Zwillingsforschung

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Zwillingsforschung
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Jens van Nimwegen

Zwillingsforschung

Roman

Nimwegen 2014

Impressum

Zwillingsforschung

Jens van Nimwegen

Copyright: © 2014 Jens van Nimwegen

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de ISBN 978-3-8442-8088-3

manimal.eu/zwillinge

Zweite Auflagem

Von Jens van Nimwegen sind folgende Romane erhältlich:

Die Abrichtung, Männerschwarm Verlag (2012)

Manimals (2012)

Ein Entwicklungsroman

Wie sich Jens, Rotz, Drexau, Porco, Ratte, das Ferkel und Phallc kennenlernten und ihren Weg im Leben fanden.

Ratte, Rotz und Radu (2012)

Ein Kriminalroman

Drei Freunde und zwei oder drei Morde

Die artgerechte Haltung des Homo manimalis (2012)

Eine philosophische Lehrerzählung in Form eines Zukunftsromans

Zwei Freunde im dreigeteilten Deutschland 2034

Zwillingsforschung (2013)

Wie der Wurf einer Münze alles verändert

Kuckucksjunge (2013)

Wie Personenschützer Eric einen neuen Auftrag erhält

Mehr über diese Bücher auf: manimal.eu

Samstag. Ausgerechnet heute hat die Wäscherei falsch geliefert. Ich brauche ein gestärktes Hemd, keine Damenwäsche. Niemand hier braucht Damenwäsche. Das kommt davon, wenn man hier in Brandenburg örtliche Kleinfirmen unterstützen will. Die verwechseln gestärkte Hemden mit Damenwäsche.

Jim hat noch frische Hemden und leiht mir eines. Es ist mir etwas zu weit, und ich muss mir seinen Spott anhören. Und in Naturalien bezahlen. Es eilt, denn gleich kommt der Minister. Also Haare und Bart auf 1 mm trimmen, dunklen Anzug an, unauffällige Krawatte, Knopf ins Ohr. Dieser Knopf, dessen Leitungs-Spirale im Hemdkragen verschwindet, ist eigentlich fast nie nötig, aber die Leute müssen ja erkennen, dass wir nur die Bodyguards sind. In diesem Haushalt droht schon genug Verwechslungsgefahr.

Der Dienstwagen des Ministers kommt total verdreckt hier an; der Chauffeur ist abgenervt. Zehn Kilometer Waldweg bei diesem Regenwetter hinterlassen ihre Spuren. Der Sekretär des Ministers nimmt mich beiseite und will, dass ich gleich ein Zeichen gebe, wer wer ist. Ich muss ihn enttäuschen: auch nach vier Jahren kann ich meine Chefs nicht unterscheiden. Das macht aber nichts.

Tillmann und Timotheus Thier sind seit dem Tode ihrer Eltern die einzigen, die sich zuverlässig unterscheiden können, weil eben der eine er selbst und der andere der andere ist. Sogar Frau Bichler, die Chefsekretärin, würde sie verwechseln, aber da beide Besitzer und Direktor sind, alles zusammen machen und beide mit T. Thier unterschreiben, gibt es nichts zu verwechseln. Schon als kleine Kinder wollten sie immer gleich angezogen werden und haben das bis heute so gehalten. Auch die Krawatten sind immer gleich.

Jim, der eigentlich heute bis zum Abend frei hat, bittet den Chauffeur in die Küche, ich Minister und Sekretär in den Salon. Ich serviere Kaffee und werde dann entlassen. Schnell ins Dorf, um meine Hemden aufzutreiben. Heute Abend geht es nach Berlin, in die Oper. Da müssen wir beide mit. Meine Chefs sind sich einig: Bei Tosca kommt man erst zum zweiten Akt, weil der erste ja langweilig ist. Ich rufe zur Sicherheit die Oper noch einmal an, damit die Loge bis dahin freigehalten wird. Auf meinen Namen, nicht auf Thier.

Wir betreten die Oper am Ende der Pause, als alle ihre Plätze suchen, und fallen nicht auf. Till und Tim Thier leben zurückgezogen und wollen nie auffallen. Sie haben erlaubt, dass ich dieses Tagebuch schreibe; aber wenn wir mit Paparazzi plaudern würden, hätten wir unsere Stelle wohl die längste Zeit gehabt.

Jim fragt, ob er vor der Logentür im Gang warten darf. Er hat einen MP3-Spieler an seinen Knopf im Ohr angeschlossen. „Damit ich meine Negermusik hören kann, wolltest du doch gerade sagen.” Auf dem Heimweg reden die beiden über die Sänger und das Bühnenbild und nur wenig übers Geschäft.

Sonntag. Jim und ich haben frei, außer dass ich heute mit Kochen dran bin. Unsere Chefs arbeiten im Garten. Wir dürfen uns aufhalten, wo wir wollen, sogar zuschauen bei der Gartenarbeit. Der Garten ist riesig, halb frei und halb unter alten Bäumen, und wird jedes Jahr schöner. Überall findet man verwunschene Sitzecken, je nach Stimmung. Es gibt auch einen Kamin für Abende unterm Sternhimmel.

Die Brüder gärtnern manchmal acht Stunden am Tag, auch heute wieder. Kochen tu ich gerne, vor allem weil die beiden und Jim alles mögen, „wenn es nur lecker ist”. Der Chauffeur von Piëch hat mir mal erzählt, wie anstrengend es ist, wenn der Chef Vegetarier ist und was man da alles organisieren muss, damit ihm bei keinem Besuch etwas Falsches vorgesetzt wird.

Montag. In die Firmenzentrale. Dort herrscht ungewohnte Unruhe. Es wird viel telefoniert. Leute, die wie Anwälte aussehen, kommen und gehen. Irgendetwas stimmt nicht. Ich bekomme mit, wie Frau Bichler immer wieder Journalisten abwimmelt.

Dienstag. NRC Handelsblad ruft mich an, der Chefredakteur selbst mit seinem belgischen Zungenschlag. „Also, Herr Berkhout, vergessen Sie’s. Sie bekommen natürlich Ihr Honorar für die ganze Woche; aber das Tagebuch wird nicht erscheinen.” – „Wie bitte? Haben Sie etwa was Besseres?” – „Nein, wir nehmen die Reserve. Studentin auf Zimmersuche.” – „Aber warum? Schreibe ich nicht gut genug? Ich habe doch Ihre Richtlinien im Stijlboek genau befolgt.” – „Sie schreiben gut. Natürlich kämen mir Ausdrücke wie in Naturalien bezahlen oder abgenervt nicht in die Zeitung. Und schon gar nicht in die Zeit. Doch daran liegt es nicht. Nein, mein Hamburger Kollege ist zu dem Schluss gekommen, dass wir den Thier-Zwillingen das nicht antun können. „Die Gräfin würde sich im Grabe umdrehen” waren seine letzten Worte. Nicht in unseren Blättern. Nicht so. Also hängen Sie sich ihre Schreibübung übers Bett. Das Geld ist unterwegs. Machen Sie’s gut!”

Was soll das denn? Er sieht ja gut aus mit seinen Bartstoppeln, aber sowas?! Also, ich schreibe jetzt erst mal weiter, allein schon um meine Gedanken zu ordnen. Vorige Woche wusste ich gar nicht, dass Tagebuch Schreiben Spaß machen kann.

Ich lese das NRC Handelsblad hier auf dem iPad. Samstags erscheint immer ein Hollands Dagboek, ungefähr eine halbe Seite haben die dafür. Jede Woche schreibt es jemand anders. Das ist immer jemand, der in der Woche irgendetwas besonders erlebt, meist ein Prominenter. Manchmal weiß der, wenn er anfängt, noch nicht, was geschehen wird. Die Redaktion ist unglaublich gut im Finden der richtigen Leute. Für diese Woche wurden meine Chefs gebeten, aber die würden nie in der Zeitung schreiben oder im Fernsehen auftreten. Als dann der Herausgeber der Zeit anrief und ihnen vorjammerte, dass diesmal das Holländische Tagebuch auch in der Zeit selbst erscheinen soll, und überhaupt, dass das doch wirklich etwas Besonderes sei, dass es diesmal in Deutschland geschrieben würde, haben sie mich auserkoren. Sie vertrauen mir, dass ich nichts schreibe, was keiner wissen darf. Ich mache das sehr gern. Erstens, weil ich das Hollands Dagboek immer gern gelesen habe, zweitens, weil mich interessiert, wie so etwas funktioniert.

Der Anlass war diesmal von Anfang an klar. Meine Chefs kriegen ja am Freitag diesen Preis im Beisein von Beatrix und vom Dalai Lama, den sie so bewundern. Unternehmer, die in der dritten Generation wirklich für ihre Mitarbeiter und für Qualitätsprodukte leben, nicht einfach wegsterben wie der eine Albrecht und sich nicht auf Kosten unterdrückter Kassiererinnen selbst bereichern wie gewisse Drogisten, die dann auch noch an ihrem Untergang verdienen. Die Thiers haben wie kein anderer zu den blühenden Landschaften hier im Osten beigetragen, werden von der Belegschaft auf Händen getragen und wissen, dass man sich nicht Thier’s sondern Thiers Supermarkt auf den Giebel schreibt. „Idiotenapostroph” rufen sie immer, wenn sie wieder eines entdecken.

Als ich gerade Deutsch lernte, musste ich immer lachen, wie sich A.Schlecker ausspricht. Da ist Thiers doch seriöser.

Auf den Dalai Lama freue ich mich. Und Beatrix soll in Wirklichkeit klitzeklein sein. Der Preis wurde von ihrem verstorbenen Mann ausgedacht, deshalb kommt sie.

Ich hätte so gern dieses Tagebuch geschrieben.

Ich schreibe einfach weiter, und dann schenke ich es meinen Chefs. Die Preisverleihung ist ja auf ihren Wunsch im kleinsten Kreise, und das Tagebuch war eine Art Kompromiss mit den Medien. Und eine große Ehre für mich.

Jedenfalls ist eine Sache nun geklärt, die mich schon Jahre beschäftigt. Das Hollands Dagboek ist ja nie ausgefallen. Offenbar werden da immer Reserveschreiber gefragt. Jetzt darf so ne doofe Studentin ins Rampenlicht, nur weil die ein Zimmer sucht.

Gut, dass ich nun offen schreiben kann. In Naturalien, in Naturalien, in Naturalien. Abgenervt. Abgenervt. Abgenervt. Meine Chefs lesen klare Sprache bestimmt gern.

Als ich ein Hemd von Jim nötig hatte, hat er unter dem Vorwand, der Schweiß von Weißen stänke immer so, dass man danach alles zweimal waschen muss, verlangt, dass ich ihn, wie schreibt man so etwas, oral befriedige. Was ich sowieso immer gern mache. So groß, wie man immer hört, sind Negerp ist der Seinige übrigens gar nicht. Eher im Gegenteil.

Heute können Jim und ich in der Firma endlich mal anwenden, was wir gelernt haben. Meist werden wir ja nur als Chauffeur oder Koch gebraucht, aber jetzt steht ein Traube Reporter vor dem Eingang. Einer hat sogar so ein riesiges puscheliges Mikrophon an einem Galgen, wie ich es bisher nur aus dem Fernsehen kannte.

 

„Jim, sollen wir zum Hintereingang fahren?“ – „Da sind doch bestimmt auch welche.“ Till oder Tim sagt: „Augen zu.“ Der andere vervollständigt: „und durch!“ Ihre Stimmen klingen aber matter als sonst. Ich fahre mit der Beifahrerseite dicht an den Eingang heran, steige aus und gehe ums Auto herum. Jim steigt aus, und die beiden Chefs können zwischen uns beiden hindurch ins Gebäude. Ein Reporter versucht, die hintere Tür an der Fahrerseite zu öffnen, aber das geht natürlich nicht. Über solche Autos ist gut nachgedacht. Die Reporter reden alle durcheinander. Ich kann nichts Sinnvolles auffangen. Die meisten sehen so aufgeschwemmt und unappetitlich aus, wie Reporter im Tatort immer aussehen, aber einer ist ein geiles Stück mit schwarzem Dreitagebart. Als er mir zu nahe kommt, packe ich ihn und ramme ganz schnell einen Zungenkuss rein. Den Gegner lieber verwirren als totschießen, hatte mein alter Deutschlehrer, ein Reserveoffizier, immer gesagt. Auf der Schule lernt man eben doch fürs Leben. Ein paar Kameras haben geklickt, hoffentlich zu spät. Ich denke, sowieso würde kein Bildredakteur so ein Photo drucken wollen.

Der Kleine steht ein paar Sekunden entgeistert herum. Zum Sicherheitsmann wäre der mit seiner Reaktionszeit nicht geeignet.

Den ganzen Tag geht es in der Firma drunter und drüber. Jim und ich haben alle Kraft nötig, Reporter abzuwehren, die durch alle Ritzen eindringen. Einmal werde ich ins Chefzimmer gerufen. „Herr Berkhout, der Herr ist kein Anwalt, sondern er arbeitet an der Rudi-Dutschke-Straße bei dieser Zeitung, deren Namen wir immer vergessen. Er hat sich wohl in der Visitenkarte vergriffen. Begleiten Sie ihn hinaus?“ So etwas mache ich immer gern, aber die Gelegenheit ergibt sich bei uns leider höchst selten. Man weist ganz höflich die Richtung, schiebt nur, wenn es nötig ist, sanft den Oberarm oder die Schulter der Zielperson und steigert die Gewalt genau im Ebenmaß mit dem Widerstand. Körpersprache, Fluchtabstand und so. Kater buckeln und richten die Haare auf, damit der Schwanz dicker wirkt. Hätte bei Jim aber wieder andere Nachteile.

Meist geht das Hinausbegleiten nicht weiter als bis zum Unterhaken. Man verlässt den Raum wie ein verliebtes Pärchen. Diesmal auch. Bisher habe ich nur im Training unerwünschte Besucher mit einem eleganten Wurf auf den Boden legen dürfen.

Um meine bedrückten Chefs etwas aufzumuntern sage ich der untergehakten Zielperson mit meinem besten Hape-Kerkeling-Akzent, wie schön wir Holländer es finden, dass Axel Springer seine Straße nach Rudi Dutschke nennen ließ. „Duitsland ist eben doch aine tollerante Land. Das wisse alle Mense bai ons.“

Ich werde den ganzen Tag nicht schlau aus dem, was ich zwischendurch auffange. Ich will aber auf jeden Fall weiterschreiben.

Am Abend müssen wir uns dann im Garten zusammensetzen. Auch Herr Mattukat, der Haumeister, sollte aus seinem Häuschen beim Tor zur Einfahrt kommen und Frau Funke, die hier immer saubermacht, aus dem Dorf. Till oder Tim Thier schenkt Bordeaux ein, Tim oder Till packt verschiedene kleine Käse aus, und Jim sagt, dass sie auch so komisch riechen wie weiße Männer. Frau Funke schlägt entsetzt die Hand vor den Mund. Herr Mattukat sagt: „In Kaschuben war dat eenzije wat schwarz war, Vöjel die wer jefangen habm um se zu essen. Kormorane. Einfach Hals umdrehen.” Er macht die Handbewegung vor. Frau Funke fängt sich wieder: „Herr Mattukat, det müssen Se von ihren Jroßvater haben, Sie waren in Kaschuben noch viel zu kleen.” „Zum Vögeln”, ergänzt Jim, dessen Deutsch immer idiomatischer wird.

Aber das schreibe ich alles nur auf, um mich abzulenken. So ’nen Quatsch haben wir auch nur geredet, um uns abzulenken. Denn Frau Funke hatte von ihrer Tochter schon gehört, was im Fernsehen war.

Dann kommt der Moment der Wahrheit. Mist! Auch diesen kitschigen Satz habe ich nur geschrieben, um mich abzulenken. Ich könnte heulen. Und Jim ist, als er versteht, was los ist, auch nicht mehr der Herrenneger, den er so gerne heraushängt. Weil, wenn er was anderes heraushängt, übersieht man das ja.

Eric!! Zur Sache! Es ist ernst.

Eric Berkhout, das bin ich. Geboren in Rotterdam, aufgewachsen in Nimwegen, nach Berlin gezogen wegen der Männer. Ausbildung als Bodyguard wegen der Männer mit kurzen Haaren in geilen Uniformen, mit denen man auch derben Körperkontakt hat. War aber nichts Besonderes: die meisten sind dickliche Arbeitslose, die die Ausbildung schnell abbrechen.

Erste Stelle als Aufpasser in einem Supermarkt in Neukölln, dann Betriebsschutz in der Firmenzentrale. Und jetzt bin ich Personenschützer, Koch und Chauffeur der reichsten eineiigen Zwillinge von Europa, der Alleineigentümer und Direktoren von Thiers. Das war ich. Beziehungsweise, das waren die mal.

Scheiße! So schwer ist mir das Schreiben noch nie gefallen.

Also:

Till und Tim haben irgendetwas falsch gemacht. Ich glaube ja nicht, dass sie je was Illegales probiert haben. Oder was Unmoralisches. Kann ich mir bei denen nicht vorstellen. Aber die Firma ist pleite. Nicht nur die Supermärkte, auch der Großhandel und alles andere. Ein paar Millionen mehr Schulden, als alles wert ist, dieses Haus hier und der Garten inbegriffen. Und die Banken wollen nicht mehr zahlen.

Millionen?? Nicht Milliarden? Ne Million ist doch heutzutage nichts. Ja, nur Millionen. Aber die kriegen sie eben nirgendwo geliehen. Alle Immobilien, die verkauft werden konnten, sind schon verkauft. Das Haus mit Garten hier in der Einöde, erreichbar über einen Sandweg, ist nichts wert. Selbst das würden sie weggeben, wenn es helfen würde.

Am Ende dieses Abends bei Rotwein, Käse, Sternhimmel und Geißblattduft war eines ganz deutlich: Die Firma verkaufen an einen Hedgefonds, der sie nur aussaugen will und dazu alle Leute entlässt, ist ganz genau, was die Banken und Gläubiger wollen; aber das nie und nimmer! Ihre Eltern und der Großvater haben sich schon verantwortlich für alle Mitarbeiter gefühlt, und so etwas können sie ihnen nicht antun. Weder den Angestellten noch dem Andenken ihrer Vorfahren. Sie wollen alles, wirklich alles tun, dass die Leute nicht ihre Existenz verlieren. Es muss weitergehen, und es muss mit allen so weitergehen wie seit Generationen. Herr Mattukat, Frau Funke, Jim und ich sollen auch nichts zu befürchten haben; aber wir werden auch nicht irgendeiner Kassiererin in Hoyerswerda vorgezogen. Einfach pleite machen, alles verlieren und von Sozialhilfe leben, kommt auch nicht in Frage. Das hieße ja auch, die Leute im Stich lassen. Dann könnte man ja gleich Selbstmord begehen. Ich sage, dass man in anderen Ländern seine Organe zu Höchstpreisen verkaufen kann, und handle mir damit einen richtig fiesen Schlag von Jims Handrücken in meine Fresse ein. Er hat ja Recht, auch wenn jetzt meine Lippe blutet.

Frau Funke heult und erklärt, dass sie ja sowieso schon Rente kriegt und hier weiter saubermachen will, auch ohne Gehalt, weil ihr ihre Tochter sonst den ganzen Tag auf die Nerven geht. „Uff mir könnse sich immer verlassen. Un nu jehnse mal ins Bett un nehmen ihre Boddijahrts eenfach mit! Det hat Ihnen schon immer jut getan. Det habe ick doch jemerkt.”

Till und Tim Thier schlafen seit ihrer Kindheit in einem Bett. Das soll die Klatschpresse natürlich nicht wissen; aber die beiden leben so abgeschirmt und verursachen so wenig Aufhebens, dass sie sowieso nicht von der Presse entdeckt sind. Jedenfalls bis jetzt. Nun wird ja wohl die Hölle losbrechen.

Dass sie niemals ne Frau heiraten würden, war immer schon klar. Aber sie haben sich auch nie in Kneipen und Parks herumgetrieben, um mit Männern rumzumachen. Vielleicht machen sie es manchmal miteinander. Selbst Jim und ich wissen das nicht. Aber Frau Funke hat das richtig gesehen: manchmal nehmen sie ihre Personenschützer mit ins Bett. Dann wird geschmust, wir saugen sie ab, wobei ich sie auch am Geschmack nicht unterscheiden kann, und dann kuscheln wir uns alle aneinander und schlafen ein. Beide haben es gern, wenn man ihre Teile dabei in der Hand hält. Bodyguards müssen eben aufpassen auf alles Wertvolle.

Diese Nacht müssen Jim und ich zweimal ran, und man schläft nicht besonders fest.

Beim Frühstück besprechen sie die Lage. Wir sollen dabei bleiben; denn sie haben vor uns keine Geheimnisse und wissen, wie verschwiegen wir sind. Dann fahren sie mit Jim ins Geschäft, und ich habe Zeit zum Schreiben.

Sie haben wohl investiert in etwas, woran sie glaubten, und haben viel verloren. Und weil immer alles sauber war, gibt es kein Schwarzgeld, auch keine Altersversorgung auf einem Nummernkonto und keinen Privatbesitz, der nicht in die Pleite mitgerissen würde. Verwandte, die aushelfen könnten, haben sie auch nicht, und alle Banken und Spekulanten kreisen über ihnen wie Aasgeier und Heuschreckenschwärme. Die Preisverleihung wurde im gegenseitigen Einvernehmen diskret abgesagt. Den Dalai Lama werde ich wohl nie treffen.

Jetzt muss ein Kredit her, damit es mit den Angestellten weitergeht, und zwar nicht einer, der die Abhängigkeit von den Finanzhaien nur noch größer macht. Ich ertappe mich dabei, zu hoffen, dass ein amerikanischer Anwalt mich per Telefon über eine Milliardenerbschaft informiert. Warum soll ich nicht irgendwo in Connecticut eine mir völlig unbekannte, unehelich geborene, kinderlose Tante haben, die mir alles nachließ. Es wimmelt doch da von stinkreichen Leuten mit holländischen Namen. Roosevelt, van der Bilt. Nur sterben die nie kinderlos, wenn man sie braucht.

Jim und ich könnten als Edelstricher arbeiten. In höchsten Kreisen kennen wir uns ja aus. Aber damit kann man wohl nur ein paarhunderttausend verdienen, keine Millionen. Und es dauert zu lange.

Erst mal aufräumen, Wäsche sortieren, Kleidung für die nächsten Tage kontrollieren und bereitlegen. Sie tragen immer genau das Gleiche, also gibt es alles doppelt. Alles, das sind ein paar Maßanzüge für verschiedene Gelegenheiten, weiße Hemden, handgearbeitete Schuhe. Sie tragen fast nur Anzüge, auch zu Hause, abgesehen von den Overalls und Gummistiefeln für die Gartenarbeit. Sie verabscheuen Leute, die zu Hause in Jogginganzügen herumlungern. Man muss jederzeit Besucher jedes Standes empfangen können und lässt sich zu Hause nicht gehen. Außerdem tragen sie ihre Anzüge ja offenbar gern und sehen auch sehr gut darin aus. Auch Jim und ich tragen bei jeder Gelegenheit unsere dunklen Anzüge, außer beim Training.

Ich lenke mich mit dem Gedanken ab, dass Jim und ich zur Unterscheidung von unseren Chefs gar keine Knöpfe im Ohr bräuchten. Jim ist ja schwarz, und ich bin der Weiße, der nicht doppelt ist. Aber manche Leute, mit denen man zu tun hat, sind zu doof, um sowas zu verstehen. Die wollen Ärzte von Krankenpflegern am Stethoskop unterscheiden und Bodyguards von gutaussehenden Chefs am Knopf im Ohr. So ist das nun mal. Obwohl ich noch nie gesehen habe, dass so ein Stethoskop wirklich gebraucht wird. Oder sollten die damit auch Negermusik hören können?

Am Abend ist die Stimmung nicht besser als gestern. Die beiden liegen im Garten auf Bänken und reden darüber, was man noch zu Geld machen kann. Ich setze mich dazu, lege den Kopf des Einen in meinen Schoß und knete seine Weichteile mit einer Hand. Ich werfe Jim einen Blick zu, und er macht beim Anderen das Gleiche. Sie lassen es geschehen. Die Reflexe beim Schwellkörper funktionieren noch. Wir haben noch nie so die Initiative genommen; aber die beiden müssen sich endlich mal entspannen. Meiner lässt dankbar seinen Hinterkopf in meinem Schoß kreisen.

Die Georg Richters verkaufen, die sie mal für einen Appel und ein Ei gekauft haben, und die jetzt hundert Millionen wert sind? Nein, geht nicht, die haben sie ja dem Museum in ihrem Heimatort geschenkt, nicht geliehen.

„Haben wir denn gar nichts, was wir zu Geld machen können?” – „Nein, wir haben nichts, sind ja alles schon durchgegangen, und wir können auch nichts Besonderes, außer die Firma führen. Und selbst das nicht.” – „Stinklangweilig sind wir.” – „Ich wäre zu Allem bereit.” – „Ich doch auch.”

Ich mache meinem die Hose auf und bereite ihm mit der Hand ein paar schöne Viertelstunden. Jim macht es mir nach. Flecken landen auf den Anzügen; aber das macht nichts. Im Schrank hängen genug saubere. Danach wollen sie ins Bett, ohne uns.

Mir gehen diese Sätze die ganze Nacht im Kopf herum. „Haben wir denn gar nichts, was wir zu Geld machen können?” – „Nein, und wir können auch nichts Besonderes.” – „Stinklangweilig sind wir.”

Und meine eigene Zukunft? Ist das ein Zeichen, dass ich hier weg muss? Was ist das eigentlich für ein Leben? Ich war doch nach Berlin gekommen wegen der Männer. Und jetzt bin ich eigentlich Tag und Nacht im Dienst, trage nur Anzüge, mal mit, meist ohne kugelsichere Weste, bin tagsüber meist in der Firmenzentrale und sonst hier in dieser Einöde. Ich war schon ewig nicht mehr in unanständigen Kneipen und dunklen Parks, und einen Mann habe ich auch nicht.

 

Zugegeben, die Chefs sind in Ordnung. Man lebt hier gut. Ich koche gern, sie essen es gern, der Garten ist wunderschön und macht mir keine Arbeit, auch Jim ist in Ordnung, und mit ihm kann ich Holländisch reden. Dank Internet habe ich hier sogar mein NRC Handelsblad noch am selben Tage. Und beinahe wäre ich ganz nahe bei Beatrix gewesen und hätte mich vielleicht sogar getraut, den Dalai Lama anzusprechen.

Perverse Romane lese ich auch noch, und die brauche ich hier im Hause nicht einmal zu verstecken. Und wir alle schauen gerne Tatort. Ist ja doch eines der besseren deutschen Kulturprodukte. Aber das ist dann auch schon alles. Eigentlich habe ich es genau so langweilig wie ein spießiger, verheirateter Buchhalter im Reihenhaus.

Und doch will ich nicht, dass das hier alles aufhört. Und jetzt die Gelegenheit ergreifen und ne neue Stelle suchen wäre ja wohl das billigste, schäbigste. Personenschützer haben ihre Berufsehre.

Am Morgen werde ich in einem nassen, zerwühlten Bett wach und weiß: Ich hab’s! Jedenfalls muss ich das sofort versuchen. Ich lasse mir frei geben und fahre nach Adlershof, zu den Filmstudios von Dr. Brauksiepe. Wenn wahr ist, was ich über ihn gelesen habe, habe ich eine Chance, ihn persönlich zu sprechen, und er kann vielleicht helfen. Er ist ein Querdenker mit einem Netzwerk ungewöhnlicher Menschen. Wenn ich mich täusche, werde ich mich gleich fürchterlich blamieren.

In der Rezeption steht wie zu erwarten keine Dame, sondern ein junger Mann im Anzug mit Dreitagebart. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?” – „Ich möchte zu Dr. Brauksiepe.” Er schaut auf seinen Bildschirm und trommelt mit den Fingern. „Soweit ich sehe, haben Sie keinen Termin. Worum geht es?” – „Ich werde ihn zunächst oral befriedigen und ihm dann einen Vorschlag für ein Projekt machen.” – „Oral bitte was??” – „Oral befriedigen. Zicken Sie hier nicht rum! Es ist allgemein bekannt, dass jeder Angestellte und Vertreter das hier machen muss.” – „Sicher nicht jeder, Herr, eh…” Er schaut auf meine Visitenkarte. „Berkhout. Man muss schon gut aussehen und verstehen, was man macht.” – „Na, dann werden Sie ja wohl so an Ihren Job hier gekommen sein.”

Das Bürschchen hat sich wieder gefangen, grinst mich gehässig an und sagt: „So, jetzt kommen Sie bitte mal hier herum und zeigen mir unter der Theke, was Sie können. Inzwischen bemühe ich mich um einen Termin. Jedenfalls, wenn Sie etwas können.”

Das ist doch mal was Anders als die Firmengebäude, wo ich bisher mit meinen Chefs hin musste.

Während ich ihm zeige, was ich kann, kommen drei oder vier Leute, denen er den Weg weist, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Wenn er sich zwischen Computer und Telefon hin- und herbewegt, muss ich mit. Jedenfalls will ich mich nicht blamieren. Dann stoßen seine Lenden ein paarmal heftig, und er stöhnt ganz kurz auf. Danach sehe ich, dass hier unten griffbereit Papiertücher hängen. An alles ist gedacht. Und ich sehe eine Kamera mit einem roten Lämpchen. Na ja, es ist und bleibt ein Filmstudio.

Ich reinige und verpacke mein Spielzeug wieder und werde tatsächlich nach oben geschickt. Der hiesige Empfang ist auf jeden Fall besser organisiert als der in dieser Chemikalienfirma mit dem Weib mit zentimeterlangen Fingernägeln und Spachtelmasse im Gesicht. Der nähere ich mich nie mehr als auf ein paar Meter, damit ihr Parfüm nicht in meinen Anzug zieht.

Dr. Brauksiepe, der Produzent, ist dick, aber nicht unsympathisch. Er schaut auf von seinem Monitor und begrüßt mich mit den Worten: „Ich sehe, junger Mann, dass Sie sich trotz meines vollen Terminkalenders Zugang verschaffen konnten. Nicht schlecht, nicht schlecht! Nun zeigen Sie hier mal, was Sie können.” Er schwitzt, schmeckt aber weder ranzig noch nach Deo. Gar nicht mal unangenehm.

Dann erkläre ich, dass ich durch Romane, die er bestimmt kennt, weil er ja in einem sogar vorkommt, auf die Idee gekommen bin, ihn um Hilfe zu bitten. Letzte Rettung. Die beiden Stellen über Zwillinge in den Büchern haben mich beeindruckt. Weil meine Chefs ja auch eineiige Zwillinge sind.

Da ist einmal dieser Zukunftsroman, wo Homosexuelle gesetzlich zu Tieren erklärt wurden. Da hält sich eine Frau der Münchner Schickeria gutaussehende eineiige Zwillingsbrüder wie Rassehunde. Der eine darf seinen schwarzen Pelz, also Kopfhaar, Bart, viel Brusthaar, Schamhaar behalten und muss immer in die Sonne oder auf die Sonnenbank, damit er braun wird. Der andere wurde vollkommen haarlos gemacht und muss die Sonne meiden, damit seine Haut weiß bleibt. Ansonsten sind sie so dressiert, dass sie immer beide genau das Gleiche machen. Sie werden sofort bestraft, wenn sie mal nicht genau das Gleiche machen. Am meisten hat mich im Buch der Satz fasziniert: So gut unterscheiden kann man sie also nur, damit man sie unterscheiden kann. Ein vollkommen sinn- und nutzloser Unterschied, der nur dazu da ist, zu unterscheiden, was bis auf den Unterschied gleich ist. Ich verhaspele mich; aber Dr. Brauksiepe versteht, was ich meine.

Meine Chefs kann man ja gar nicht unterscheiden, weil sie genau gleich aussehen, gleich gekleidet sind und alles zusammen machen. Das ist mir in der Nacht eingefallen. Sie sind gar nicht so langweilig und gewöhnlich, wie sie gestern gesagt haben. Sie sind doppelt! „Herr Doktor Brauksiepe, ich kann mir nicht vorstellen, was sie machen würden, wenn man ihnen diese Gleichheit auf einmal wegnähme.”

Dr. Brauksiepe hört immer aufmerksamer zu. Ja, sagt er, ihn faszinieren Zwillinge genauso wie Jens, den Autor, und er würde da gern mal eine Serie oder so drüber machen.

Ja, sage ich, und dann gehen mir die Zwillinge aus dem anderen Roman durch den Kopf. Die sind auch genau gleich. Die wollen beide versklavt werden, zusammen. Das geschieht auch; aber ihre Sklavenverträge unterscheiden sich teuflisch. Einer kann nämlich weg, wenn er will, und wird dabei seinen Herrn existentiell ruinieren. Der andere kann das nicht. Wenn der eine wegläuft, verliert er seinen Bruder. Sie werden immer mit diesem Unterschied leben müssen. Solange sie nicht weg wollen, merkt man von dem Unterschied nichts. Aber jedesmal, wenn ihr Leben schwer ist, muss es sie doch furchtbar belasten, dass sie ungleich sind. Weil eine Münze geworfen wurde.

Wie gesagt, das geht mir den ganzen Morgen im Kopf herum. Und einer wie dieser Autor, der wird doch vielleicht eine Idee haben, wie man die Gleichheit meiner Chefs zu Geld machen kann. Und ihm, Dr. Brauksiepe traue ich zu, dass das im Sinne der Firmenethik der Familie Thier geschieht. „Sie trauen mir ja viel zu, junger Mann. Wie kann ich Sie erreichen?”

Am nächsten Abend schon meldet sich Dr. Brauksiepe an. Ob er mit ein paar Leuten vorbeikommen und einen Vorschlag unterbreiten dürfe. Meinen Chefs ist alles recht. Sie wollen nicht einmal wissen, was ich da eingefädelt habe, weil sie sowieso immer nur direkt verhandeln und sich nicht hintenrum erkundigen.

Der Doktor erscheint zusammen mit einem Notar und einem Psychologen, die beide auch so aussehen, und einer Art Rockertyp mit Koffer, der erst einmal zusammen mit Jim in den Garten geschickt wird. Der von mir bewunderte Autor ist nicht dabei, aber der hat inzwischen einen Plan ausgedacht.

Ich mache es kurz. Dr. Brauksiepe kann zusammen mit einem milliardenschweren Hintermann aus Benelux, der anonym bleiben will, die Firma retten, und will das auch tun, aber nur unter zwei Bedingungen.

Erstens, dass er, Brauksiepe, mit unserer Mitwirkung einige Filme und Bücher produziert und sein Hintermann unsere Erlebnisse in einer Fernsehserie verarbeitet, wobei wir auf alle Urheberrechte verzichten. Keine Angst, diese Projekte werden der Firma nicht schaden. Niemand wird sie mit dem Namen Thier in Verbindung bringen können. Es wird um Zwillinge gehen, aber nicht um große Konzerne. Ganz andere Zwillinge werden mitwirken. Der Notar kann, wenn gewünscht, erklären, dass der Persönlichkeitsschutz wasserdicht ist.