Ich will brennen

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Ich will brennen
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Jasmin Winter

Ich will brennen

Flucht aus der heilen Welt

Roman

Texte: © Copyright by Kathrin Reinprecht

Umschlaggestaltung: © Copyright by Kathrin Reinprecht

Verlag:

Kathrin Reinprecht

kathrin.reinprecht@gmail.com

Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Für Christina

Schwieriger Start

Kapitel 1

„They tried to make me go to Rehab, but I said no, no, no“ -

Amy Winehouse

Die Tür fällt zu. Jetzt ist es so weit: ich bin allein. Liege auf dem Bett in einem Zimmer der Klinik Roseneck am Chiemsee, das in den nächsten Wochen und Monaten mein zu Hause sein wird. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich breche erst einmal in ein leises Schluchzen aus und steigere mich in einen nicht mehr enden wollenden Heulanfall. Verzweifelt, eingerollt wie ein Embryo, lasse ich mich völlig fallen und gebe mich meinem Elend hin. Ich hatte mir das Aufnahmeverfahren schlimm vorgestellt und so war es auch. Knallhart. Fragen, die ich zu beantworten hatte. Und ich habe Antworten gegeben über intime und persönliche Details, die ich noch nie zuvor laut ausgesprochen hatte und auch mir selbst gegenüber nicht eingestehen wollte. Ja, ich hatte definitiv ein Problem (oder mehrere?) und das galt es nun in den Griff zu bekommen.

Am Morgen war ich aufgeregt und müde nach einer schlaflosen Nacht angekommen. Mein Freund Andi hatte mich in die Klinik gebracht und meine zwei großen Reisetaschen hineingetragen. Verschiedene ärztliche Untersuchungen und „Befragungen“ folgten, bis hin zum großen Moment der Wahrheit: das Wiegen. Die Waage sagte 41,2 Kilo. Wenig. Aber doch immer noch zu viel. Ich hatte es nicht geschafft grazil und zart zu werden. So war ich nun einmal: untergewichtig laut Definition, gefühlt aber immer noch zu dick und plump. Ein Foto wird gemacht, damit mich die Schwester und der seltsame Mann, der die Station C3 betreut, auch erkennen und dann bin ich erlöst. Zurück in meinem Zimmer verabschiede ich mich von Andi und bin nun auf mich allein gestellt. Ja, ich möchte etwas ändern und gesund werden, denn so kann es nicht weitergehen. Andererseits fällt es mir wirklich schwer, loszulassen und mein lang erkämpftes niedriges Gewicht aufzugeben.

Wieder einmal ein Zwiespalt, der mich quält. Wie so oft in meinem bisherigen jungen Leben fühle ich mich innerlich zerrissen. Gefangen zwischen Extremen, zwischen Schwarz und Weiß. Gesund werden oder krank bleiben? Doch warum wurde ich krank?

Rückblick

Es begann alles im Februar 1986. Ich wurde als Jasmin Winter geboren, ein Kind von zwei Akademikern. Meine Eltern hatten sich auf dem Gymnasium in meiner Heimatstadt kennengelernt, drei Jahre Altersunterschied. Nach dem Abitur studierten sie beide in München und lebten dort mit einem Freund in einer Wohngemeinschaft. Danach wurde geheiratet und ein Kind bekommen. Alles so, wie sich das nun einmal gehörte, wie „man das eben machte“ und es „normal“ war – in einer Kleinstadt und zu dieser Zeit. Vier Jahre später kam dann mein Bruder zur Welt. Wir waren eine ganz normale Familie. Der Vater musste früh los zur Arbeit und kam spät wieder. Vermisst haben wir ihn nicht. Die Mutter war an der örtlichen Grundschule, die ich auch besuchte, als Lehrerin tätig. Zu Mittag wurde bei meiner Oma gegessen, die uns Kinder natürlich sehr verwöhnte. Wir bekamen immer, was wir wollten, mussten nie essen, was uns nicht schmeckte. Ich war ein schlankes Mädchen und stolz darauf. Auch hörte ich gerne, wenn meine Oma sich Sorgen machte, ich könnte magersüchtig werden. Das hieß, ich war schlank, ohne dass ich etwas dafür tun musste. Schließlich aß ich einfach alles, worauf ich Lust hatte, ich war ein Kind und es gab keinerlei Veranlagung zu Übergewicht.

Mit der Zeit, etwa als ich zwölf Jahre alt war, entglitt diese vermeintlich heile Welt. Ich bemerkte, dass mein Vater, wenn er abends nach Hause kam, ein Bier nach dem anderen trank. Ich hörte das Zischen beim Öffnen der Erdinger Weißbier-Flasche und vernahm das Klackern des Getränkekastens, als er eine leere Flasche zurückstellte, um sich daraufhin eine neue zu holen, um diese wieder zu öffnen. Bei jeder Mahlzeit zierte ein Weizenglas unseren Esstisch. Außer beim Mittagessen an den Wochenenden. Da wurde gerne auch einmal eine Flasche Wein geleert. Mein Vater hatte Probleme. Deutlich bewusst wurde mir dies, als sich der Standort seines Arbeitsplatzes um ca. 100 Kilometer weiter weg verlagerte. Nun stand eine Entscheidung an. Sollte die ganze Familie umziehen? Wir weigerten uns. Ich hatte Freunde gefunden, war fest eingebunden in die Musikschule der Stadt und auch meine Mutter wollte bleiben. Für meinen Vater hieß das nun, dass er noch weniger zu Hause bei seiner Familie sein konnte als bisher. Er nahm sich ein kleines Appartement auf dem Gelände seiner Firma, wo er als Bauingenieur unterrichtete und zudem die Position des stellvertretenden Chefs innehatte. Dort war er jemand. Er hatte Macht und genoss diese auch, was man an seinen Geschichten aus der Arbeit, die er zu jeglichen Feiern erzählte, erkennen konnte. Einmal während der Woche und dann an den Wochenenden kam er nach Hause zu seiner Familie und sorgte dort für Anspannung. Vor seiner Ankunft wurde fieberhaft das Haus in Ordnung gebracht und aufgeräumt. Schon allein das Geräusch, welches das Garagentor, direkt unter meinem Zimmer gelegen, verursachte, ließ in mir das Gefühl von Panik aufkommen. Streit über die Unordnung meiner Mutter und die Untätigkeit meines Vaters an den Wochenenden stand regelmäßig auf dem Plan. Sie wollte etwas erleben, hinausgehen und Unternehmungen mit Bekannten vereinbaren, während er lieber zu Hause bleiben und in seinem Garten oder auf der Terrasse relaxen wollte. Die Atmosphäre war angespannt und ich verließ mein Zimmer nur zu den gemeinsamen Mahlzeiten, die natürlich Pflicht für alle Familienmitglieder waren.

Heute

Auch hier in der Klinik sind die drei Mahlzeiten am Tag Pflicht und ich werde dabei nun akribisch beobachtet. Die ca. 25 Mädels (inklusive zwei Jungs) unserer Station sitzen an drei Tischen, davon einer der Familientisch für die Fortgeschrittenen. Es ist beim Frühstück und Abendessen genau festgelegt, welcher Tisch welcher Station wann aufstehen und Essen fassen darf (oder besser muss?). Heute bei meinem ersten Abendessen in der Klinik sind wir vier Neuankömmlinge. Wir sind uns auf einen Schlag sympathisch, die neue Situation schweißt uns zusammen. Da gibt es einmal die zehn Jahre ältere Daniela (Bulimie), die beim Finanzamt arbeitet und mit ihrer Vergangenheit als Pflegekind zu kämpfen hat. Sie scheint eine lustige Person mit trockenem Humor zu sein, was mir auf Anhieb gut gefällt. Daniela ist weder dick noch dünn, sondern wie man so schön sagt: normal gebaut. Ungefähr im gleichen Alter ist Liane, eine groß gewachsene junge Frau, die ihr Haar auch kurz trägt. Liane hat bereits einen längeren Klinikaufenthalt hinter sich und möchte ihre Magersucht und die damit verbundene Sucht nach Sport völlig überwinden. Im richtigen Leben arbeitet sie als Lehrerin und nach einiger On-Off-Zeit hat sie auch schon ihren Mann fürs Leben gefunden. Dann ist da noch Laura, eine pummelige 18Jährige, die nur eben mal die drei Wochen Auszeit hier mitnehmen will, bevor ihr neues Leben in London beginnt. Laura macht einen sehr sympathischen Eindruck und versichert uns mit fester Überzeugung, dass sie eigentlich keine „richtige“ Essproblematik habe und irrtümlich hier gelandet sei. Diese drei Mädels schließe ich sofort in mein Herz und ich bin einfach nur froh, nicht die einzig Neue hier zu sein. Vor und nach dem Essen wird „geblitzt“. Das heißt, wir benennen unsere Gefühle und was uns heute beschäftigt. Zwei Brote mit Butter und Belag sind die Auflage, die es zu bewältigen gilt. Einige Mädchen weinen. Als „Neue“ muss die Mindestmenge noch nicht gegessen werden, erst in den nächsten Tagen soll gesteigert werden. Ich esse ein Brot und habe noch Hunger. Aber ich unterdrücke es, schließlich will ich nicht zu viel zunehmen und drin bleiben sollte es auch. Die Angst vor der Waage am nächsten Tag dominiert meine Gedanken, bis ich endlich erschöpft in den Schlaf falle.

Kapitel 2

„I am beautiful, no matter what they say!“ - Christina Aquilera

Die nächsten Tage in der Klinik plätschern ruhig dahin, schließlich ist es kurz vor Weihnachten und das Personal läuft auf Sparflamme. Auf dem Programm stehen ausnahmslos die Mahlzeiten, beginnend mit dem Frühstück. Dabei wird streng überwacht, dass jede die erforderliche Menge (zwei Semmeln mit Butter und Belag) zu sich nimmt. Das Mittagessen wird bereits portioniert an den Platz gebracht und es ist bei einigen stark untergewichtigen Mädchen sogar erwünscht, dass sie Nachschlag verlangen. Auch die Nachspeise, meist ein Pudding mit sehr unangenehmer Konsistenz, bei dem mir schon übel wird, wenn ich nur daran denke, muss zumindest mit drei Löffeln probiert werden. Ich halte mich an die Regeln, nehme mir aber fest vor, niemals Nachschlag zu verlangen und vom ekligen Pudding nie mehr als zwingend erforderlich zu essen. Abends läuft es dann ähnlich wie beim Frühstück, nur dass es statt zwei Semmeln nun drei Brote (bei neuen Patientinnen sind vorerst auch zwei Brote erlaubt) mit Belag sind. Da es sonst keine anderen Termine gibt, bleibt viel Zeit zum Grübeln. Wo stehe ich gerade in meinem Leben?

Rückblick

Nach dem Abitur 2005, also vor gut drei Jahren, bin ich nach Hannover gezogen und habe mein Studium begonnen: Pädagogik und Soziologie. Ich bin eine fleißige und zuverlässige Studentin und hatte eigentlich auch vor, meinen Abschluss vor Ablauf der Regelstudienzeit zu schaffen. Das kann ich nun auf Eis legen, weil ich hier in der Klinik bin, was als Urlaubssemester wegen Krankheit gilt. Während der Semesterferien habe ich Praktika absolviert, um mich von meinen immer stärker werdenden Depressionen abzulenken. Es fehlt nur noch meine Magisterarbeit und die Prüfung, dann wäre ich fertig. Es ärgert mich sehr, dass ich so kurz vor dem Ziel nun eine Zwangspause einlegen muss. Aber Andi und dessen Mutter haben mich quasi erpresst. Im Laufe meiner Beziehung mit Andi hat sich meine Essstörung manifestiert, was sicher auch damit zusammenhängt, dass in meiner eigenen Wohnung mein Essverhalten von niemandem kontrolliert wurde. In den letzten Wochen und Monaten war es wirklich so schlimm, dass sich alle meine Gedanken nur noch um Essen drehten: „Woher bekomme ich viel Essen für möglichst wenig Geld? Was esse ich wann? Wann habe ich „Zwangs-Esspause“, weil ich die Pille nehme und mich die Stunden danach nicht übergeben darf? Was ist eine normale Portion, die ich in der Öffentlichkeit vor anderen essen darf?“ Zudem stellte ich mich nach jeder Mahlzeit auf die Waage, um sicher zu gehen, dass ich nicht zugenommen hatte. Dieses Spiel „Essen - Wasser trinken - Kotzen - Wiegen - Wasser trinken - Kotzen - Wiegen“ beschäftigte mich den ganzen Tag bis zur völligen Erschöpfung. Klar muss das aufhören! Aber trotzdem wollte ich zuerst mein Studium beenden. Doch diese Wahl ließen mir die beiden (Andi und seine Mutter) nicht. Auf der Feier von Andis 30. Geburtstag im August setzten sie mir das Messer auf die Brust: Entweder ich lasse mir jetzt helfen oder sie werden meine Eltern über meinen Zustand informieren. Puh, Horror! Meine Eltern sollten natürlich auf keinen Fall etwas von meinen Problemen mitbekommen, das würden sie sowieso nicht begreifen können und – was viel ausschlaggebender als Verständnis ihrerseits ist – was würden denn da die Nachbarn denken? Das geht doch gar nicht! Die gute heile Familie, in der alles in Ordnung ist und dann so was! Die Tochter in einer Klinik? Nein, niemals!

 

So war das. Psychische Probleme existierten in meiner Familie nicht. Dabei gab es inzwischen allen Grund dazu, sich damit auseinander zu setzen. Ich war zum Zeitpunkt meiner Abiturprüfungen sehr instabil und wusste mit dem Druck und sämtlichen anderen Belastungen nicht mehr anders umzugehen als mich selbst zu verletzen. Lange habe ich versucht meine Schnittwunden zu verstecken, doch es wurde Sommer und meine Eltern konnten schließlich Blicke auf meine Arme und Beine erhaschen. Von seitens meiner Mutter kam nie eine Reaktion, wohingegen mich mein Vater zum Gespräch zitierte. Ich solle doch damit wieder aufhören und auch die Tabletten (Antidepressiva, die ich mir heimlich vom Neurologen und Psychiater meines Vertrauens habe geben lassen) nicht mehr nehmen. Keine Fragen, kein Interesse, wieso ich das tat, wie es dazu gekommen ist. Es zählte nur der äußere Schein. Also hörte ich damit auf. Aus Angst vor meinem Vater. Besser ging es mir dadurch natürlich nicht. Im Gegenteil! Es war mein Ventil gewesen, das mir Erleichterung schaffte. Ein tiefer Schnitt mit der Rasierklinge, dann das fließende Blut und der Adrenalinstoß mit dem Schmerz und ich fühlte mich lebendig. Am liebsten zelebrierte ich meine Selbstverletzung – auch Ritzen genannt – in der Badewanne, wo sich das Wasser dann langsam rot färbte und das heiße Wasser in den frischen Wunden noch einmal zusätzlich schmerzte. Aber nun tat ich das nicht mehr, das Ritzen war Vergangenheit und somit hatte ich keine sichtbaren Wunden mehr, also ging es mir wieder gut. So ist das in unserer Gesellschaft.

Eine weitere Geschichte, die eindeutig auf psychische Krankheiten in unserer Familie hinweist, war mein Cousin. Dieser hatte bereits im Alter von 19 Jahren versucht sich das Leben zu nehmen, indem er sich zu viel (oder zu wenig?) Insulin spritzte. David war Diabetiker und wurde zum Glück zufällig am Morgen noch rechtzeitig gefunden. Dass dies ein Suizidversuch war, wurde natürlich vertuscht und nicht thematisiert. Stattdessen tat man das als Unfall ab und ging nicht mehr weiter darauf ein. Von nun an nahm er Medikamente und war besonders gut drauf. Er lebte noch weitere 4 Jahre, bis es dann bei seinem zweiten Versuch geklappt hat. Die ganze Familie fiel aus allen Wolken, als wir erfuhren, dass sich mein 23jähriger Cousin vor einen Zug geworfen hatte. Auch bei mir löste diese Nachricht im Januar dieses Jahres eine Verschlechterung meines Zustandes aus. Ich konnte nicht mehr weinen und war von nun an gleichgültig und verschlossen und verlor mich immer weiter in meiner Depression und Essstörung. Psychische Probleme existierten also sehr wohl in unserer Familie, doch was sollte noch alles passieren, damit diese wahrgenommen werden?

Heute

Durch meine – wenn auch nicht ganz freiwillige – Entscheidung, mir in einer psychosomatischen Klinik helfen zu lassen, habe ich das Muster durchbrochen. Das Bild der heilen Familie ist nun gänzlich zerstört. Ich bin nun also die sichtbar gewordene Störung. Ich bin nicht normal und ich will, dass alle das sehen können. Dennoch ist es aber an der Zeit, etwas zu ändern und neu zu beginnen. Davor habe ich Angst, weil das auch bedeutet, dass ich irgendwann wieder Verantwortung für mein Leben übernehmen muss. Dieses Nichts-Tun nervt unglaublich. Ich muss das Wochenende abwarten, bis wieder Termine (außer Essen) auf dem Plan stehen. Andererseits bin ich auch so froh, hier zu sein. Endlich muss ich nicht mehr funktionieren und etwas leisten. Außerdem kann ich Abstand bekommen und mich um mich kümmern. Wer bin ich wirklich und was brauche ich jetzt? Bin ich auf dem richtigen Weg oder muss ich mich völlig neu orientieren? So viele Fragen, die sich hoffentlich in den nächsten Einzeltherapiesitzungen klären lassen.

Kapitel 3

„I´m Mrs. she´s too big, now she´s too thinn.“ - Britney Spears

Nachdem das erste Wochenende in der Klinik geschafft ist, läuft langsam mein Alltag für die nächsten Monate an. Montags findet nach dem Frühstück immer die Stationsversammlung in der Kanzel, wie die gemütliche Sitzgruppe auf unserer Station genannt wird, statt. Dort sitzen wir alle gemeinsam auf den großen Eckbänken, die Ärzte, Therapeuten und Pfleger auf Stühlen uns gegenüber und wir besprechen den Verlauf der letzten Woche. Es geht ganz schön zur Sache und wer es nicht schafft, über oder zumindest auf seiner Gewichtskurve zu liegen, muss sich hier vor allen dazu äußern. Nach dem Mittagessen habe ich meine erste Gruppentherapie. Alles ist aufregend und neu, ich lerne langsam meine Mitpatientinnen und meine Mitpatienten kennen. Es gibt viel Erschreckendes zu sehen. Zum ersten Mal begegne ich Mädchen, die unter 40 Kilo wiegen, mit einem BMI von 13 und zwei werden sogar mit einer Magensonde ernährt, die über einen Schlauch durch die Nase die Kalorien direkt in den Magen transportieren. Der Schritt vor der Magensonde ist das Einnehmen eines hochkalorischen Getränks, das auch manche mehrmals täglich trinken müssen. Ich komme mir im Vergleich dazu so gar nicht krank vor, was mich fast etwas enttäuscht, weil ich auch das nicht richtig geschafft habe. Da sind tatsächlich andere, die die Essstörung um Welten besser perfektioniert haben als ich! Vielleicht verstehe ich mich deshalb besonders gut mit der Gruppe, die zeitgleich mit mir angekommen ist. Liane, Daniela und Laura sind alle nicht (mehr) anorektisch und wir sind uns eine gute Stütze, leiden und lachen gemeinsam.

Nach der Gruppentherapie werde ich zum EKG gerufen, meine Werte sind nicht in Ordnung. Ich erfahre, dass ich Kaliummangel habe und nun täglich Brausetabletten nehmen muss. Kaliummangel kann laut Ärztin dazu führen, dass mein Herz versagt und ich einfach tot umfalle. Etwas mulmig wird mir bei dem Gedanken schon: ich habe mit meinem Leben gespielt! Durch die Mangelernährung und die Bulimie habe ich meinen Elektrolythaushalt derart durcheinandergebracht, dass ich hätte sterben können. Nun bin ich erleichtert und froh, dass ich hier angekommen bin und mir endlich helfen lasse. Nach meiner ersten Einzeltherapie verfalle ich in richtige Hochstimmung: es kann mir gar nicht schnell genug gehen. Endlich kann ich mit jemandem über alles sprechen. Ich möchte gesund werden und bemühe mich auch um die Erlaubnis, schwimmen gehen oder mich anderweitig sportlich betätigen zu dürfen. So groß ist meine Angst, dass ich unkontrolliert zunehme. Auf der einen Seite möchte ich ja gesund werden und diese ganze Essproblematik endlich hinter mir lassen, andererseits will ich dabei schlank bleiben. Also warum fange ich nicht gleich damit an und stähle meinen Körper! Hihi, da muss ich wirklich selbst lachen! Ich bekomme die Erlaubnis, zunächst zweimal wöchentlich 15 Minuten schwimmen zu gehen – wegen meines noch zu niedrigen Body-Mass-Index´. Aber der Anfang ist gemacht und ich bin wirklich motiviert.

Doch meine gute Stimmung hält nicht lange an. Mit der Einnahme der Antidepressiva habe ich erst begonnen, da dauert es noch mindestens zwei Wochen, bis die Wirkung einsetzt. Außerdem steht Weihnachten vor der Tür. Den heiligen Abend verbringe ich allein in meinem Zimmer und mit einem kurzen Spaziergang am See. Abends sitzen die letzten verbliebenen Mädchen bei entspannter Stimmung in der Kanzel. Ich bin froh, dass ich hier sein kann und mich nicht verstellen muss. Hier kann ich so sein, wie ich bin, ich muss nicht funktionieren. Weihnachten zu Hause bedeutet vor allem viel Stress. Wer verhält sich nicht richtig, wer sagt das Verkehrte, habe ich in der Kirche vielleicht einmal mit den Augen gerollt? So viel Druck und Äußerlichkeiten. Andererseits werde ich auch etwas wehmütig, weil ich die Rituale trotz allem vermisse.

Rückblick

Seit frühster Kindheit an verlief bei uns der Heilige Abend nach dem gleichen Muster. Am Nachmittag wurde der Baum geschmückt und dann fuhren wir gemeinsam in die Kirche. Früher habe ich im Kinderchor und dann in der Jugendkantorei gesungen, genau wie meine Mutter auch schon in ihrer Jugend. Danach warteten wir in unseren Kinderzimmern gemeinsam mit Oma und Tante Lina. auf die Bescherung. Diese wurde dann durch das Klingeln der Glocke verkündet. Voller Vorfreude auf die Geschenke gingen mein Bruder und ich die Treppe ins Wohnzimmer hinunter, welches im Glanz des Kerzenlichtes erstrahlte. Wir sangen gemeinsam einige Weihnachtslieder und packten dann die Geschenke aus. Nach dem Essen widmeten wir uns unseren neuen Spielzeugen, Computerspielen usw., während die Erwachsenen noch einige Gläschen alkoholische Kaltgetränke zu sich nahmen, bis mein Vater schließlich auf der Couch einschlief und meine Mutter unsere Gäste nach Hause fuhr.

Heute

Ich bin sehr erleichtert, dass das alles dieses Jahr ohne mich stattfindet und ich hier in der Klinik am Chiemsee in Sicherheit vor dieser anstrengenden Außenwelt bin. Doch schon am 1. Weihnachtsfeiertag werde ich frühmorgens auf der Waage aus meiner schönen heilen Welt gerissen. Die Waage zeigt 44 Kilo, das sind 2,1 Kilo mehr als beim letzten Mal und bedeutet natürlich den absoluten Weltuntergang für mich. Ich male mir aus, wie dick ich wohl werde, wenn ich in diesem Tempo weiter mache. Absolute Panik und das an einem Feiertag. Kein Therapeut anwesend, keine Gespräche möglich. Ich kann in meinem Zimmer sitzen oder am See spazieren gehen. Bis auf meine Mitpatientinnen bin ich völlig auf mich allein gestellt und die haben natürlich auch mit sich zu kämpfen. So ist das hier: jeder hat sein Päckchen zu tragen.

Am Nachmittag kommt mich dann Andi besuchen. Wir verstehen uns gut, tauschen Weihnachtsgeschenke aus und unterhalten uns einige Stunden, bis er schließlich wieder nach Hause fährt. Den restlichen Abend verbringe ich mit den wenigen Mädels, die wie ich über die Feiertage in der Klinik bleiben, und ich merke, dass ich deren Gesellschaft mehr genießen kann als die von Andi. Ich fühle mich frei und ungezwungen, das erste Mal seit Jahren!

Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester vergehen eher schleppend, es passiert nichts und ich bin gefrustet, weil es mir viel zu langsam geht, abgesehen von der Gewichtszunahme. Zwischen den Jahren finden keine Therapien statt. So gerne würde ich endlich alles anpacken und vorankommen. Ein weiteres Ereignis ist der Silvesterabend. Diesen möchte ich gerne zu Hause verbringen. Die Vorbereitungen für die erste Heimfahrt seit meinem Klinikaufenthalt wühlen mich auf und ich stehe dem Ganzen zwiespältig gegenüber. Letztendlich organisiere ich die Zugfahrt und versuche dann in der kurzen Zeit meines Aufenthalts, möglichst viele Menschen zu sehen. Andi holt mich vom Zug ab und wir treffen uns in Amberg in einer Kneipe mit guten Freunden (Caro und Leif), schauen im Anschluss kurz im Jugendtreff der Stadt vorbei und fahren dann nach Hause. Wie jedes Jahr zu Silvester gibt es Raclette und ich komme erstaunlich gut zurecht mit dem Essen. Kurz vor Mitternacht besuchen wir dann die Geschwister von Andi und feiern dort das neue Jahr. Am Neujahrstag machen wir zunächst einen Abstecher zu seinen und dann zu meinen Eltern und endlich geht es für mich wieder zurück in meine wohlbehütete Käseglocke. Ich bin unendlich froh, wieder zurück in meinem Zimmer zu sein und merke, dass mir der ganze Stress da draußen in der „echten“ Welt viel zu viel ist und es noch dauern wird, bis ich bereit bin, mich dem zu stellen.