Buch lesen: «Schwarzer Kokon», Seite 8

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Das Frühstück

In der Küche saßen bereits Olivia und Stephen am ovalen Tisch beim Frühstück.

»So ein verdammter Scheißkerl«, hörte sich Fredrik flüstern.

»Soll ich dir noch ein paar Eier machen, Schatz?«, fragte Olivia, als Fredrik zu ihnen trat.

»Wo ist Marc?«, winkte er ab.

»Liegt noch im Bett«, gab Stephen über den Glasrand seines selbst gepressten Orangensafts Auskunft.

»Der spinnt wohl? Erst im Knast und jetzt verschläft er den Tag.« Fredrik war gerade in der richtigen Stimmung, um Marc an den Haaren aus dem Bett zu zerren.

Olivia hielt ihn davon ab: »Fred, lass ihn. Ich werde nachher mit ihm sprechen.«

»Mom«, sagte Stephen hörbar entsetzt, »du bist schon wieder nur auf Marcs Seite. Der kann doch bei dir machen, was er will. Kapierst du nicht, dass er alle nur ausnutzt?«

Ein wenig erschrocken über die heftige Reaktion ihres Sohnes blickte Olivia Hilfe suchend zu Fredrik.

»Sprich nicht so mit deiner Mutter; aber er hat schon recht, Olivia. Marc braucht eine harte Hand!«

»Marc braucht eine harte Hand«, äffte nun eine Stimme aus dem Off. Mit zerzaustem Haar sowie nur seinen Shorts bekleidet kam Marc an den Tisch. »Sorry, Dad, für gestern, wird nicht mehr vorkommen.« Anscheinend unbekümmert griff Marc nach einer Scheibe Toast und setzte sich lässig neben Stephen.

»Und du glaubst, damit ist alles gesagt und wir gehen wieder zur Tagesordnung über?« Fredrik erhob die Stimme. »So nicht, mein Junge. Du wirst die Konsequenzen dafür tragen, ist das klar?«

»Und wie sollen die aussehen?« Marc vermied es, seinen Vater direkt anzusehen, und widmete sich lieber der Erdnussbutter, die er fein säuberlich auf seinem Toast verteilte.

»Morgens zur Uni, und wehe ich bekomme raus, dass du auch nur eine Sekunde der Vorlesung verpasst. Nach dem Training bis auf Weiteres Hausarrest.«

»Dad, das ist nicht fair« versuchte Marc seine miserable Position zu verbessern. »Ich meine die Jungs und …«

»Kein Wort mehr oder ich garantiere dir, es war das letzte Mal, dass ich, Michael oder sonst wer dir aus der Patsche geholfen haben.«

Bevor Marc erneut protestieren konnte, stieß Stephen ihn unterm Tisch und zischte: »Halt jetzt die Klappe!«

»Misch du dich nicht ein«, wurde Marc laut und fuhr seinen Bruder an.

Fredrik verlor endgültig die Geduld: »Marc, noch ein Wort und ich vergesse mich. Wegen dir hab ich mächtig Ärger am Hals. Wegen dir setzt mich die USCP unter Druck – hast du auch nur den leisesten Schimmer, wie deine Schlägerei mir als Senator schadet?«

»Wie meinst du das?«, wollte nun Olivia wissen.

»Nichts weiter«, entgegnete Fredrik resigniert. »Willson und die gesamte USCP sind mit der Entscheidung des Bundesrichters nicht einverstanden. Du weißt schon, im Fall des Schwarzen, der den Polizisten erstochen hat.«

»Ja, und?«, Olivia blickte stirnrunzelnd.

»Willson hat vorhin angerufen. Er verlangt, dass ich mit dem Bundesrichter spreche.«

»Aber das ist doch nicht dein Bier«, warf Stephen ein. »Was wollen die von dir?«

»Was die wollen? Dass ich den Bundesrichter überzeuge, doch die Todesstrafe für diesen Sanders durchzudrücken.«

»Wäre aber auch korrekt, Dad«, meinte Stephen. »Der hat’s doch verdient! Ein schwarzer Killer mehr oder weniger.«

Marc blickte von seinem Sandwich auf und schüttelte sein blondes, zerzaustes Haar: »Du bist echt bescheuert!«

»Klar, Bruderherz, unser barmherziger Marc. Stehst ja auf die Schwarzen. Womöglich vögelst du noch eine.«

»Hört beide auf«, fuhr Fredrik dazwischen.

»Was willst du jetzt tun?« Olivia blickte besorgt.

»Ich muss mit dem Richter sprechen oder ich gehe zur Washington Post und liefere aus erster Hand die Story meines völlig verblödeten Sohns.«

Das war Marc zu viel. Nicht ohne Schuldgefühl, dennoch sauer, Fredriks und Stephens Äußerungen wegen, stieß er den Stuhl zurück, der laut zu Boden krachte, und verschwand in sein Zimmer.

»Klar, hau nur ab, wie du es immer machst, du Pfeife!«, rief Stephen ihm hinterher.

»Hör sofort auf«, fuhr Olivia Stephen an.

»Ja, das kennen wir. Ist immer dieselbe Leier. Marc baut Scheiße und du? Hast du dich jemals so vor mich gestellt?« Stephen tat es Marc gleich und verschwand mit Gepolter.

Dieser Vorwurf traf Olivia. So hatte sie es noch nie gesehen. »Aber Stephen, das ist doch …«

Die Stadt

Columbia, South Carolina, 1732

Ihr Entschluss war gefasst. Sie würde einige Zeit bei Hugh bleiben, der sich als anscheinend vertrauenswürdig herausstellte. Weder machte er anzügliche Bemerkungen noch verhielt er sich respektlos Zola gegenüber. Ganz im Gegenteil hatte Zola mit der Zeit das Gefühl, Hugh sähe in ihr mehr eine große Tochter als die Frau, die sie war.

Hugh richtete Zola eine Schlafstätte ein und hatte in ihr eine Hilfe, sowohl bei der Hausarbeit als auch bei der Trocknung und Gerbung der Felle und Lederhäute. Letzteres war ein aufwendiger Prozess, den sie von Hugh erlernte. Um nötige Salze für das Einlegen der Felle zu erwerben sowie für den Verkauf der ledernen Ware, begaben sie sich zur nahe gelegenen Siedlung Columbia. Mit Erstaunen stellte Zola fest, wie nahe sie auf ihrer Flucht als Einsiedlerin des Waldes einer Stadt gekommen war.

Der Ortskern Columbias bestand aus einer langen, niedergewalzten, staubigen Hauptstraße, an der sich zu beiden Seiten hölzerne Wohnhäuser und Ladengeschäfte reihten. Kleinere Gassen, seitlich entlang der Hauptgebäude, führten nach hinten zu einigen wenigen, teils windschiefen Hütten. Neben mehreren Geschäften und einem Saloon gab es die Schmiede, den Barbier, einen Krämerladen sowie ein Gefängnis, dessen Vorsteher ein gewählter Sheriff war. Der friedvolle Ort war trotz zahlreicher Bewohner überschaubar, jeder kannte jeden, sodass der Ordnungshüter, wenn überhaupt gefordert, lediglich manchmal Betrunkene des Saloons nachts in seiner Zelle ausschlafen ließ. Dennoch erfüllte diese Zivilisation Zola mit Furcht. Würde man ihr gegenüber misstrauisch werden, sie erkennen, gar zurückschicken?

Hugh genoss Ansehen unter den Einwohnern und keiner stellte unangenehme Fragen über die Schwarze mit dem Wolf an ihrer Seite. Sie standen gerade im Laden des Krämers, der neben Lebensmitteln auch Werkzeuge sowie Holz für die Farmer und Tabakbauern vorrätig hielt.

»Na, Hugh, was hast du heute Schönes dabei?« Ein kleiner, schmächtiger Mann mit Halbglatze und gezwirbeltem Oberlippenbart trat hinter seiner Theke hervor.

»Wie immer, John, wundervoll gegerbte Felle und Leder. Wirst ein Vermögen verdienen. Ich mach dich noch reich.« Hugh lachte donnernd.

»Dann lass mal sehen.«

Während Hugh den Sack öffnete, betrachtete John Zola als auch den neben ihr sitzenden Wolf. »Ich bin übrigens John. Hab dich hier noch nie gesehen.«

Bevor Zola etwas antworten konnte, ergriff Hugh das Wort: »Das ist Zola, John. Geht mir gut zur Hand; ein liebes Mädchen. Muss endlich nicht mehr selbst kochen. Ha, ha, hab sie so nem Halsabschneider abgekauft, den Köter gab’s umsonst dazu.«

»Versteht sie unsere Sprache?«

»Und wie, John. Die flucht schlimmer als wir beide zusammen.« Wieder brach Hugh in schallendes Gelächter aus und John stimmte mit ein, während Zola verlegen blickte.

Sie erzielten einen guten Preis für ihre Ware und tauschten einen Teil des Erlöses gegen Salz.

Bis Zola den Mut aufbrachte, alleine Columbia zu besuchen, sollte ein weiteres halbes Jahr vergehen.

Zolas Geschichte

Columbia, South Carolina, 1733

Sie saßen am klobigen Holztisch und aßen. Zola hatte auf dem einzigen Holzschemel in der Hütte Platz genommen, Hugh schob wie immer eine schwere Holzkiste an die Tafel. Neben Zola lag der Wolf, der ebenfalls in der Hütte wohnen durfte. Mangels Kreativität sowie der Tatsache, dass er auf den Namen hörte, hieß er einfach nur »Wolf«.

»Hast du fein gekocht, wirklich fein.« Hugh schmatzte und führte den voll beladenen Löffel an seinen Bart, der genau an der Stelle, wo Zola seinen Mund vermutete, verschwand. Obwohl Hugh, wie Zola mit der Zeit erkannte, seinen Bart durchaus pflegte, war er von solcher Fülle, dass keine Lippen zu sehen waren. Haare an der Oberlippe verschmolzen mit denen der Unterlippe.

Zola hatte einen Eintopf zubereitet. Ihr Rezept: Heißes Wasser, angereichert mit Speck sowie einem Hüftknochen, der mit reichlich Fleisch bestückt war. Anschließend schnitt sie Rüben in den Topf und würzte mit ein wenig Salz und Kräutern aus dem Wald.

»Wirklich fein, wirklich fein.« Hugh schlürfte den nächsten Happen und biss sodann in eine geschälte, rohe Zwiebel. Wie immer, wenn er Zwiebeln aß, hielt er sie hoch und referierte: »Hält den alten Hugh gesund, weißt du?«

Zola gewöhnte sich an den Zwiebelgeruch und nahm ihn nach einiger Zeit nicht mehr wahr.

»Wir haben heute was zu feiern.« Hugh mampfte, während seine Augen zwinkerten. Zola sah ihn verwundert an, jedoch wollte ihr nicht in den Sinn kommen, was es zu feiern gäbe. »Na, Mädchen, genau vor einem Jahr haben wir uns kennengelernt. Ho, ho, und wie wir uns kennengelernt haben, was, Zola?« Dabei schlug Hughs flache Hand geräuschvoll auf seinen Oberschenkel.

»Ist das schon so lange her?«

»Aber natürlich, natürlich. Der alte Hugh hat so bei sich gedacht, das sollten wir feiern und einen kräftigen Schluck darauf trinken.«

Zola kannte den Fusel, welchen Hugh des Abends trank, um dann samt Kleidung schnarchend ins Bett zu fallen. Bevor sie etwas wie »Oh, nein« oder »Lass mal gut sein« erwidern konnte, stand Hugh plötzlich auf und verschwand aus der Hütte. Wo geht er hin?, überlegte Zola, indes sie zur tönernen Flasche Schnaps auf dem Wandregal sah.

Noch während sie grübelte, trat Hugh wieder in die Hütte. In seiner Hand hielt er stolz einen Schemel in die Höhe. »Ich kenne ja deinen Geburtstag nicht«, er wirkte etwas verlegen, »du hast ihn mir nie verraten, daher hat der alte Hugh so bei sich gedacht, na ja, jedenfalls ist der heutige Tag für mich dein Geburtstag.« Mit diesen Worten stellte er den Hocker neben Zola.

»Was ist das?«, fragte Zola zögerlich.

»Na, was wird das schon sein? Ein Schemel, damit ich nicht laufend die Kiste durchs Zimmer rücken muss. Zum Geburtstag macht man doch Geschenke, oder?«

Zola war tief gerührt. Sie kannte diesen Brauch, doch ein Geschenk hatte sie noch nie bekommen. Sie sprang auf, umarmte Hugh und drückte das Gesicht an seinen mächtigen, harten Bauch. »Danke, Hugh.«

»So, das haben wir ja jetzt«, räusperte sich Hugh, »dann lass uns mal weiteressen und anstoßen.« Er holte die Flasche aus dem Regal, zwei hölzerne Becher und setzte sich.

Zola tat es ihm gleich, doch nahm sie jetzt auf ihrem Geschenk Platz. »Fühlt sich gut an«, kicherte sie vor Freude, während sie mit ihrem Hintern hin und her rutschte.

Hugh reichte Zola den mit Schnaps gefüllten Becher. »Auf uns, Zola. Bin richtig froh, dass du da bist.« Er hob an und leerte den Becher in einem Zug.

Zola trank ebenfalls einen Schluck. Der Alkohol brannte derart in ihrer Kehle, dass sie husten musste. »Ha, ha«, war das Einzige, was Hugh hierzu einfiel.

»Ich habe ja nie gefragt«, begann Hugh, »es geht mich vielleicht auch nichts an, aber ich weiß so gar nichts über dich, weißt du?«

Zolas Blick senkte sich zu Wolf am Boden. Ihre Hand fuhr über sein Fell. Kurz erwog sie, Hugh nichts von sich preiszugeben. Nach wie vor hatte sie Angst, entdeckt zu werden. Noch immer plagten sie Albträume. Doch sie entschied anders.

»Hugh, ich bin geflohen. Nur gelaufen und gelaufen, immer am Fluss entlang, weg, weit weg von der Plantage.«

»Hat sich der alte Hugh schon gedacht. Und warum?«

Jetzt begann Zola zu erzählen. Erstmals redete sie sich alles Leid von der Seele, welches sie unter Baines Herrschaft erfahren musste. Sie berichtete von der Nacht, in der Mr. Baine über sie hergefallen war, von Sam und Tumelo und von ihrer Mutter. Kein Detail der Flucht ließ sie aus. Als sie zu der Stelle kam, an der die Schüsse fielen, rannen ihr die Tränen über die Wangen. »Ich habe keine Ahnung, ob Mutter lebt, doch …«, sie unterbrach, »doch ich fühle, dass sie nicht mehr am Leben ist.«

»Ach, Zola, sicher ist sie noch auf der Plantage und es geht ihr gut, ganz bestimmt.«

»Nein, gewiss nicht.« Erstmalig kamen Zolas Gedanken und Ängste über ihre Lippen. »Nein, ich weiß es genau.«

»Aber woher willst du das denn wissen, Kindchen?« Hugh ergriff über den Tisch hinweg Zolas Hände und sie verschwanden gänzlich in seinen Pranken.

»Der Sperling hat es angedeutet, nein, eigentlich hat er es mir gesagt.«

Nun runzelte Hugh die Stirn. Solch eine Begründung hatte er am allerwenigsten erwartet. »Hat der alte Hugh dich richtig verstanden? Ein Vogel hat dir das gezwitschert?«

»Ja, der Sperling.«

»Ho, ho, ho«, lachte Hugh laut auf, »das hab ich ja noch nicht erlebt. Der Sperling, ho, ho.« Doch sein Lachen brach unwillkürlich ab, als er Zolas Augen sah. Stolz und Glaube strahlten sie aus. Ernst flüsterte er: »Du willst mir also weismachen, dass du mit einem Spatz reden kannst?«

Zola nickte. »Anfangs dachte ich selbst, ich sei verrückt geworden. Doch er spricht zu mir und hat mir den Weg gewiesen. Auch in jener Nacht vor einem Jahr hat er mich aus dem Schlaf geweckt und zu Wolf geführt.«

»Na, dir werde ich noch mal von meinem Schnaps geben«, schnaubte Hugh, hob dabei die Flasche und betrachtete sie.

»Du wirst mich doch nicht verraten, oder?«

»Ja, wo denkst du denn hin, Kindchen. Du bist hier auf meinem Land, da gelten meine Gesetze. Auch wenn ich das mit dem Sperling kaum glauben kann, sei mir nicht böse, aber ein Vogel, der spricht.«

Zola entschied, ihn nicht weiter überzeugen zu wollen, während Hughs Barthaare sich zu einem Lächeln formten und seine Augen kopfschüttelnd eine liebevolle Güte ausstrahlten.

Da klopfte es leise. Ein gedämpftes Tacken aus Richtung der Fensterscheibe. Hugh vermutete zuerst, ein Ast würde durch den Wind ans Glas geschlagen, doch sein Blick fiel auf etwas Sonderbares. Er traute seinen Augen nicht. Auf dem Sims des Fensters saß ein … Sperling. »Ich werd verrückt«, entfuhr es ihm, als auch Zolas Blick zum Fenster wanderte.

Dass just in diesem Moment ihr Freund auftauchen würde, damit hatte selbst sie nicht gerechnet. Lange Zeit, genau genommen vor einem Jahr, hatte Zola ihn zuletzt gesehen. Manchmal zweifelte sie daher gar an seiner Existenz. Zola stand auf, tat ein paar Schritte und hob den Riegel, der den Fensterflügel verschlossen hielt. Der Spatz machte keine Anstalten davonzufliegen, selbst als der hochgewachsene, verdutzt dreinblickende Hugh hinzutrat.

»Was, was machst du hier? Wo warst du die ganze Zeit?«, fragte Zola.

»Immer an deiner Seite«, kam die piepsende Antwort.

Hugh rieb sich die Augen: Ein Sperling auf der Fensterbank, der lautes Gezwitscher von sich gab.

»Warum hast du dich mir nicht gezeigt?«

»War es vonnöten? Ich habe dich zu ihm geführt, er ist eine rechte Seele. Bleibe bei ihm.«

Zola sah kurz zu Hugh, der staunend neben ihr stand.

»Zola, es ist an der Zeit, dass ich dir etwas gebe. Vergiss nie deine Herkunft und gedenke immer derer, die dir aus schwerer Not geholfen haben. Es wird der Tag kommen, da andere deine Hilfe brauchen. Zögere nicht, auch wenn die Angst in dir übermächtig wird.«

Der Sperling senkte sein kleines Köpfchen und pickte an der Fensterbank. Als er seinen Kopf wieder anhob, steckte ein Gegenstand in seinem Schnabel, der einem Stück Leder glich. Zola fasste danach und begriff. Ihren Körper überkam eine Gänsehaut. In ihren Händen hielt sie ein Stück Haut, etwa dreimal drei Zentimeter groß. Auf der Rückseite getrocknetes Blut. Der Anblick der Vorderseite brachte ihre Atmung zum Stocken. Da war es wieder, das große, geschwungene »B«, welches viele Jahre, als schmerzvolle Zierde ihres Unterarms, eingebrannt war.

»Bewahre es gut, Zola. Es ist ein Symbol deiner Vergangenheit. Das Mal der Knechtschaft, jenes, das du abgelegt hast, um frei zu sein. Nutze die Freiheit. In dir ist mehr Macht und Kraft, als du glaubst. Nimm das Geschenk deiner Mutter Aba.« Mit diesen Worten breitete der Sperling die Flügel und verschwand in die Nacht.

Zitternd stand Zola am Fenster.

Hugh warf einen Blick nach draußen: »So was hab ich ja noch nicht erlebt, hab ich ja noch nicht.« Er griff nach Zolas Hand, in der sie das Hautstück hielt. Kopfschüttelnd betrachtete er das Brandmal, nahm sanft Zolas linken Unterarm und legte den Hautlappen auf ihre Narbe. Etwas kleiner als die Vernarbung, doch Hugh erkannte dennoch, dass dies das herausgeschnittene Hautstück von Zolas Arm war.

Vereint und schuldig

Wahrheit, Sein!

Verzerrt fließend ins Dunkel.

Nichts scheint, wie es war!

Mit einem Mal, den Blick im Spiegel!

Das Bild nicht begreifend!

Was ist das, was du siehst?

Du fragst, was dich umgibt!

Keine Antwort!

Neugier und Furcht!

Geburt des Glaubens! WELCHES GLAUBENS?

Die Zeit findet Jünger!

Es hatte sich für alle – alles auf der Plantage geändert. Clexton stemmte sich vehement gegen die Angst, die ihn schlimmer denn je, gezwängt wie in einem Schraubstock, zu erdrücken drohte. Des Tags mit harter Hand gegenüber seinen Untertanen, die Nächte im Alkohol ertränkt hinter verschlossener Türe in der Bibliothek.

Veronika, seit Abas schicksalhafter Nacht nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, war in einen Zustand der Trance verfallen. Jos war der einzige Mensch, der ihr Halt gab, und hierfür erhielt er die übertriebene Fürsorge seiner Mutter.

Tumelo, seine Arbeit verrichtend, schwieg die meiste Zeit des Tages. Nachts von Albträumen geplagt, schweißgebadet, zitternd in seinem Bett.

Und Sam wurde von einem tiefen Glauben erfasst. Seit dieser Nacht sah er sich und alles um sich herum mit anderen Augen. Trauer um Aba, ohne sie näher gekannt zu haben. Neugierde, wer sie war und was sie war – doch niemals gestillt. Sein Herz erkannte die Reinheit ihrer liebevollen Macht. Einer Macht, die hätte strafen können und es doch in jener Nacht, trotz des großen Schmerzes, nicht tat. Aba hatte sich hingegeben, im Glauben, im Zorn.

Warum?

Wofür?

Veronika, Tumelo und Sam waren stumm vereint durch das Band der grausamen Wahrheit: Clexton Baine hat sich schuldig gemacht! Schuldig wie einst Judas, den Todesweg gepflastert. Drei Jahre sollten ins Land gehen, ohne dass jemand je über die Geschehnisse besagter Nacht sprach. Die Verdrängung der Gedanken vor dem drohenden Wahnsinn.

Das Ende der Ehe

Charleston, South Carolina, 1735

Die Zeit heilt Wunden, sagt man.

Clexton hatte sich verändert. Tagsüber, seinem Geschäft nachgehend, verhielt er sich Veronika gegenüber, als ob nichts geschehen wäre. Mehr noch, er ignorierte sie. Was Jos betraf, so legte Clexton eine Liebe zutage, die für den Sohn befremdlich, ja fast erdrückend erscheinen musste. Dem Kleinen sollte es an nichts mangeln. Jos stellte das einzige Bindeglied in ihrer Beziehung und den häufigen Grund für Streitigkeiten dar. Laut, ohne Tabus, warfen sich seine Eltern Vorwürfe an den Kopf. Meist beendet durch das ängstliche Weinen von Jos.

So auch am Abend des 12. August 1735. Clexton, seinen ›Kameraden‹ Gin an den Lippen, saß in der Bibliothek, als Veronika an der Tür klopfte. Widerwillig öffnete er.

»Hast du Jos geschlagen?«, fragte Veronika ohne Umschweife.

»Wieso sollte ich?«

»Woher sonst soll er die blauen Flecken haben?«

»Wenn du glaubst, dass ich gegen Jos die Hand erhebe …« Clextons Gesicht rötete sich. Er wollte ihr die Türe vor der Nase zuschlagen, doch Veronika stemmte sich dagegen, außer sich, nicht in der Lage, durch weitere Fragen die Wahrheit aus Clexton herauszubekommen. Nervlich am Ende, prügelte sie wild mit beiden Fäusten auf Clexton ein. Dieser stolperte schwankend zurück und hielt ihre beiden Arme an den Handgelenken.

»Lass mich los, du Bastard!«, schrie Veronika, während sie nun begann mit ihren Füßen nach ihm zu treten. Haare fielen ihr ins Gesicht. Mit ganzer Kraft stieß Clexton sie von sich und Veronika fiel zu Boden. Weinend lag sie in der Bibliothek. Sie wusste, dass sie so weder weiterleben konnte noch wollte.

Als Clexton das Häufchen Elend am Boden liegen sah, regte sich Mitleid. Wohin war die Zeit, als er sie begehrte, als er noch Gefühle hatte? In diesem Bruchteil des lichten Momentes trat er einen Schritt auf Veronika zu und ergriff entschuldigend ihre Hand.

Doch Veronika stieß ihn grob von sich und sah hasserfüllt zu ihm auf. Der Blick in ihren Augen sprach Bände und erweckte erneut den Zorn Clextons. Sie war doch an allem schuld! Wäre sie nicht gewesen, wie sie war, hätte er sich nicht an einer Sklavin vergangen. Nein, sie hatte ihn dazu gebracht. Sie allein. Jetzt sollte sie ihn kennenlernen und ihrer Strafe, die längst überfällig war, nicht entgehen!

Grob packte er Veronika an den Haaren, riss sie hoch und sie spürte den Schmerz an ihrer Kopfhaut, seine Kraft, der sie nichts mehr entgegenzusetzen hatte. In diesem Moment hatte sie jeden Widerstand aufgegeben. Sich aufgegeben. Ohne Gegenwehr, ohne sich zu widersetzen, ließ Veronika ihn gewähren, als er ihren Oberkörper auf den Tisch niederdrückte, ihr den Rock hob und sie hart und kurz von hinten nahm. Mit geschlossenen Augen, ohne einen Laut, ergab sie sich seinen harten, erniedrigenden Stößen, lag reglos da wie eine mit Stroh gefüllte Puppe.

Dann, als ob nichts geschehen wäre, knöpfte Clexton die Hose zu und nahm wortlos in seinem Sessel Platz. Er griff zu seiner Flasche Gin und setzte zu einem tiefen Schluck an. »Du bist nicht besser als jede Negerhure. Verschwinde endlich, du Miststück«, zischte er, ohne sie dabei anzublicken.

Veronika rappelte sich auf, strich ihr Kleid flüchtig über ihre Knie und verließ Clexton – für immer. Beide wussten, sie waren am Ende, nur war keinem klar, wie dieses Ende aussehen würde.

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