Die philosophische Therese

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Die philosophische Therese
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Die philosophische Therese

Erotische Bibliothek

Band 8

Jean Babtiste de Boyer, Marquis d'Argens

Die philosophische Therese

oder Beiträge zur Geschichte des Paters Dirrag und des Fräuleins Eradice

Erstmals erschienen 1748 unter dem Titel

Thérèse philosophe, ou mémoires pour servir à l’histoire du Père Dirrag et de Mademoiselle Éradice

Aus dem Französischen von Heinrich Conrad 1920

© Lunata Berlin 2019

Inhalt

Die Geschichte der philosophischen Therese

Die Geschichte der Frau Bois-Laurier

Fortsetzung der Geschichte der philosophischen Therese

Über den Autor

Die erotische Bibliothek

Die Geschichte der philosophischen Therese

Wie, Herr Graf, Sie wünschen allen Ernstes, dass ich meine Geschichte schreibe? Sie wünschen, dass ich die mystischen Vorgänge schildere, die sich zwischen Fräulein Eradice und dem hochwürdigen Vater Dirrag abspielten? Dass ich Ihnen von den Abenteuern der Frau C. mit dem Abbé T. erzähle? Sie verlangen von einem Mädchen, das niemals etwas geschrieben hat, eine ausführliche Beschreibung, wozu eine systematische Anordnung des Stoffes nötig ist? Sie wünschen ein Gemälde, worauf die Vorgänge, von denen ich Ihnen erzählt habe oder die wir selber mit erlebt haben, mit dem ganzen Zauber der Wollust dargestellt sind? Und Sie wünschen zugleich, dass die metaphysischen Betrachtungen mit ihrer vollen Kraft wiedergegeben werden? Wahrhaftig, mein lieber Graf, dies scheint mir über meine Kräfte zu gehen. Übrigens war Eradice meine Freundin, und Pater Dirrag war mein Beichtvater; ich schulde der Frau C. und dem Abbé T. Gefühle der Dankbarkeit. Soll ich das Vertrauen von Leuten täuschen, gegen die ich die größten Verpflichtungen habe? Denn die Handlungen der einen und die weisen Betrachtungen der anderen haben mir allmählich die Augen geöffnet und mich über die Vorurteile der Jugend aufgeklärt. Aber, sagen Sie, das Beispiel und die Belehrung haben Sie glücklich gemacht – warum wollen Sie nicht versuchen, durch Beispiel und Belehrung auch zum Glücke Ihrer Mitmenschen beizutragen? Welche Furcht hält Sie ab, Wahrheiten niederzuschreiben, die nur dem Nutzen der menschlichen Gesellschaft dienen können?

Nun, mein lieber Wohltäter, so widerstehe ich denn nicht länger: Ich werde schreiben; denkende Menschen werden die Mängel meines Stiles um meiner Aufrichtigkeit willen mir verzeihen, und aus Dummköpfen mache ich mir nicht viel. Nein, Ihre zärtliche Therese wird Ihnen niemals einen Wunsch abschlagen; Sie werden von ihrer zartesten Kindheit an in alle Falten ihres Herzens sehen; ihre ganze Seele wird sich vor Ihnen entfalten in der genauen Beschreibung der kleinen Abenteuer, die sie sozusagen ohne ihr Zutun Schritt für Schritt zum Gipfelpunkt der Wollust geführt haben.

Törichte Menschen! Ihr glaubt es in eurer Macht zu haben, die Leidenschaften zu ersticken, die die Natur euch eingepflanzt hat! Nein, sie sind Gottes Werk! Ihr wollt diese Leidenschaften zerstören, sie in gewisse enge Grenzen bannen. Wahnsinnige! Ihr gebt euch also für neue Schöpfer aus, die mächtiger sein wollen als der alte? Werdet ihr denn niemals sehen, dass alles so ist, wie es sein muss, und dass alles gut ist? Dass alles von Gott ist und nicht von euch, und dass einen Gedanken zu schaffen ebenso schwierig ist wie die Erschaffung eines Armes oder eines Auges?

Mein Lebenslauf ist ein unbestreitbarer Beweis dieser Wahrheiten. Seit meiner zartesten Kindheit hat man mir stets Liebe zur Tugend und Abscheu vor dem Laster gepredigt. Man sagte zu mir: Du wirst nur in dem Maße glücklich sein, wie du die christlichen und moralischen Tugenden übst. Alles was sich davon entfernt, ist Laster; das Laster zieht dir Verachtung zu und die Verachtung erzeugt als natürliche Folgen Scham und Gewissensbisse. – Von der Trefflichkeit dieser Lehren überzeugt, habe ich bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren mich ehrlich bemüht, nach diesen Grundsätzen zu leben. Sie werden sehen, wie weit mir dieses gelungen ist.

Ich bin in der Provinz Vencerop geboren. Mein Vater war ein guter Bürgersmann, ein Kaufmann in dem hübschen Städtchen, wo alles Lust und Freude atmet; die Galanterie scheint das Einzige zu sein, wofür die dortige Gesellschaft Interesse hat. Man liebt, sobald man zu denken beginnt und man denkt nur zu dem Zweck, sich die Wonnen der Liebe leichter zu verschaffen. Meine Mutter verband mit der Lebhaftigkeit der Frauen ihrer Heimatprovinz, die der Provinz Vencerop benachbart ist, das glückliche Temperament einer sinnlichen Venceropalin. Meine Eltern lebten sparsam von ihren bescheidenen Renten und von dem Ertrage ihres kleinen Geschäftes. Durch ihre Arbeit änderte sich nichts an dem Stande ihres Vermögens; denn mein Vater bezahlte eine junge Witwe, die in der Nähe unseres Hauses einen Laden hielt, meine Mutter aber wurde von ihrem Liebhaber bezahlt, einem sehr reichen Edelmann, der die Güte hatte, meinen Vater mit seiner Freundschaft zu beehren. Alles ging in bewunderungswürdiger Ordnung vor sich: Man wusste auf beiden Seiten, woran man war, und niemals hat eine Ehe den Eindruck größerer Einigkeit gemacht.

Nachdem zehn Jahre in so löblicher Eintracht verflossen waren, wurde meine Mutter schwanger; sie brachte mich zur Welt. Meine Geburt verursachte ihr ein Leiden, das vielleicht schrecklicher für sie war, als sogar der Tod gewesen wäre: Durch eine heftige Bewegung beim Kreißen entstand ein Riss, der sie in die traurige Notwendigkeit versetzte, für immer auf jene Freuden zu verzichten, denen ich mein Dasein verdanke.

Alles änderte sich jetzt in meinem Elternhause. Meine Mutter wurde fromm. Die eifrigen Besuche des Herrn Marquis, der seinen Abschied erhielt, hörten auf, und dafür kam der Pater Guardian der Kapuziner. Das Zärtlichkeitsbedürfnis meiner Mutter wechselte nun den Gegenstand: Sie gab aus Notwendigkeit von nun an Gott, was sie bis dahin aus Neigung und Temperament dem Marquis gegeben hatte.

Mein Vater starb, als ich noch in der Wiege lag. Meine Mutter zog aus irgendwelchen mir unbekannten Gründen nach der berühmten Hafenstadt Volnot. Die galanteste Frau war zur keuschesten, vielleicht auch tugendhaftesten geworden, die jemals gelebt.

Ich war kaum sieben Jahre alt, als meine zärtliche Mutter in ihrer unaufhörlichen Sorge um meine Gesundheit und um meine Erziehung bemerkte, dass ich zusehends abmagerte. Ein geschickter Arzt wurde gerufen und wegen meiner Krankheit befragt. Ich hatte einen unstillbaren Hunger, aber kein Fieber und keine Schmerzen; trotzdem schwand meine Lebhaftigkeit dahin, und meine Beine vermochten mich kaum noch zu tragen. Meine Mutter fürchtete für mein Leben; sie ließ mich keinen Augenblick von ihrer Seite, und ich musste in ihrem Bett schlafen. Wie groß war ihre Überraschung, als sie eines Nachts bemerkte, dass ich im Schlaf die Hand auf jenem Körperteil hatte, der uns von den Männern unterscheidet, und dass ich durch ein sanftes Reiben mir Genüsse verschaffte, die unter Mädchen von fünfzehn Jahren gang und gäbe sind, die aber einem Mädchen von sieben Jahren nicht bekannt zu sein pflegen. Meine Mutter wollte kaum ihren Augen trauen, leise hob sie Decke und Bettlaken hoch; sie holte die Lampe, die in dem Zimmer brannte, und wartete als kluge und erfahrene Frau die weitere Entwicklung ab. Es kam, wie es kommen musste: Ich bewegte mich hin und her, ich zitterte, und – der Genuss erweckte mich.

In der ersten Aufregung schalt meine Mutter mich tüchtig aus; sie fragte mich, wo ich die Gräuel gelernt hätte, die sie soeben beobachtet hätte. Ich antwortete ihr weinend, ich wüsste nicht, was ich ihr zu Leide getan hätte, und ich wüsste nicht, was sie mit den von ihr gebrauchten Ausdrücken »unanständige Berührung«, »Schamlosigkeit« und »Todsünde« sagen wollte. Die Naivität meiner Antworten überzeugte sie von meiner Unschuld. Ich schlief wieder ein. Von neuem begann ich mich zu kitzeln, von neuem schalt meine Mutter mich aus. Nachdem sie mich mehrere Nächte aufmerksam beobachtet hatte, bezweifelte sie nicht mehr, dass die Stärke meiner Sinnlichkeit mich trieb, im Schlafe zu tun, woran so viele arme Nonnen im Wachen Trost finden. Meine Mutter beschloss, mir die Hände eng zusammenzubinden, so dass es mir unmöglich war, meine nächtlichen Unterhaltungen noch weiterhin fortzusetzen.

Bald hatte ich meine Gesundheit und frühere Kraft wiedererlangt. Ich legte die übliche Gewohnheit ab, aber meine Sinnlichkeit wurde immer größer. Im Alter von neun oder zehn Jahren verspürte ich eine seltsame Unruhe, fühlte ich Begierden, deren Ziel ich nicht kannte. Mit anderen kleinen Mädchen und Knaben meines Alters war ich oft auf einem Dachboden beisammen. Dort trieben wir unsere kleinen Spiele. Einer von uns wurde zum Schulmeister erwählt; das geringste Vergehen wurde mit dem Stock bestraft. Die Knaben ließen ihre Höschen herunter, die Mädchen hoben Röckchen und Hemdchen hoch. Wir betrachteten uns gegenseitig aufmerksam; fünf oder sechs kleine Popochen wurden eins nach dem andern bewundert, gestreichelt und gepeitscht. Die Gnigni der Knaben, wie wir es nannten, waren ein Spielzeug für uns; hundertmal streichelten wir sie mit den Fingern, nahmen sie in die Hand, machten Püppchen daraus und küssten das kleine Instrument, von dessen Gebrauch und Wert wir gar keine Ahnung hatten. Dann kamen unsere Popochen dran. Auch sie wurden geküsst. Nur um den Mittelpunkt aller Freuden kümmerte niemand sich. Woher kam diese Vernachlässigung? Ich weiß es nicht. Aber so waren unsere Spiele; die einfache Natur leitete sie, ich schildere sie der Wahrheit gemäß.

 

Nachdem ich mich zwei Jahre lang diesen unschuldigen Ausschweifungen hingegeben hatte, brachte meine Mutter mich in ein Kloster; ich war damals ungefähr elf Jahre alt. Die erste Sorge der Oberin war, mich auf meine erste Beichte vorzubereiten. Ich trat ohne Furcht vor dieses Gericht, denn ich hatte keine Gewissensbisse. Dem alten Guardian der Kapuziner, der das Gewissen meiner Mutter beriet und auch mir die Beichte abhörte, sagte ich alle die dummen kleinen Sünden eines Mädchens meines Alters. Nachdem ich alle Fehler eingestanden hatte, deren ich schuldig zu sein glaubte, sagte der gute Vater zu mir: Du wirst eines Tages eine Heilige sein, wenn du wie bisher die von deiner Mutter dir eingeflößten Grundsätze der Tugend befolgst. Vor allen Dingen höre niemals auf den Teufel des Fleisches! Ich bin der Beichtvater deiner Mutter; was sie mir von deiner Neigung zur Unkeuschheit, dem gemeinsten aller Laster, erzählte, hatte mich ernstlich beunruhigt. Ich freue mich herzlich, dass sie sich geirrt hat. Die Krankheit, an der du vor vier Jahren littest, hatte sie auf diesen Gedanken gebracht; ohne ihre treue Sorge, mein liebes Kind, wärest du verloren gewesen an Leib und Seele. Ja, ich bin jetzt gewiss, dass deine Bewegungen, die sie beobachtete, unfreiwillig waren, und ich bin überzeugt, dass der Schluss, den sie daraus auf dein Seelenheil zog, irrig war.

Was mein Beichtiger mir sagte, beunruhigte mich, und ich fragte ihn, was ich denn nur getan hätte, dass meine Mutter einen so schlechten Begriff von mir bekommen hätte? Er sagte mir ohne Umstände in den deutlichsten Worten, was vorgefallen war und welche Maßregeln meine Mutter ergriffen hatte, um mir einen Fehler abzugewöhnen, dessen Folgen ich, wie er sagte, hoffentlich niemals kennenlernen würde.

Diese Worte erinnerten mich unwillkürlich an unsere bereits von mir erwähnten Unterhaltungen auf dem Dachboden. Meine Wangen bedeckten sich mit einer dunklen Röte, sprachlos senkte ich die Augen, und zum ersten Mal glaubte ich, in unseren Vergnügungen eine Sünde zu sehen. Der Pater fragte mich nach der Ursache meines Schweigens und meiner Traurigkeit; ich sagte ihm alles. Nun verlangte er alle Einzelheiten zu wissen. Die Unschuld meiner Ausdrücke, meine unbefangene Beschreibung unserer Stellungen und unserer Vergnügungen überzeugte ihn noch mehr von meiner Unschuld. Er tadelte diese Spiele, aber er tat es mit einer klugen Vorsicht, wie sie den Dienern der Kirche für gewöhnlich nicht eigen zu sein pflegt. Aber seine Ausdrücke bezeugten zur Genüge, welchen Begriff er sich von meinem Temperament machte. Fasten, Beten, Nachdenken und das Tragen eines Bußhemdes waren die Waffen, mit denen er mir fortan meine Leidenschaften zu bekämpfen befahl.

Berühre niemals, so sprach er zu mir, mit der Hand oder nur auch mit dem Blick deiner Augen jenen gemeinen Körperteil; er ist nichts anderes als der Apfel, der Adam verführt hat, er hat das Menschengeschlecht durch die erste Sünde in Verdammnis gestürzt. In ihm wohnt der Teufel, er ist sein Aufenthalt, sein Thron; lasse dich ja nicht durch diesen Feind Gottes und der Menschen überraschen. Die Natur wird bald diesen Körperteil mit hässlichen Haaren bedecken, gleich jenem Fell, das die wilden Tiere tragen, um durch diese Strafe anzuzeigen, dass du dich seiner schämen musst, dass Dunkelheit und Vergessenheit sein Los sein müssen. Noch vorsichtiger hüte dich vor jenem Stück Fleisch der jungen Knaben deines Alters, woran ihr dort oben auf dem Dachboden euren Spaß gehabt habt. Dieses Stück Fleisch, meine Tochter, ist die Schlange, die unsere gemeinsame Mutter Eva in Versuchung führte. Lass niemals deine Blicke und Finger durch dieses ekelhafte Tier besudelt werden. Es würde dich stechen und früher oder später unfehlbar dich verschlingen!

Wie, hochwürdiger Vater, antwortete ich ganz aufgeregt, ist es möglich? Kann es eine Schlange sein, und ist es wirklich so gefährlich, wie Sie sagen? Ach, mir kam das Tier so sanft vor! Es hat keine von meinen Freundinnen gebissen; ich versichere Ihnen, es hatte nur einen ganz kleinen Mund und gar keine Zähne – ich habe es genau gesehen ...

Geh, mein Kind, unterbrach mein Beichtvater mich, glaube, was ich dir sage: Die Schlangen, die du vorwitzigerweise angefasst hast, waren noch zu jung und zu klein, um das Unheil anzurichten, dessen sie fähig sind; aber sie werden länger und dicker, sie werden sich auf dich stürzen, und dann musst du die Wirkung des Giftes fürchten, das sie mit einer Art von Wut zu verspritzen pflegen: es würde dir Leib und Seele vergiften.

Nach einigen anderen Lehren gleicher Art entließ der gute Pater mich in einem Zustande eigentümlicher Ratlosigkeit.

Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Die Worte, die ich vernommen hatte, machten Eindruck auf meine Phantasie; aber der Gedanke an die hübsche Schlange wirkte viel tiefer als die Ermahnungen und Drohungen, die ich hatte anhören müssen. Trotzdem hielt ich ehrlich mein Versprechen; ich widerstand dem Antrieb meines Temperaments und wurde ein Muster von Tugend.

Welche Kämpfe, mein lieber Graf, habe ich bestehen müssen, bis ich fünfundzwanzig Jahre alt war und meine Mutter mich aus dem verdammten Kloster herausnahm! Ich war kaum sechzehn Jahre alt, als mich infolge meiner Gedanken eine krankhafte Schwäche überfiel: Ich hatte deutlich zwei Leidenschaften in mir erkannt, die ich unmöglich miteinander versöhnen konnte. Einerseits hatte ich eine aufrichtige Liebe zu Gott; ich wünschte von ganzem Herzen, ihm so zu dienen, wie man mir versicherte, dass er es verlangte. Andererseits fühlte ich heftige Begierden, ohne deren Ziel erraten zu können. Unaufhörlich sah ich das Bild der hübschen Schlange in meiner Seele; im Wachen wie im Schlafen war es, mir unbewußt, vorhanden. Zuweilen glaubte ich in meiner Aufregung, die Schlange in der Hand zu halten; ich streichelte sie, ich bewunderte ihre edle, stolze Haltung, ihre Festigkeit, obgleich ich noch nicht wusste, zu welchem Zweck diese dienen könnte. Mein Herz schlug mit erstaunlicher Schnelligkeit; auf dem Höhepunkt meiner Verzückung oder meines Traumes durchlief mich ein wollüstiges Zittern. Ich war beinahe besinnungslos. Der Apfel zog meine Hand an, mein Finger vertrat die Stelle der Schlange.

Erregt durch diese Vorgefühle der Wonne, war ich keines anderen Gedankens mehr fähig; hätte sich die Hölle vor meinen Augen auf getan, ich wäre nicht imstande gewesen, innezuhalten. Nutzlose Gewissensbisse! Ich versank ganz und gar in Wollust. Aber dann die Unruhe nachher! Fasten, Geißeln, Nachdenken waren meine Zuflucht; ich zerfloss in Tränen. Diese Mittel heilten mich allerdings von meiner Leidenschaft; aber sie zerstörten nicht nur meine Sinnlichkeit, sondern auch meine Gesundheit. Ich geriet schließlich in einen Zustand von Schwäche, der mich zusehends dem Grabe zuführte, bis endlich meine Mutter mich aus dem Kloster nahm. –

Antwortet mir, betrügerische oder unwissende Priester, die ihr nach eurem Belieben uns Verbrechen andichtet: Wer hatte die beiden Leidenschaften in mich gepflanzt, mit denen ich zu kämpfen hatte, Liebe zu Gott und Liebe zum fleischlichen Genuss? War es die Natur oder der Teufel? Entscheidet euch! Oder wagt ihr wirklich zu behaupten, dass der Teufel oder die Natur mächtiger seien als Gott? Wenn sie ihm untergeordnet sind, so musste also Gott erlaubt haben, dass diese Leidenschaften in mir waren; dann war es sein Werk.

Aber, werdet ihr mir antworten, Gott hat dir die Vernunft gegeben, um dich aufzuklären.

Gewiss, aber nicht um meinen Willen zu bestimmen. Die Vernunft hat mich allerdings die beiden Leidenschaften bemerken lassen, durch die ich bewegt war. Durch sie habe ich später begriffen, dass ich diese beiden Leidenschaften in ihrer ganzen Gewalt von Gott habe, wie ich alles von Gott habe. Aber eben diese Vernunft, die mich aufklärte, gab mir keine Willenskraft.

Aber Gott hatte dir doch die Herrschaft über deinen Willen gelassen; du warst frei, dich für das Gute oder für das Böse zu entscheiden.

Das ist ein reines Spiel mit Worten. Die Stärke dieses Willens und dieser augenblicklichen Freiheit entspricht nur der Stärke der Leidenschaften und Begierden, die uns treiben. Ich habe zum Beispiel anscheinend die Freiheit mich zu töten, mich aus dem Fenster zu stürzen. Keineswegs! Sobald die Liebe zum Leben stärker in mir ist als der Wunsch zu sterben, werde ich mich niemals töten.

Aber man ist doch gewiss der freie Herr, den Armen oder seinem mildherzigen Beichtvater hundert Goldstücke zu geben, die man in der Tasche hat.

Man ist's nicht. Wenn der Wunsch, sein Geld zu behalten stärker ist als der, eine unnütze Vergebung seiner Sünden zu erlangen, so wird man selbstverständlich sein Geld nicht hergeben. – Mit einem Wort, ein jeder kann sich selber überzeugen, dass die Vernunft nur dazu da ist, dem Menschen zu zeigen, wie stark sein Wunsch ist, dieses oder jenes zu tun oder zu lassen, und wie viel Behagen oder Unbehagen ihm dies verursachen wird. Aus dieser von der Vernunft erlangten Kenntnis ergibt sich unser sogenannter Wille. Aber dieser Wille hängt vollkommen so von dem Grade unserer Leidenschaft oder unseres Wunsches ab, wie ein Gewicht von vier Pfund notwendigerweise die Schale einer Waage zum Sinken bringt, deren andere Schale nur durch ein Gewicht von zwei Pfund belastet wird.

Aber bin ich denn nicht mein freier Herr, beim Essen eine Flasche Burgunder oder eine Flasche Champagner zu trinken? Bin ich nicht mein freier Herr, in der großen Allee der Tuilerien oder auf der Terrasse der Feuillants spazieren zu gehen?

Ich gebe zu, dass wir in allen Fällen, wo die Entscheidung unserer Seele völlig gleichgültig ist, wo unsere Wünsche, ob etwas so oder so ausfällt, sich das Gleichgewicht halten, diesen Mangel an Freiheit nicht bemerken können: In der Ferne bemerken wir eben die einzelnen Gegenstände nicht mehr. Aber treten wir diesen Gegenständen ein bisschen näher, so werden wir bald deutlich bemerken, dass die Handlungen unseres Lebens durch mechanische Gesetze bestimmt werden, und sobald wir eines dieser Gesetze kennen, werden wir sie alle kennen, denn die Natur handelt stets nach einem und demselben Grundsatz. – Sie setzen sich zu Tisch; man trägt Ihnen Austern auf, dies entscheidet Sie für den Champagner.

Aber, sagen Sie, ich hätte auch Burgunder wählen können. Es stand mir frei, dies zu tun.

Ich sage: Nein! Allerdings hätte ein anderer Beweggrund, eine andere Lust, die stärker gewesen wäre als die erste, Sie bewegen können, Burgunder zu trinken. Nun, in diesem Fall hätte eben diese zweite Lust Sie in Ihrer angeblichen Willensfreiheit gelenkt.

Sie treten in die Tuilerien ein und sehen auf der Terrasse der Feuillants eine Ihnen bekannte hübsche Frau. Sie entschließen sich, zu ihr zu gehen, es sei denn, dass ein anderer Grund Sie nach der großen Allee zieht, um dort Ihren Nutzen oder ein Vergnügen zu verfolgen. Aber, mag Ihre Wahl für diese oder jene Seite ausfallen, stets wird es ein Wunsch sein, der Sie mit unwiderstehlicher Gewalt veranlasst, unabhängig von Ihrem Willen diesen oder jenen Entschluss zu fassen.

Um zugeben zu können, dass der Mensch frei ist, müsste man annehmen, dass seine Entschlüsse aus ihm selber hervorgehen; wenn er sich aber je nach der mehr oder weniger großen Leidenschaft entschließt, womit ihn die Natur und seine Sinne begabt haben, so ist er nicht frei: die größere oder geringere Stärke eines Wunsches bestimmt ihn so unwiderstehlich, wie ein vierpfündiges Gewicht ein dreipfündiges hochschnellt.

Und ferner frage ich Sie: Was hindert Sie, über diese Frage ebenso zu denken wie ich, und warum kann ich mich nicht entschließen, darüber ebenso zu denken wie Sie? Ohne Zweifel werden Sie mir antworten, dass Ihre Gedanken, Ihre Begriffe, Ihre Empfindungen Sie zwingen, so zu denken, wie Sie es tun. Diese Erwägung aber muss Sie innerlich überzeugen, dass es nicht in Ihrem Belieben steht, ebenso zu denken wie ich, und dass es nicht von mir abhängt, ebenso zu denken wie Sie, und darum müssen Sie wohl zugeben, dass wir nicht nach unserem Belieben so oder anders denken können. Wenn wir aber nicht die Freiheit des Denkens besitzen, wie könnten wir dann in Freiheit handeln? Das Denken ist ja die Ursache, das Handeln ist nur die Wirkung. Kann aber aus einer nicht freien Ursache eine freie Wirkung hervorgehen? Dies wäre ein Widerspruch in sich selbst.

Um uns vollends von dieser Wahrheit zu überzeugen, wollen wir uns von der Fackel der Erfahrung erleuchten lassen: Gregor, Dämon und Philint sind drei Brüder, die von denselben Lehrern bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren erzogen worden sind; sie haben sich niemals verlassen, sie haben die gleiche Erziehung, den gleichen Unterricht in Moral und in der Religion erhalten. Trotzdem liebt Gregor den Wein, Dämon liebt die Frauen und Philint ist fromm. Was hat nun den Willen dieser drei Brüder in dreifach verschiedener Weise bestimmt? Die Kenntnis des moralisch Guten und Bösen kann es nicht sein, denn sie hatten von denselben Lehrern dieselben Lehren erhalten. Jeder von ihnen hatte also in sich selber verschiedene Grundsätze und verschiedene Leidenschaften, und durch diese wurde trotz der Gleichförmigkeit der erworbenen Kenntnisse ein verschiedener Wille ausgebildet. Ich gehe noch weiter: Gregor, der den Wein liebte, war der ehrenhafteste Mensch, der unterhaltendste Gesellschafter, der beste Freund, wenn er nicht getrunken hatte; sobald er aber den Zaubertrank im Leibe hatte, wurde er boshaft, verleumderisch, händelsüchtig; er hätte mit Wonne seinem besten Freund den Hals abgeschnitten. War nun Gregor freier Herr über diese Willensänderung, die sich plötzlich in ihm vollzog? Nein, ganz gewiss nicht; denn bei kaltem Blut verabscheute er die Handlungen, die er im Weinrausch hatte begehen müssen. Einige Dummköpfe bewunderten allerdings die Enthaltsamkeit Gregors, der die Frauen nicht liebte, die Nüchternheit Dämons, der den Wein nicht liebte, und die Frömmigkeit Philints, der weder Frauen noch Wein liebte, aber dasselbe Vergnügen wie die beiden andern in seiner Neigung zur Frömmigkeit fand. So betrügen die meisten Menschen sich selber mit ihren eigenen Begriffen von den menschlichen Lastern und Tugenden.

 

Hieraus folgt: Die Art der Organe, die Verteilung der Fibern im Körper, eine gewisse Bewegung, das Vorhandensein von Säften – dies alles bestimmt die Art unserer Leidenschaften; der Grad ihrer Stärke bestimmt unseren Willen bei den wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens. Und so gibt es leidenschaftliche Menschen, weise Menschen, verrückte Menschen. Der Verrückte ist nicht mehr oder weniger frei als die beiden andern, denn er handelt nach denselben Grundsätzen. Die Natur ist immer gleich. Wenn wir annehmen, dass der Mensch frei sei und seinem eigenen Willen folge, so setzen wir ihn damit Gott gleich.

Doch zurück zu meiner Geschichte!

Wie ich bereits sagte, nahm mich meine Mutter beinahe sterbend aus dem Kloster, als ich dreiundzwanzig Jahre alt war. Mein ganzer Körper war erschöpft; mit meiner gelben Haut, meinen fahlen Lippen glich ich einem lebenden Skelett. Die Frömmigkeit hätte mich zur Selbstmörderin gemacht, wenn ich nicht im letzten Augenblick in das Haus meiner Mutter zurückgekehrt wäre. Ein tüchtiger Arzt, den sie in mein Kloster schickte, hatte sofort den Ursprung meiner Krankheit erkannt. Jener göttliche Saft, der uns die einzige körperliche Wonne verschafft, die einzige Wonne, deren Genuss keine Bitterkeit hinterlässt – jener Saft, dessen Erguss Menschen von gewissem Temperament ebenso notwendig ist wie die Aufnahme von Nahrungsmitteln –, jener Saft war aus den Gefäßen, die zu seiner Aufnahme bestimmt sind, in andere Gefäße übergetreten, und dadurch war mein ganzer Körper in Unordnung geraten. Man riet meiner Mutter, mir einen Gatten zu suchen; dies sei das einzige Mittel, um mir das Leben zu retten. Sie sprach freundlich mit mir darüber, aber ich war völlig in meinen Vorurteilen befangen und antwortete ihr schroff, ich wolle lieber sterben als Gott missfallen, indem ich eine Ehe einginge, denn dies sei eine verächtliche Sache, die er nur in seiner großen Güte dulde. Alle Gründe, die sie vorbrachte, erschütterten mich nicht; meine geschwächte Natur ließ keine Wünsche mehr für diese Welt, ich sehnte mich nur noch nach dem Glück, das man mir dort in der andern verheißen hatte.

Ich setzte also mit ungeheurem Eifer meine frommen Übungen fort. Man hatte mir viel von dem berühmten Pater Dirrag erzählt; ich suchte ihn auf, er wurde mein Gewissensrat, und sein eifrigstes Beichtkind, Fräulein Eradice, wurde bald meine beste Freundin.

Sie kennen, mein lieber Graf, die Geschichte dieser beiden berühmten Persönlichkeiten; ich denke nicht daran, Ihnen alles zu wiederholen, was die öffentliche Meinung von ihnen weiß und von ihnen gesagt hat; aber ein eigentümlicher Vorfall, dessen Zeugin ich war, wird Sie vielleicht ergötzen und wird dazu beitragen, Sie zu überzeugen, dass Fräulein Eradice, wenn sie sich auch schließlich mit vollem Bewusstsein den Umarmungen des Muckers preisgegeben hat, doch jedenfalls lange Zeit von ihrer eigenen wollüstigen Frömmigkeit betrogen worden ist.

Fräulein Eradice war meine zärtlichste Freundin geworden; sie vertraute mir ihre geheimsten Gedanken an. Wir trieben die gleichen frommen Übungen, wir dachten vollkommen gleich, und wir hatten vielleicht auch das gleiche Temperament; durch dies alles wurden wir unzertrennlich. Wir waren beide tugendhaft, und unsere herrschende Leidenschaft war der Wunsch, für fromm zu gelten, noch mehr aber, schließlich sogar Wunder zu vollbringen. Diese Leidenschaft beherrschte meine Freundin so mächtig, dass sie mit der Standhaftigkeit der ersten christlichen Blutzeugen alle möglichen Foltern ertragen haben würde, wenn man ihr eingeredet hätte, es könnte ihr dadurch gelingen, einen zweiten Lazarus von den Toten zu erwecken. Pater Dirrag besaß im höchsten Maße die Gabe, sie alles glauben zu machen, was er wollte.

Eradice hatte mir mehrere Male mit einer Art von Eitelkeit gesagt, der Pater teile sich nur ihr ganz und gar mit; bei den vertraulichen Unterhaltungen, die sie oft in ihrem Hause hätten, habe er ihr versichert, sie brauche nur noch wenige Schritte zurückzulegen, um eine Heilige zu werden; dies habe Gott ihm in einem Traum enthüllt; hierdurch habe er klar und deutlich erkannt, dass sie demnächst die größten Wunder verrichten würde, wenn sie fortführe, Tugend zu üben und das Fleisch abzutöten.

Eifersucht und Neid findet man in allen Ständen der Menschen; aber fromme Jungfrauen sind vielleicht am empfänglichsten dafür.

Eradice bemerkte, dass ich auf ihr Glück eifersüchtig war und dass ich sogar an ihre Erzählungen nicht zu glauben schien. Ich war allerdings über ihre Berichte von seinen vertraulichen Gesprächen mit ihr um so mehr erstaunt, als der Pater es stets vermieden hatte, mit mir im Hause einer seiner Büßerinnen ähnliche Gespräche zu führen. Diese Büßerin war ebenfalls meine Freundin und war wie Eradice stigmatisiert. Ohne Zweifel waren mein trauriges Gesicht und meine gelbe Haut dem ehrwürdigen Vater nicht anregend genug erschienen, um ihn in die notwendige Stimmung für seine geistlichen Arbeiten zu versetzen. Ich war ärgerlich darüber: Für mich gab es keine Stigmata, für mich keine vertraulichen Frömmigkeitsübungen! Meine Verdrießlichkeit wurde sichtbar, ich tat, wie wenn ich an die Erzählungen meiner Freundin überhaupt nicht glaubte.

Hierüber regte Eradice sich auf; sie erbot sich, mich schon am nächsten Morgen zur Augenzeugin ihres Glückes zu machen. Du wirst sehen, sagte sie feurig zu mir, wie kräftig meine geistlichen Übungen sind, wie der gute Vater von einem Grade der Buße zum anderen mich dem Ziel entgegenführt, eine große Heilige zu werden, und du wirst nicht mehr an den Ekstasen und Verzückungen zweifeln, die eine Folge eben dieser Übungen sind. Möchte doch, meine liebe Therese, mein Beispiel an dir das erste Wunder wirken, dass es kraft geistlichen Nachdenkens deinen Geist völlig dem Stoff abwendet und zu Gott allein hinführt!

Am anderen Morgen ging ich der Verabredung gemäß schon um fünf Uhr zu Eradice. Ich fand sie im Gebet, ein Buch in der Hand. Sie sagte zu mir: Der heilige Mann wird gleich kommen und Gott mit ihm. Verbirg dich in jenem Kämmerchen; von dort aus kannst du hören und sehen, wie weit durch die fromme Sorge unseres Beichtvaters seine göttliche Güte für ein niedriges Geschöpf sich erstreckt.

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