht ins Spital?

ARZT: Du weißt, was er gesagt hat: „Die Messe ist die beste Operation.“

SABINERIN: Setzt ihn auf den Stuhl.

SAKRISTANIN: (Bringt einen Stuhl herbei. Zur SABINERIN am Boden.) Du bleibst, wo du bist.

SABINERIN: Ja, ich schaue ihn an. (Sie singt den Kehrvers aus dem Hohelied auf Lateinisch: „Ein Lustgarten sprosst aus dir, Granatbäume mit köstlichen Früchten, Myrrhe und Aloe, allerbester Balsam.“)

ARZT: Wir müssen ihn entblössen. Hilf mir.

SAKRISTANIN: Schau. Sein ganzer Körper ist mit Bildern ausgemalt.

ARZT: Nimm etwas aus dem Koffer, damit ich die Wunden verbinden kann.

SAKRISTANIN: Da. Hier hab ich Balsam für deine Haut.

ARZT: Was ist es?

(Pause.)

SAKRISTANIN: Aloe.

(Gerade singt die SABINERIN das Wort im Kehrvers.)

ARZT: Komm, ich halte dich. (Pause.)

SAKRISTANIN: (Abschliessend.) So.

ARZT: Du musst stehen und die Messe lesen. Kannst du das tun? Komm. (Er hilft ihm auf die Beine.)

SABINERIN: (Hört auf zu singen.) Du taumelst. Aber du stehst... Ganz frei... Hier, ich leg dir das weinrote Band von deinem Kleid zum Schutz um die Hüfte. (Macht es und weicht zurück.) Seht. Seht an unsern wunderbaren Priester.

SAKRISTANIN: Stark ist er und schön.

ARZT: Legt ihm die Gewänder an.

SABINERIN: Gold. Gold sollst du tragen.

SAKRISTANIN: (Öffnet die Kastentür, nimmt ein Gewand und beginnt ihn einzukleiden) Schau. Dieses hier liess ich für dich anfertigen. Es liegt mehr am Körper an als die traditionellen Gewänder. Es wirkt schlichter, ist aber viel kostbarer.

ARZT: Es steht dir perfekt.

SABINERIN: Du wirst die Messe lesen, ja?

(Plötzlich stürzt der PRIESTER zusammen.)

SAKRISTANIN: (Eilt hinzu.) Jesus. Was ist geschehen?

ARZT: (Ist hinzugekommen.) Lasst mich.

SAKRISTANIN: Spürst du sein Herz?

ARZT: (Weint.) Ja, aber es schlägt nicht mehr. (Schluchzt. Auch die SAKRISTANIN schluchzt.)

SABINERIN: Herr, gib mir deine Gewänder. Ich trinke deinen Kelch. (Vom Kirchenraum werden die Stimmen der Leute hörbar. Jetzt riegeln sie an der Tür. SABINERIN zu den andern, mit Autorität.) Helft mir. Läutet die Kirchenglocken! Das Festtagskleid ist mir!

(Die Kirchenglocken werden elektrisch eingeschaltet.)

ARZT Ich trage deinen Körper vor den Tabernakel. Leg du das rote Band über ihn. (Er nimmt ihn über die Schultern.) Du bist leicht. Ich trage dich als wärst du das Kreuz, mein Siegeszeichen.

(Die SAKRISTANIN schliesst die Tür auf, vor der sich die Leute drängen. Der Glockenton und das Rufen der Meute wird stärker.)

SAKRISTANIN (Geht voran und ruft): Zurück! Zurück!

(Der Tumult legt sich und wandelt sich in Staunen. Stille ausser dem Glockenton. Dann stimmt die SABINERIN das „Te Deum“ an, welches als ein Raunen voll Emotion und Trauer von der Volksmenge aufgegriffen wird. Ausblenden.)

Androhungen

(Klopfen an der Tür. VERENA öffnet.)

VERENA: Ivo. Komm rein.

IVO: Ist ihr Mann zuhause?

VERENA: Nein, er ist beim Arzt.

IVO: Was hat er?

VERENA: Depressionen.

IVO: Das ist nicht wahr.

VERENA: Komm herein, damit wir uns kennenlernen.

IVO: Ihr Mann war bis heute kerngesund. Ich weiss das. Ich habe ihn gesehen.

VERENA: Ein psychisches Leiden ist körperlich nicht sichtbar.

IVO: Doch. Schauen Sie mich an.

VERENA: Warum? Was fehlt dir?

IVO: Ich habe perverse Gedanken, die mich verderben.

VERENA: Was für Gedanken?

IVO: Ich bin Ihnen nicht freundlich gesinnt.

VERENA: Das kann ich verstehen. Du liebst meinen Mann.

IVO: Ja. Ich bringe mich um, wenn ich ihn verliere.

VERENA: Ich habe nichts gegen eure Freundschaft.

IVO: Sie haben ihn krank gemacht.

VERENA: Nein. Er hatte immer Depressionen. Ich liebe ihn und es ist mein Wunsch, dass er gesund wird.

IVO: Er hat mir nichts von seiner Krankheit gesagt.

VERENA: Vielleicht dachte er, du würdest ihn von alleine verstehen.

IVO: Ich traue Ihnen nicht. Sie haben ihn allein gelassen.

VERENA: Bist du dafür nicht dankbar? Ihr hättet euch sonst nicht kennengelernt.

IVO: Natürlich hätten wir das. Sie können das nicht verhindern. Das hat Gott gewollt.

VERENA: Möchtest du etwas trinken?

IVO: Wo ist das Kind?

VERENA: Im Zimmer. Es schläft.

IVO: Ich möchte es sehen.

VERENA: Komm. (Sie führt ihn zum Zimmer und öffnet die Tür.) Bitte sei leise.

(Stille. Babygeräusche. Sie treten aus dem Zimmer und schliessen die Tür.)

IVO: Sie sieht aus wie ein Engel mit ihren Pausbacken und blonden Haarringel. – Haben Sie ein Fotoalbum?

VERENA: Ja. Möchtest du es sehen?

IVO: Wann kommt Ihr Mann zurück?

VERENA: Nicht vor fünf Uhr.

IVO: Ja. Dann möchte ich es sehen. Aber sagen Sie ihm nicht, dass ich da war.

VERENA: Natürlich werde ich es ihm sagen.

IVO: Bitte!

VERENA: Nein. Dazu gibt es keinen Grund.

IVO: Dann lasse ich mich nicht mehr blicken. Und Sie wissen jetzt, was das bedeutet.

VERENA: Was ist es denn, was er nicht wissen soll? Dass du ihn liebst?

IVO: Das geht Sie nichts an. – Entschuldigung. Er darf nicht wissen, wie frech ich zu Ihnen bin; dass ich weiss, dass er angeblich krank ist und dass ich mich umbringe.

VERENA: Mein Mann hat schon vieles durchgemacht. Ihn kann nichts so schnell erschüttern.

IVO: Sie verstehen nicht, dass ich nur so rede, weil ich völlig ausser mir bin. Es ist mir egal, wenn dies mein letztes Gespräch überhaupt wird. Es tut mir auch nicht leid um Sie.

VERENA: Du bist verletzend. Dabei hab ich dir nichts getan.

IVO: Doch. Sie haben mich durchschaut.

VERENA: Ich verurteile dich nicht. Im Gegenteil. Ich kann dich gut verstehen.

IVO: Warum? Haben Sie auch schon mit Frauen geschlafen?

VERENA: Nein.

IVO: Und Ihr Mann? Mit Männern?

VERENA: Das musst du ihn selber fragen.

IVO: Vorher bringe ich mich um.

VERENA: Aber warum denn? Weil du die Wahrheit nicht erträgst?

IVO: Weil ich verdorben bin.

VERENA: Mein Mann mag dich. Er hält dich für einen sensiblen, intelligenten Jungen.

IVO: Das ist nicht wahr.

VERENA: Natürlich ist es wahr. Warum sollte er sich sonst so zu dir verhalten?

IVO: Wie verhalten?

VERENA: Er hat mir von euren Begegnungen erzählt.

IVO: Pervers. Nicht wahr?

VERENA: Ich halte es überhaupt nicht für pervers. Mein Mann ist nicht pervers. Er ist ehrlich und integer. Und leidenschaftlich.

IVO: Er ist eine Ikone.

VERENA: Ja. Siehst du? Wir stehen auf einer Seite. Wir können Freunde sein.

IVO: Schon nicht. – Ihr Mann ist nur aus Mitleid gut zu mir.

VERENA: Ihr versteht euch gegenseitig. Sympathie und Anteilnahme braucht es für eine Freundschaft.

IVO: Freundschaft? Ich bin einfach sein Kostgänger. Er ist freundlich, solange es ihm nicht zuviel wird. Und das wird es ihm, wenn er hört, was ich heute gesagt habe. Deshalb komme ich auch nicht mehr.

VERENA: Er empfindet ehrliche Gefühle für dich. Er will dir helfen. Und damit hilft er sich auch selber.

IVO: Sagen Sie nicht dauernd Dinge, die mich glücklich machen. Sie sind falsch. Sie können unsere Freundschaft nicht wünschen, wenn Sie normal sind.

VERENA: Normal? Normal ist meine Ehe nicht. Ich habe nichts dagegen, dass du meinen Mann lieb hast. Vor allem nicht, wenn ich sehe, dass du ihm auch etwas bedeutest.

IVO: Sie sind zu freundlich um ehrlich zu sein. Zeigen Sie mir bitte die Fotos. Ich möchte eine Erinnerung an ihn haben.

VERENA: Ich zeige sie dir, wenn du das nächste Mal kommst.

IVO: Ich komme nicht mehr. Ich werde tot sein.

VERENA: Du machst mir Angst. Das wäre für meinen Mann sehr schlimm.

IVO: Ach, er wird erleichtert sein. Es befreit ihn von einem Skandal.

VERENA: Bist du wirklich so unvernünftig wie du sprichst? Ich hoffe, du hast irgendwo ein Gefühl für Verantwortung. Oder bist du so egoistisch, dass du nur an dich selber denkst?

IVO: Wie soll ich damit leben, was ich Ihnen anvertraut habe? Sie können sich nicht in mich einfühlen.

VERENA: Natürlich kann ich das. Aber du bewertest alles viel zu schwer. Was du gesagt hast, ist im Grunde ganz normal. Es wäre Wahnsinn, deswegen dein Leben wegzuschmeissen, jetzt wo du einen so wunderbaren Freund gefunden hast.

IVO: Was glauben Sie wird er dazu sagen, wenn Sie es ihm erzählen?

VERENA: Er wird nichts sagen. Er wird nur hoffen, dass du wiederkommst, damit er dir zeigen kann, dass für ihn alles in Ordnung ist.

IVO: Ich kann es nicht glauben. Mich ekelt die Vorstellung, dass jemand mich mag, geschweige denn jemand wie er. Ich liebe ihn. Ich will ihn nicht verlieren. Es macht mich traurig, dass er krank ist. Schauen Sie, da hängt ein Bild von ihm. Er sieht so stark und glücklich aus. Wenn ich so wäre wie er, dann könnte ich auch leben. Ich nehme dieses Bild mit.

VERENA: Aber du kommst wieder.

IVO: Ja.

VERENA: Versprochen?

IVO: Ja. Ich bringe mich nicht um. Ich möchte ihn wiedersehen. Das verspreche ich. (Er geht zur Tür und rennt hinaus. Die Türe lässt er offenstehen.)