Rabenschreie

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JANINE M. SENKEL

Rabenschreie

Janine M. SENKEL

Rabenschreie

Deutschsprachige Erstausgabe April 2015

Copyright

Rabenschreie© 2015 by Janine M. SENKEL

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-4391-0

RABENSCHREIE

Ich widme dieses Buch meiner Freundin Sylvia, die ich schon

eine halbe Ewigkeit kenne und mit der ich so viel erlebt habe.

Ich danke ihr für all diese schönen Augenblicke und hoffe,

dass dieses Buch ihr auch einige schöne Momente beschert.

Was bisher geschah

Nachdem Shania herausgefunden hatte, wer hinter dem Tod

von Ian, dem damaligen Oberhaupt des Rabenclans, steckte,

hätte ihr Freund Raven der nächste Anführer werden sollen,

doch nachdem er Shania einen Heiratsantrag gemacht hatte,

beschloss der Rat zunächst, seinen Bruder Kris dafür

auszuwählen, da ein Oberhaupt ein anderes Clanmitglied

heiraten musste. Für Saya und Kris bedeutete es das Ende

ihrer kurzen Beziehung und nachdem die Vampirin eine

letzte Nacht mit ihrem Rabenmann verbracht hatte, traf sie

Eric, einen kleinen Jungen, der von grausamen Blutsaugern

gequält und schließlich verwandelt wurde. Er war nicht das

einzige Opfer der drei Vampire. Bald schon fanden Saya,

Shania und Aniola noch weitere Kinder, denen das gleiche

Schicksal widerfahren war. Ohne lange zu fackeln,

entschied Saya sich, eine Vampirschule zu gründen, um die

Kinder zu lehren, mit ihrer neuen Situation umzugehen. Es

war ein voller Erfolg und ihre Schützlinge machten große

Fortschritte. Um zu verhindern, dass es noch mehr Kindern

so gehen würde, machten die Freundinnen sich auf die

Suche nach den Tätern und begegneten dem Erzengel

Gabriel, so wie seinem Sohn Aleksiel, einem gefallenen

Engel. Gabriel hatte eine besondere Anziehung auf Saya

und da diese Kris um jeden Preis vergessen wollte, ließ sie

sich auch ein Stück weit auf ihn ein, vor allem nachdem sie

von Rebecca, Kris Exfreundin, erfahren musste, dass sie es

war, die er heiraten sollte. Der Rat hatte es beschlossen und

es traf auch diese beiden unerwartet. Niemals hätten sie ihre

Beziehung nochmals aufwärmen wollen, doch der Rat sah

das anders. Bevor sich Saya allerdings komplett auf den

Erzengel einlassen konnte, funkte besagter Rabe dazwischen

und wollte mit ihr reden, jedoch hatte Saya noch andere

Verpflichtungen und stürzte sich erstmal in die Arbeit mit

ihren Schützlingen und die Vorbereitung für Shanias

Hochzeit. Als Aleksiel, Gabriels Sohn und mittlerweile ein

guter Freund von Saya, auftauchte und ihr von neuen Spuren

erzählte, versammelten sich alle umgehend im ‚Bat in the

Moon‘, ihr Stammlokal in Harrow on the Hill. Gerade als sie

Pläne schmiedeten, die Täter auszuschalten, hörten sie ein

Kind schreien und als sie hinausrannten, trafen sie

ausgerechnet auf die drei Blutsauger. Es war ein harter

Kampf und die Vampire waren so stark, dass sie beinahe alle

von ihnen außer Gefecht setzten. Saya war am Ende als

Einziges übrig, doch sie war von den Erinnerungen an ihre

Vergangenheit wie gelähmt. Ihr war es genauso wie den

Kindern gegangen. Auch sie war von Vampiren gefoltert,

gewandelt und zurückgelassen worden. Das Trauma drohte

sie zu beherrschen und sie konnte nicht kämpfen. Bevor der

Vampir sie jedoch töten konnte, tauchte Kris aus heiterem

Himmel auf und besiegte ihn. Saya brach vollkommen

erschöpft zusammen. Nachdem sie wieder vollkommen

genesen war, stand Shanias Hochzeit an und es war ein

wundervolles Fest. Auf der Party, nahm Kris sie beiseite und

erklärte ihr, dass Rebecca den Rat überzeugen konnte, die

Bräuche zu ändern und sich der modernen Zeit anzupassen.

Im Umkehrschluss bedeutete das, dass Kris sie nicht

heiraten musste und mit Saya zusammen sein konnte. Raven

würde nun wieder seinen rechtmäßigen Platz als Nachfolger

einnehmen. Freudig fielen sich die beiden um den Hals,

doch sie wurden von Raven unterbrochen, der aufgelöst auf

sie zukam. Shania war verschwunden. Nach der Hochzeit

hatte sie keiner mehr gesehen. Was war mit ihr geschehen?

1

Raven schritt im Wohnzimmer auf und ab. Er konnte keinen

klaren Gedanken mehr fassen. Shania war nun seit einem

halben Jahr wie vom Erdboden verschluckt. Kein

Lebenszeichen. Nichts. Als sie nach der Hochzeit nicht mehr

auffindbar war, gingen alle davon aus, dass es sich um eine

Brautentführung handelte, aber da sonst niemand fehlte und

auch keiner Bescheid zu wissen schien, glaubte Raven nicht

daran und er hatte Recht behalten. Sie war noch immer

verschwunden und alle machten sich große Sorgen. Er

konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, er musste die

ganze Zeit daran denken, was ihr alles zugestoßen sein

konnte. Einige verbreiteten das Gerücht, sie wäre mit einem

anderen Mann durchgebrannt, aber Raven wusste, dass sie

das niemals getan hätte. Abgesehen davon wäre es ziemlich

unklug, das erst nach der Hochzeit zu machen. Verzweifelt

ließ er sich die Wand entlang nach unten gleiten, bis er

zusammengesunken am Boden kauerte. Tränen rannten

seine Wangen hinab und tropften lautlos auf den

Holzfußboden. Er konnte nicht mehr stark sein, sich

zusammenreißen und so tun, als würde ihm das alles nichts

ausmachen. Er gab sich vollkommen seinen Gefühlen

hin. Verzweiflung, Angst, Trauer, Schmerz, all das empfand

er und es drohte ihn zu zerreißen.

Ein schrilles Läuten riss ihn aus seinen Gedanken und ließ

ihn aufschrecken. Hastig wischte er die Tränen aus seinem

Gesicht und eilte zur Tür. Diese quietschte leise, als er sie

langsam öffnete und hinausspähte. Sein Gesicht entspannte

sich und seine ganze Haltung wurde lockerer. Jeder einzelne

Muskel, der angespannt war, schien nun wieder zu

erschlaffen. Ein Hoffnungsschimmer huschte über Ravens

Gesicht, als er die Frau erblickte, die vor der Tür stand.

Sicherlich wäre er glücklicher gewesen, wenn er Shania

gegenüber gestanden hätte, aber er war sich durchaus

bewusst, dass dies nicht einfach so geschehen würde. Er war

sich ziemlich sicher, dass sie in Gefahr war, zumal ihm ihre

beste Freundin erzählt hatte, was sie von dem Vampir

erfahren hatte, mit dem sie vor einem halben Jahr gekämpft

hatte. Es war einer von drei abtrünnigen Vampiren gewesen,

die Kinder gefoltert und sie in Vampire verwandelt hatten.

Der Codex der nachtwandelnden Geschöpfe verbot es

ausdrücklich, sich an Kinder zu vergreifen, da diese niemals

altern könnten, aber manche Vampire hielten sich nicht an

die Gesetze. Vor allem nicht, wenn sie, wie diese drei

Blutsauger süchtig waren. Sie waren aber nicht einfach

süchtig nach Blut, nein, es war viel schlimmer. Sie hatten

Engelsblut gekostet und das war die stärkste Droge, die es

für Schattenwesen gab. Nichts konnte einen Vampir mehr

abhängig machen, als das Blut eines Engels. Warum

ausgerechnet Engelsblut wusste Raven auch nicht, das hatte

ihn Saya nicht erklärt. Es war möglich, dass auch sie es nicht

wusste. Die drei Blutsauger haben sich aber nicht nur des

Blutrausches wegen an den Kindern vergriffen, wie er nun

erfahren hatte. Es steckte jemand viel Mächtigeres dahinter,

der eine Armee aus Vampirkindern aufstellen wollte. Junge

Vampire ohne Erfahrung und Kontrolle waren stark und sehr

gefährlich, gerade wenn sie noch Kinder waren. Der

 

Überlebensinstinkt trieb sie an und das wollte man

ausnutzen. Bisher konnten sie noch nicht herausfinden, wer

dahintersteckte, aber es war ziemlich sicher, dass es mit

Shanias Verschwinden zu tun hatte, schließlich war es

unmittelbar nach diesem Fall geschehen. Vermutlich wollte

jemand verhindern, dass man ihm auf die Spur kam, oder

womöglich hatte seine Ehefrau und Hexe bereits was

herausgefunden und musste deswegen aus dem Weg

geräumt werden. Er mochte gar nicht daran denken. Schnell

schob er die schrecklichen Gedanken beiseite und

betrachtete die junge Frau, die vor seiner Tür stand.

Rotbraune Haare hingen ihr ins Gesicht und sie hatte sich

offenbar nicht die Mühe gemacht, sich großartig schick zu

machen, denn sie steckte lediglich in einfachen schwarzen

Jeans und einem grau-schwarzen Top, dass sich lässig an

ihren Körper schmiegte. Ohne sie weiter zu mustern, trat er

auf die Seite und bat sie hinein. Ruhig schritt Saya an dem

Ehemann ihrer besten Freundin vorbei, eilte schnurstracks

aufs Wohnzimmer zu und ließ sich auf die Couch nieder.

Nur wenige Sekunden später stand auch Raven im Raum

und setzte sich auf den Sessel ihr gegenüber. Mit betrübter

Miene starrte er sie an und sie erwiderte seinen traurigen

Blick. Sie traf es nicht weniger schlimm, dass ihre Freundin

verschwunden war und sie machte sich auch Vorwürfe, weil

sie sie in die Sache mit den Vampiren hineingezogen hatte.

»Hast du Neuigkeiten?« Hoffnungsvoll sah er die Vampirin

an, diese schüttelte jedoch ein wenig geknickt ihren Kopf.

»Leider nein.« Beide seufzten unisono und Saya beugte

sich ein wenig nach vorne, ihren Kopf auf ihre Hände

gestützt. »Allerdings habe ich mit den anderen gesprochen

und wir haben uns entschlossen, dass untätiges Herumsitzen

nichts bringt-« Raven nickte zustimmend. »-und wollen

deswegen eine Suchaktion starten.«

Die Augen des Rabenmannes weiteten sich, als er von dem

Plan hörte. »Wie wollt ihr das anstellen?« Wäre es

umgekehrt gewesen und eine der Vampirfrauen wäre

verschwunden, so dass Shania nach ihnen hätte suchen

wollen, wäre das sicherlich kein Problem gewesen. Als Hexe

hatte sie ihre Methoden, bestimmte Personen ausfindig zu

machen. Für einen Vampir war das Ganze bei Weitem

schwieriger. Sie haben zwar einen ausgeprägten

Geruchssinn und auch alle anderen Sinne waren bei den

Schattenwesen ausgeprägter, als bei anderen, aber dennoch

half es in diesem Fall nicht viel weiter. »Ehrlich gesagt,

wissen wir das auch noch nicht so wirklich« Kleinlaut

gestand die Vampirin, dass ihr Plan Lücken hatte, doch als

sie seinen entmutigten Blick sah, fügte sie noch etwas hinzu.

»Aber wir werden eine Lösung finden. Das tun wir immer.«

Raven nickte, doch Saya konnte sehen, dass er nicht gerade

zuversichtlich war. Es verletzte sie. Nicht nur, weil er der

Mann ihrer besten Freundin war, sondern auch weil er

seinem Bruder so ähnlich sah. Dem Bruder, den sie über

alles liebte und der genau in diesem Augenblick bei ihr

zuhause auf sie wartete und sich ebenfalls den Kopf

zerbrach, wie man Shania finden könnte. Sie, die durch die

Nacht wandelte, wollte keinerlei Zeit verlieren und zu ihm

zurückkehren, weswegen sie Raven noch ein letztes Mal

aufmunternd auf die Schulter klopfte, bevor sie sich

abwandte, um aus der Tür zu entschwinden. Kurz bevor sie

die Schwelle erreicht hatte, hielt sie die Stimme ihres

Schwagers in Spe zurück. »Kannst du bitte nach Aniola

sehen? Ich habe sie ewig nicht mehr gesehen und mache mir

Sorgen. Ich weiß doch, wie sehr Shania an ihren

Freundinnen hängt und sie würde es mir nie verzeihen, wenn

ich mich nicht ausreichend um euch gekümmert hätte.« Saya

drehte sich noch einmal kurz herum, setzte ein zaghaftes

Grinsen auf und nickte. Dann verschwand sie endgültig und

ließ Raven in seiner tiefen Trauer zurück. Er stützte sich an

der Wand ab, um nicht wieder zusammenzubrechen. Er

würde der Anführer seines Clans werden, er durfte keine

Schwäche zeigen. Doch das gelang ihm nur mit größter

Mühe, denn Shania bedeutete ihm alles und ihr

Verschwinden riss ihm den Boden unter den Füßen weg. Es

gab nur eine Person, die verstand, wie er sich fühlte und das

war sein Bruder Kris. Denn dieser hatte vor einem halben

Jahr genauso gelitten, wie er, als er dachte, er hätte Saya für

immer verloren. Als er annahm, er müsste eine andere Frau

heiraten – Rebecca, wie der Rat entschieden hatte – und es

gäbe keinen Ausweg. Doch den gab es. Ihnen war es

schließlich gelungen, den Rat davon zu überzeugen, dass die

alten Bräuche längst verstaubt wären und so hatte dieser

entschieden, dass man nicht innerhalb des Clans heiraten

müsste, weswegen nun auch wieder Raven der Nachfolger

seines Vater war und nicht Kris. Doch im Augenblick fühlte

sich der Rabe alles andere als ein Anführer. Er war schwach

und gebrochen. Eine leichte Beute für Feinde. Er schüttelte

sich. Er durfte nicht im Selbstmitleid versinken, dass würde

Shania auch nicht helfen. Saya hatte Recht. Sie konnten

nicht einfach tatenlos zuhause herumsitzen, während ihre

Freundin – beziehungsweise Ehefrau - womöglich in großer

Lebensgefahr schwebte. Wenn er doch nur wüsste, wie es

ihr ging. Wenn er nur die leiseste Ahnung hätte, wo sie war.

Er malte sich aus, wie sie in einer kalten verlassenen

Lagerhalle auf einem Stuhl gefesselt und geknebelt saß und

mehrere zwielichte Personen um sie herum lungerten.

Vermutlich planten sie schon das Erpresservideo oder

dergleichen. Unsinn, dachte er sich. Wäre es um Lösegeld

gegangen, hätten sich die Täter doch schon längst gemeldet

und sich nicht erst ein halbes Jahr Zeit gelassen. Aber was

war dann der Grund für all das? Egal was es war, sie

mussten sie finden, bevor ihr die Entführer etwas antun

konnten, Hoffentlich war es noch nicht zu spät, dachte

Raven verzweifelt.

*

Es war nass und feucht und es tropfte sogar von der Decke

herab. Seit einer halben Ewigkeit war sie nun schon in

diesem trostlosen Loch eingesperrt. Sie kauerte in der

hintersten Ecke auf einer alten modrigen Matratze, die auf

dem Boden lag und weinte zahlreiche Tränen in die Ärmel

ihres Oberteils. Die Beine eng an sich gezogen und fest

umschlungen, saß sie nur da und schluchzte vor sich hin. Es

war schon ein Wunder, dass sie überhaupt noch genügend

Flüssigkeit besaß, um zu weinen. Seit etlichen Monaten

hatte sie kein Tageslicht mehr erblickt. Sie wünschte sich so

sehr, die Sonne auf ihrer Haut zu spüren. Im Gegensatz zu

Vampiren, konnten Hexen in der Sonne wandeln, doch auch

sie bevorzugten die Dunkelheit und als Windmagierin,

mochte Shania kühleres und vor allem stürmisches Wetter

sowieso viel lieber. Der Herbst war ihre Jahreszeit. Doch im

Augenblick wollte sie einfach nur die Sonne auf ihrer Haut

fühlen. Sie stellte sich vor, wie die Strahlen sie wärmten und

alles in helles warmes Licht tauchten. Nie hätte sie geglaubt,

dass sie die Sonne so vermissen würde, doch das tat sie. Wie

mussten sich dann erst die Vampire fühlen. Sie konnten sich

der Sonne niemals wieder aussetzen. Es sei denn, sie wollten

unbedingt verbrennen, aber das war dann doch eher selten

der Fall. Ihre Handgelenke brannten höllisch und sie konnte

den metallischen Geruch von Blut riechen. Die engen

Fesseln hatten sich ganz tief in ihr Fleisch gebohrt und es

war noch schlimmer geworden, als sie anfangs versucht

hatte, sich daraus zu befreien. Das hatte sie inzwischen

längst aufgegeben. Viel zu lange war sie hier bereits

gefangen. Es mussten Wochen – nein, Monate sein. Sie hatte

jegliches Zeitgefühl verloren und die Schmerzen trieben sie

beinahe in den Wahnsinn. Es waren nicht nur ihre

Handgelenke, die durch die Fesseln wund waren, ihr Rücken

pochte und schmerzte, als hätte man sie mit einer

Eisenstange geschlagen und ihr alle Rippen gebrochen. Die

ständige Dunkelheit machte ihr ebenfalls zu schaffen.

Manchmal war sie sich nicht einmal sicher, ob es wirklich

immer dunkel war, oder sie ihr Augenlicht verloren hatte.

War es Tag oder Nacht? Sommer oder Winter? Sie wusste es

nicht und es machte sie wahnsinnig. Ob ihre Freunde sich

Sorgen machten? Ob sie nach ihr suchten? Oder hatten sie

sie schon aufgegeben? Sie wusste noch nicht einmal genau,

was geschehen war. Sie erinnerte sich an ihre Hochzeit.

Tränen rannten ihre Wangen hinab, als sie an den Tag

dachte und daran, dass sie ihren frisch gebackenen Ehemann

womöglich nie mehr wiedersehen würde. Das einzige, was

sie noch wusste, war, dass sie sich auf der Party nach der

Zeremonie etwas zu essen holen wollte und dann wurde

alles schwarz. Als sie wieder aufwachte, fand sie sich

gefesselt wieder an diesem dunklen Ort. Sie wusste noch

nicht einmal, ob es ein Keller, ein Lagerraum, eine Garage

oder sonst etwas war. Ab und zu kam en zwei Männer

herein. Vampire. Das hatte sie vom ersten Moment an

gespürt. Bestätigt wurde es ihr, als sich ihre langen

Fangzähne in ihr Fleisch bohrten. Sie diente ihnen als

Nahrungsquelle. Eingesperrt in einem dunklen Raum, nur

um Vampiren ihr Blut zu geben, wenn diese gerade hungrig

waren. Sie schluchzte. Wo war sie da nur hineingeraten? Als

sie an Nahrung dachte, wurde ihr wieder der Schlauch

bewusste, der in ihrer linken Hand steckte und über den sie

künstlich ernährt wurde, um am Leben gehalten zu werden.

Super! Nicht einmal die Hoffnung, dass sie verhungern

würde und dann endlich frei von diesem Ort wäre, könnte

wahr werden. Seufzen. Sie hatte zudem großen Appetit auf

richtiges Essen. Das konnten diese Schläuche bei Weitem

nicht ersetzen. Wenn sie irgendwann doch befreit werden

würde, dann wollte sie erstmal eine große Portion Cottage

Pie verspeisen.

Dann hörte sie plötzlich Schritte. Schritte, die ihr nur allzu

gut bekannt waren und von den Männern stammten, die sie

tagtäglich besuchten. Zumindest dachte Shania, dass sie

jeden Tag, beziehungsweise jede Nacht, kamen. Man verlor

so schnell jegliches Zeitgefühl, wenn man für lange Zeit in

einem dunklen Raum eingesperrt war. Sie hörte, wie der

Schlüssel sich im Schloss umdrehte und sich die schwere

Tür quietschend öffnete. Gänsehaut breitete sich am ganzen

Körper der Hexe aus. Sie wusste, was passieren würde, denn

es war jedes Mal das Gleiche. Sie konnte sie nicht sehen,

aber dennoch nahm sie den modrigen Geruch war, der von

den beiden Männern ausging. Sie kannte sie nicht. Sie

wusste nicht, wer sie waren, aber ihre Auren waren düster

und kalt. Shania wusste nicht wieso, aber sie hatte seit

Anfang an das Gefühl, dass mehr hinter der Sache steckt.

Mehr als nur diese beiden Blutsauger, die sie als

Nahrungsquelle nutzten. Sie musste rausbekommen, um was

es hierbei ging und für wen sie arbeiteten. Vermutlich hatte

es mit dem Fall zu tun, den sie zuvor bearbeitet hatte. Die

drei Vampire, die sich an Kinder vergriffen hatten. Waren es

ihre Freunde gewesen? Wollten sie Rache? Doch Shania

konnte diese Gedanken nicht weiter ausführen, denn schon

 

waren die zwei dunklen Gestalten bei ihr und sie konnte die

Fangzähne an ihrem Hals spüren. Sie sagten keinen Ton.

Das taten sie nie. Weinend und schmerzerfüllt brach sie

zusammen, als die Vampire sich erneut an ihr labten.

2

Es war eine wunderbar angenehme milde Frühlingsnacht.

Eine leichte Brise wehte durch Aniolas Haar und sie konnte

die Blumen riechen, die auf den Wiesen erblühten.

Manchmal wünschte sie, sie könnte wenigstens einmal noch

einen Tag erleben. Sehen, wie die Pflanzen in voller Pracht

erstrahlten, die warme Sonne auf ihrer Haut spüren, Kinder,

die auf den Wiesen Fußball spielten und alles, was sie

nachts nie zu Gesicht bekam. Sie mochte ihr Dasein als

Vampir wirklich und nach 250 Jahren hatte sie sich auch

sehr gut daran gewöhnt, aber dennoch überkam sie ab und

an ein wenig Wehmut bei dem Gedanken, was sie alles

verpasste, was sie nie wieder machen konnte. Sie

schlenderte die Straße entlang. Kein Auto fuhr um diese Zeit

mehr durch Pinner, nur Busse kamen ab und zu vorbei. Es

war sehr ruhig in dieser Nacht. Alle schienen zu schlafen

und kein Licht brannte mehr in den Häusern. Sie lief an

sämtlichen Altersheimen vorbei, die es in dieser Gegend wie

Sand am Meer gab. Alle wurden strengstens bewacht,

überall waren Kameras angebracht und Schilder, auf denen

verdeutlicht wurde, dass man sich nicht auf das Grundstück

zu begeben hatte, wenn man nicht berechtigt dazu war.

Vampire gab es hier kaum welche. Diese versteckten sich

alle ein Stück weiter in Harrow. Sie wären auch äußerst

dumm gewesen, hier auf Jagd zu gehen, wenn die Kameras

alles aufzeichnen würden. Die Menschen durften auf keinen

Fall etwas von Vampirangriffen oder ähnlichem

mitbekommen, denn das würde die ganze Gemeinschaft der

übernatürlichen Wesen erschüttern und Chaos würde

ausbrechen. Der Codex verbot jegliche Taten, die

Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnten. Natürlich hielten

sich nicht alle Vampire an diese Regeln, wie zum Beispiel

die drei Blutsauger, die vor einem halben Jahr Kinder

gewandelt hatten, was ebenfalls strengstens verboten war. In

solchen Fällen gingen Aniola und ihre Freundinnen auf

Jagd, auch wenn es seltsam für sie war, Artgenossen zu

töten, aber wenn sie die Gesetzte missachteten, musste das

sein. Shania war vor ihrem Verschwinden diejenige

gewesen, die sich um all das gekümmert hatte, denn als

Hexe war es ihre Aufgabe, sich um die Belange aller

übernatürlichen Wesen zu kümmern, die Geheimnisse zu

wahren, Streitereien zu schlichten und sie vor der

Entdeckung zu schützen. Als sie spurlos verschwunden war,

hinterließ das ein großes Loch. Von der emotionalen Leere,

die sie bei Aniola und en anderen hinterlassen hatte,

abgesehen, war es auch ein großer Verlust für die

Gestaltwandler, Vampire und andern Wesen. Aniola, Shina

und Saya kümmerten sich so gut es ging, um die wichtigsten

Angelegenheiten, aber auch sie hatten ihre Grenzen. Sobald

es um etwas ging, wobei Magie eine Rolle spielte, mussten

sie passen. Aniola hoffte sehr, dass sie Shania bald finden

würden. Saya hatte den Plan nach ihr zu suchen, doch sie

fragte sich, wo man mit dem Suchen denn anfangen sollte.

War sie denn überhaupt noch in London? Sie wussten doch

noch nicht einmal, ob sie noch lebte und warum sie

verschwunden war. Saya vermutete eine Entführung und

Aniola war im Großen und Ganzen auch davon überzeugt,

aber sie wussten es nicht hundertprozentig, denn schließlich

hatte sich nie jemand bei ihnen gemeldet und wollte

Lösegeld oder dergleichen. Aniola wusste nur, dass sie alles

dransetzen mussten, ihre Hexenfreundin so schnell wie

möglich zu finden. Bevor sie sich aber weitere Gedanken

darüber machen würde, wie sie das anstellen könnte,

brauchte sie erste einmal Nahrung. Als der nächste Bus

direkt neben ihr an einer Bushaltestelle stehen blieb, zog die

Vampirin ihre Oyster Card hervor und stieg ein. Sie hatte

keine Lust mehr durch ganz Pinner zu laufen, bis sie Harrow

erreichte. Sie war zwar als Vampir sehr schnell, aber die

Kräfte wollte sie sich lieber für die Jagd aufsparen,

außerdem war die Gefahr sehr groß, dass eine der Kameras

zufällig aufzeichnen könnte, wie sie in extrem schnellem

Tempo die Straße hinunterpreschte und das wollte sie nicht

riskieren. Einige Minuten später erreichte sie auch schon

Harrow & Wealdstone. Ein paar Lichter ringsum waren

noch an, ansonsten war es stockfinster. Nicht einmal die

Sterne waren zu sehen, oder der Mond. Aniola starrte

nachdenklich Richtung Himmel und sah dann auf das

Display ihres Handys. Tatsächlich, dachte sie, es war

Neumond. Sie war nicht vom Mond abhängig, aber trotzdem

interessierte sie sich für die verschiedenen Mondphasen, da

es für sie einen gewissen mystischen Reiz hatte. Außerdem

wusste sie, dass der Mond dennoch einen großen Einfluss

auf die Natur und auch auf einige übernatürliche Wesen

hatte. Das hatte ihr zumindest Shania einmal erzählt. Bei

dem Gedanken an die Hexe schnürte es ihr die Kehle zu.

Was sollte sie bloß tun?

Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, kam ihr

ein schäbig aussehender Mann entgegen. Er trug zerrissene

Jeans und einen alten schmutzigen Mantel, der einige

Löcher und Flicken hatte. Mit einer Bierflasche in der

rechten Hand taumelte er ganz dicht an ihr vorbei und

Aniola spürte sofort, wie er in ihre Jackentasche griff und

den kleinen schwarzen Geldbeutel herauszog. Elender

Taschendieb, fluchte sie in sich hinein! Normale Menschen

hätten es gar nicht bemerkt, schon gar nicht, weil er besoffen

an einen vorbeitorkelte, dass man es nicht weiter

verwunderlich fand, wenn er einen streifte, doch Aniola war

kein Mensch. Ihre Vampirsinne waren geschärft und sie

bemerkte so etwas sofort. Sie sog die Luft tief ein und ihr

fiel außerdem auf, dass der Mann überhaupt keine

Alkoholfahne hatte. Dennoch stolperte er durch die Gegend,

sang und lallte. Das passte nicht zusammen und sie musste

kein Detektiv sein um zu erkennen, dass die Trunkenheit nur

gespielt war und als Tarnung für den Taschendiebstahl

fungierte. Nun stieg Zorn in ihr auf. Sie verabscheute solche

Menschen. Im nächsten Moment bemerkte sie einen Laut,

der aus den Tiefen ihres Magens kam und realisierte, dass

sie in dieser Nacht noch überhaupt keine Nahrung zu sich

genommen hatte und eigentlich hier war, um jagen zu gehen.

Sie warf den angeblich besoffenen Mann einen Blick

hinterher, der gerade singend auf die Tube Station

zutaumelte. Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht der

Vampirfrau aus. Sie hatte ihr Opfer gefunden. Nur den

Bruchteil einer Sekunde später stand sie auch schon vor dem

Mann, der abrupt stehen blieb und sie fassungslos ansah.

Noch immer versuchte er den Schein zu wahren und den

Besoffenen zu mimen, doch sein schockierter Blick verriet

ihn. Wäre er betrunken, hätte er keine oder nur wenig

Reaktion gezeigt. Hungrig und immer noch ein wenig zornig

über den Diebstahl ihres Geldbeutels sah sie ihn mit grünlich

funkelnden Augen an. Der Mann begann zu schwitzen, umso

länger Aniola ihm in die Augen sah und sein ganzer Leib

zitterte, so sehr, dass er sogar die leere Bierflasche fallen

ließ. »Wir spielen also den verwahrlosten Säufer, um andere

heimlich auszurauben, ja?« Die Missbilligung in ihrer

Stimme war deutlich rauszuhören. Ängstlich starrte der

Mann sie an, seine Augen weit aufgerissen und er bekam

kaum ein Wort heraus. »W-wer wer s-sind S-sie?« Doch

dieses Gestammel war das Letzte, was aus seinem Mund

kam, denn schon hatte Aniola ihre Zähne in sein Fleisch

gebohrt und stillte ihren Hunger an seinem köstlich süßen

Blut. Sie war ganz froh, dass er nichts getrunken hatte,

sondern nur so tat, denn erstens hatte sie selbst jetzt keine

Lust auf einen Rausch, da sie noch einiges zu erledigen hatte

und zweitens schmeckte durch Alkohol verunreinigtes Blut

einfach nicht so gut. Sie musste zugeben, das Blut dieses

Kleinganoven war gar nicht so übel, wie sie gedacht hatte.

Zwar hatte sie schon besseres getrunken, aber es war

dennoch rein und nicht durch irgendetwas verunreinigt. Es

war nicht einmal fettig, obwohl sie hätte schwören können,

dass er sich hautsächlich von Burger ernähre. War wohl bloß

ein dummes Vorurteil. Sie spürte, wie ihre Kräfte wuchsen

mit jedem Schluck, den sie nahm. Sie fühlte sich plötzlich

wieder so lebendig und voller Energie. Energie, die sie jetzt

sehr gut gebrauchen konnte, denn sie würde sich sofort auf

den Weg zu Saya machen und mit ihr die weitere

Vorgehensweise bezüglich Shania besprechen. Als sie genug

Blut zu sich genommen hatte, ließ sie den schlaffen Körper

auf den harten Boden fallen. Leblos krachte er auf den

Asphalt. Seine Haut war bleich und die Augen standen noch

immer vor Entsetzen weit offen. Aniola sah auf die Leiche

des Mannes herab, den sie gerade komplett ausgesaugt und

somit getötet hatte. Normalerweise nahm sie nur so viel

Blut, wie sie benötigte, doch in dieser Nacht brauchte sie all

das Blut und der Mann war ein Verbrecher, der es ihrer

Meinung nach auch nicht anders verdient hatte. Ok, Mord

war vielleicht etwas heftig, aber immerhin war er kein

Unschuldiger. Sie wusste aber auch, dass es nicht gut wäre,

ihn hier einfach blutleer und mit Vampirbissen am Hals

liegen zu lassen, denn das würde nur die Aufmerksamkeit

auf sich ziehen und das war etwas, was kein Wesen wollte.

Entdeckt werden. Es war sogar strengstens verboten,

irgendetwas zu tun, was zur Enthüllung ihrer Spezies oder