Pitaval des Kaiserreichs, 2. Band

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Pitaval des Kaiserreichs, 2. Band
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Hugo Friedländer

Pitaval des Kaiserreichs, 2. Band

Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Vergangenheit

Pitaval des Kaiserreichs, 2. Band

Hugo Friedländer

Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Vergangenheit

Impressum

Texte: © Copyright by Hugo Friedländer

Umschlag: © Copyright by Walter Brendel

Verlag: Das historische Buch, 2022

Mail: walterbrendel@mail.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz

Der Hochverratsprozeß gegen Liebknecht, Bebel und Hepner

Das Dynamit-Attentat bei der Enthüllungsfeier des Niederwald-Denkmals

Die Ermordung der achtjährigen Lucie Berlin

Prozeß Leckert-Lützow

Die Vorkommnisse in der Fürsorgeanstalt Mieltschin

Ein verbrecherischer Arzt

Die Oldenburgischen Spielerprozeße

Die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz

Die im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts stattgefundene Judenverfolgung hatte in den verschiedensten Städten Pommerns zu argen Ausschreitungen gegen das Leben und das Eigentum der Juden geführt. Die Wohnungen und Läden der Juden wurden teilweise vom Mob arg beschädigt und geplündert, die Juden auf den Straßen schwer mißhandelt. Im Januar 1881 brannte an einem Freitag vormittag in Neustettin die Synagoge ab. Da wenige Tage vorher der Berliner antisemitische Agitator Dr. Ernst Henrici in Neustettin eine Hetzrede gegen die Juden gehalten hatte, wurde von jüdischer Seite der Vermutung Ausdruck gegeben: die Antisemiten haben aus Haß gegen die Juden den Tempel in Brand gesteckt. Die Antisemiten behaupteten dagegen: die Juden haben ihr Gotteshaus selbst in Brand gesteckt, um einmal die Schuld den Christen in die Schuhe zu schieben und andererseits, um durch Erhalt der Versicherungssumme in die Lage zu kommen, ein neues, schöneres Gotteshaus bauen zu lassen. Es wurden in der Tat fünf Juden wegen vorsätzlicher Brandstiftung bzw. Beihilfe, zum Teil auch, weil sie von dem Verbrechen, von dem sie zu einer Zeit, in welcher die Verhütung noch möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten hatten, die Anzeige unterlassen haben, angeklagt. Das Kösliner Schwurgericht verurteilte im Oktober 1883 vier Angeklagte zu hohen Strafen. Infolge eines formalen Verstoßes gegen die Strafprozeßordnung hob auf Antrag des Verteidigers Justizrats Dr. Sello (Berlin) das Reichsgericht das Urteil auf und verwies die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Konitz. Dort wurden nach nochmaliger siebentägiger Verhandlung sämtliche Angeklagten freigesprochen. Das freisprechende Urteil wurde in Neustettin mit einem Krawall beantwortet. Ganz besonders wurden die freigesprochenen Angeklagten, als sie von Konitz nach Neustettin zurückkehrten, vom Neustettiner Pöbel arg behelligt. Während bei der ersten Verhandlung in Köslin mehrfach antisemitische Kundgebungen laut wurden, es ertönten sogar laute Hepp-Hepp-Rufe von der Straße während der Verhandlung in den Gerichtssaal, war bei der im Februar 1884 in Konitz stattgefundenen zweiten Verhandlung von Antisemitismus keine Spur zu entdecken. Nachdem das Ritualmordmärchen in dem im Juli 1892 vor dem Schwurgericht zu Kleve stattgefundenen Xantener Knabenmordprozeß aufs gründlichste widerlegt war (Vgl. siehe Bd. 1 p. 67ff.), hielt man allgemein diese aus dem finstersten Mittelalter stammende Blutbeschuldigung für vollständig abgetan. Da plötzlich, am Dienstag, den 13. März 1900, wurde in Konitz in einem in nächster Nähe der Synagoge befindlichen Bach, genannt der »Mönchssee«, an der »Spüle« ein angeblich vollständig blutleerer menschlicher Rumpf, in Zeitungspapier eingehüllt, gefunden. Kopf, Hände und Beine fehlten. Letztere waren von den Knien ab kunstgerecht abgeschnitten. Es war begreiflich, daß dieser Fund in dem damals 12000 Einwohner zählenden westpreußischen Kreisstädtchen das größte Aufsehen erregte. Der Befund des Leichnams ließ auf eine jugendliche männliche Person schließen. Es wurde auch sehr bald festgestellt, daß es sich um den Rumpf des seit einigen Tagen vermißten Obertertianers Ernst Winter handelte. Winter, der Sohn eines Bauunternehmers aus Prechlau bei Konitz, war, obwohl bereits 18 1/2 Jahre alt, erst in Obertertia. Er hatte nämlich schon einmal das Gymnasium verlassen und 3 1/2 Jahre das Zimmerhandwerk erlernt. Diese Beschäftigung muß ihm wohl nicht behagt haben, denn er kehrte schließlich auf das Gymnasium zurück. Der Photographie nach zu urteilen, muß er ein häßliches Gesicht gehabt haben. Er wurde jedoch als Mensch von selten stattlichem Wuchs und auffallend schönem, kräftigem Körperbau geschildert. Er soll, obwohl noch Schüler und erst 18 1/2 Jahre alt, ein sehr ausschweifendes Leben geführt haben. Es entstand daher der Verdacht: Winter sei von einem beleidigten Gatten, Vater, Bruder oder Bräutigam oder auch von einem eifersüchtigen Liebhaber in einer gewissen Situation betroffen und, vielleicht wider Willen, derartig geschlagen worden, daß er den Tod erlitten habe. Daß Winter in solcher Situation den Tod erlitten hatte, dafür sprachen mit voller Deutlichkeit die in dem Hemd des Ermordeten vorgefundenen Spermaflecke. Es wurde auch der Vermutung Ausdruck gegeben: Winter sei in der erwähnten Situation von einem Zuhälter erschlagen und beraubt worden. In dem Gymnasialstädtchen Konitz soll die Zahl der Dirnen und Zuhälter verhältnismäßig sehr groß gewesen sein. Da, wie die verschiedenen Strafprozesse gelehrt haben, die Zuhälter auf ihre Dirnen ungemein eifersüchtig sind und auch Uhr, Kette und das Portemonnaie des Ermordeten mit 2 M. Inhalt fehlten, war es nicht ausgeschlossen, daß ein Zuhälter, einerseits aus Eifersucht und andererseits, um Uhr, Kette und Portemonnaie zu rauben, den jungen Mann totgeschlagen und um die Spuren des Verbrechens zu verwischen, den Leichnam zerstückelt und die einzelnen Körperteile an verschiedene Orte geschafft hatte. Hände und Füße des Ermordeten wurden auch sehr bald, zumeist auf Kirchhöfen gefunden. Die große Mehrheit der Konitzer Bevölkerung glaubte aber nicht an einen Totschlag aus Rache oder Eifersucht, sondern es wurde sofort behauptet: Ernst Winter sei von den Juden geschlachtet worden, da diese zu dem nahe bevorstehenden jüdischen Passahfest zu ihren Osterkuchen (Mazzes) Christenblut brauchen. Als Beweis wurde die Auffindung des Rumpfes in unmittelbarer Nähe der Synagoge und der Umstand angeführt, daß in der Nähe des Mönchsees der jüdische Schlachter Lewy wohne, und daß der älteste Sohn dieses Schlächters, namens Moritz, als der Rumpf gefunden wurde, an den Mönchsee gelaufen sei und höhnisch gelacht habe. Diese Argumente reichten hin, um nicht nur in Konitz, sondern in einer ganzen Reihe von Städten West- und Ostpreußens und Pommerns eine Judenverfolgung zu entfachen, wie sie in diesem Umfange und in dieser Art seit den Zeiten des Mittelalters in Deutschland nicht dagewesen ist. Eine ganze Anzahl regelrechter Judenkrawalle wurden inszeniert. Die Läden und Wohnungen der Juden wurden demoliert und geplündert, die Juden auf offener Straße beschimpft und aufs ärgste mißhandelt. Ja sogar die Synagoge in Konitz wurde demoliert, die Altardecken, die Gold- und Silbergeräte und Leuchter wurden geraubt, die Thorarollen aus der Bundeslade herausgerissen und zerschnitten. Eines Tages wurde der Welt die Kunde mitgeteilt, die Synagoge in Konitz stehe in Flammen.

Die Erregung der Konitzer Bevölkerung wurde noch durch eine Anzahl antisemitischer Agitatoren, die in das westpreußische Gymnasialstädtchen geeilt waren, bis zur Siedehitze geschürt. Ein sogenanntes Untersuchungskomitee, bestehend aus Berliner und Konitzer antisemitischen Agitatoren, bildete sich. Es wurde eine hohe Belohnung für Entdeckung des Mörders ausgesetzt, die Belohnung wurde von der Regierung allmählich auf 32000 Mark erhöht. Diese hohe Summe lockte eine Anzahl Leute nach Konitz. Herumziehende Gaukler, Wahrsager, Kartenleger und Kartenlegerinnen kamen ins Städtchen gezogen, um durch allerlei Hokupokus die Persönlichkeit des Mörders zu ermitteln Die »Kunst« dieser Leute hatte auch das Ergebnis, daß ein Jude aus rituellen Gründen der Mörder sein müsse. Den wirklichen Täter konnten sie aber weder mittels Karten, noch durch Entzünden einer Spiritusflamme, noch aus den Handlinien und auch nicht durch anderen Blödsinn feststellen. Trotzdem hatten diese Gaukler einen ungemein groBen Zulauf, denn die erregte, abergläubische Bevölkerung bediente sich aller Mittel, um den verruchten Mörder zu entdecken. Die Gaukler hatten sogar die Frechheit, ihre Hilfe den Berliner Kriminalbeamten, die auf Befehl des Ministers des Innern zwecks Ermittelung des Mörders nach Konitz geschickt waren, gegen Bezahlung anzubieten. In Konitz wohnte zur Zeit ein jüdischer Zahnarzt. Eines Tages erschien bei diesem ein Mann mit dem Ersuchen, ihm seine Zähne zwecks Plombierens nachzusehen. Der Zahnarzt sagte dem Mann: ein Zahn sei krank, der müßte entfernt werden. Der Mann erwiderte: er habe heute keine Lust, sich einer, wenn auch mittels Lachgas bewirkten schmerzlosen Zahnoperation zu unterziehen, er werde in einigen Tagen wiederkommen. Der Mann war aber nur von seinem Wohnort Landsberg a.d.W. nach Konitz gekommen und hatte den Zahnarzt aufgesucht, weil er in diesem den Mörder des Winter vermutete. Sofort nach seinem Weggange erstattete er bei der Polizei gegen den Zahnarzt Anzeige wegen Mordes mit ungefähr folgender Begründung: Ich halte den Zahnarzt für den Mörder des Winter. Einmal ist der Zahnarzt Jude und andererseits ist festgestellt, daß der ermordete Winter schlechte Zähne hatte. Er hat vielleicht den Zahnarzt aufgesucht, und dieser hat ihm, ebenso wie mir, vorgeschlagen, sich einer Zahnoperation zu unterwerfen, die mittels Betäubung vorgenommen wurde. Auf diese Art konnte der Mord mit Leichtigkeit ausgeführt werden. Bereits am folgenden Morgen in aller Frühe, es war noch dunkel auf den Straßen, wurde der damals noch unverheiratete Zahnarzt unsanft aus dem Schlafe geklopft. Sechs Polizeibeamte unter Führung eines Polizeikommissars traten mit brennenden Laternen beim Zahnarzt ein und erklärten ihn wegen Mordverdachts für verhaftet. Selbstverständlich wurde sofort eine umfassende Haussuchung vorgenommen, die aber nicht das geringste Ergebnis hatte. Nach einigen Tagen wurde, da auch nicht die leiseste Spur für die Täterschaft des Zahnarztes festgestellt werden konnte, letzterer wieder in Freiheit gesetzt.

 

Aber auch eine Anzahl Privatdetektivs und sonstige existenzlose Leute, sogenannte Journalisten, schlugen in Konitz schleunigst ihren Wohnsitz auf, um den Mörder zu entdecken und sich die hohe Belohnung zu verdienen. Um sich den Lebensunterhalt zu verschaffen, korrespondierten diese Leute über die Verhältnisse des Städtchens, das damals geradezu in den Mittelpunkt der Welt gerückt war, für alle möglichen Zeitungen. Die einzige in Konitz erscheinende Zeitung, das antisemitische ›Konitzer Tageblatt‹, trug auch nicht wenig zur Verhetzung der Bevölkerung bei. Die Verhetzung nahm einen derartigen Grad an, daß die christlichen Schüler selbst auf dem Gymnasium den Verkehr mit ihren jüdischen Mitschülern mieden und sich offen weigerten, mit ihnen auf derselben Bank zu sitzen. Einige Gymnasiallehrer, die dieser Verhetzung Vorschub geleistet hatten, mußten, da der öffentliche Frieden aufs ärgste gefährdet war, an ein anderes Gymnasium versetzt werden. Die Juden in Konitz und weitester Umgebung wurden vollständig gesellschaftlich geächtet und geschäftlich boykottiert. Alle Juden, die es möglich machen konnten, veräußerten ihr Besitztum und kehrten Konitz den Rücken. Das Geschäft sank unter Null. Geschäftsreisende ließen sich in Konitz und den Nachbarstädten nicht mehr sehen. Da die Straßenkrawalle sich wiederholten und einen immer heftigeren Charakter annahmen, so traf auf persönlichen Befehl des Kaisers eine Kompagnie Soldaten aus Graudenz in Konitz ein. Das Militär wurde in allen Städten, das es zu passieren hatte, mit dem Rufe: ›Judenschutztruppe‹ empfangen. In Konitz vermochte das Militär erst, als es mit gefälltem Bajonett vorging, die Ruhe wiederherzustellen. Selbst einem Geheimen Regierungsrat, den der Minister des Innern nach Konitz gesandt hatte, gelang es nicht, die krawallierende Menge zu beruhigen. Auf Anordnung des Ministers des Innern war Kriminalkommissar Wehn, jetzt Kriminalpolizei-Inspektor, später Kriminalpolizei-Inspektor Braun, Kriminalpolizei-Inspektor Klatt und die Kriminalkommissare v. Kracht und v. Bäckmann sowie eine Anzahl Kriminalschutzleute, sämtlich vom Berliner Polizeipräsidium, nach Konitz gesandt worden. Allen diesen Beamten gelang es aber nicht, die Persönlichkeit des Mörders festzustellen. Am Karfreitag, mittags gegen 1 Uhr, wurde in der Nähe des außerhalb der Stadt belegenen Schützenhauses der Kopf des ermordeten Winter aufgefunden. Ein alter, kurzsichtiger Gerichtskastellan namens Fiedler behauptete: er habe am Karfreitagvormittag den jüdischen Handelsmann Israelski mit einem großen Sack auf dem Rücken beim Gerichtsgebäude vorüber nach dem Wege zum Schützenhaus gehen sehen. Die Form des Sackinhalts ließ darauf schließen, daß der Sack einen menschlichen Kopf geborgen habe. Israelski sei nach einiger Zeit mit leerem Sack und beschmutzten Stiefeln zurückgekommen. Israelski bestritt aufs entschiedenste, zu dem Winterschen Morde in irgendwelcher Beziehung gestanden zu haben. Er trage eines Fußleidens wegen überhaupt keine Stiefel. Eine, bei Israelski vorgenommene Haussuchung förderte nicht das geringste zutage. Auch Stiefel wurden bei Israelski nicht gefunden. Obwohl die Behauptungen Fiedlers von niemandem bestätigt werden konnten, wurde Israelski wegen Begünstigung des unbekannten Mörders, auf Grund des Paragraphen 257 des Strafgesetzbuches, angeklagt. Er hatte sich am 8. September 1900 vor der Strafkammer des Konitzer Landgerichts zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Böhnke. Die Anklagebehörde vertrat der Erste Staatsanwalt Settegast. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Maschke (Konitz) und Justizrat Dr. v. Gordon (Berlin). Zu der Verhandlung erschien auch der Vater des ermordeten Gymnasiasten Winter als Zeuge.

Erster Staatsanwalt: Es ist Ihnen ein anonymer Brief zugegangen, in dem Ihnen 50000 Mark geboten wurden? Wie verhält es sich damit?

Zeuge: Das ist richtig, der Brief war in Hammerstein aufgegeben worden, und es hieß darin im Anschluß an die Meldung, daß das Verfahren gegen den Schlächtermeister Hoffmann eingestellt sei: »Wir haben nun schon 200000 Mark weggeworfen und bieten Ihnen jetzt 50000 Mark, wenn Sie in den ›Geselligen‹ (Graudenz) ein Inserat folgenden Inhalts einrücken: ›Winter schweigt!‹ Wir Juden haben es getan, wir haben nicht anders gekonnt, das ist unser Trost.«

Verteidiger Justizrat Dr. v. Gordon: Wo ist der Brief hingekommen? Zeuge: Ich habe ihn dem Herrn Schrader gegeben, der ihn dem Abgeordneten Liebermann von Sonnenberg übermitteln wollte. Ich sollte den Brief heute zurückbekommen, um ihn hier vorlegen zu können. Leider ist er mir bisher nicht zurückgegeben worden.

Sanitätsrat Dr. Müller bekundete als Sachverständiger: Der Kopf und die einzelnen Körperteile des Ermordeten waren vollständig blutleer. Der Tod müsse infolge Verblutung erfolgt sein, die durch einen Querschnitt durch den Hals herbeigeführt wurde. Der Kopf sah bei der Auffindung vollständig frisch aus und war auch völlig geruchlos. Die Sektion ergab, daß die Speiseröhre und auch die Rachenhöhle mit Mageninhalt vollgestopft war. Demnach muß dem tödlichen Schnitte ein Würgungsakt voraufgegangen sein. Auf Befragen des Justizrats Dr. v. Gordon erklärte der Sachverständige, die Verblutung müsse bei Lebzeiten, nicht bei der Zerstückelung der Leiche eingetreten sein. Auch die übrigen Leichenteile seien frisch und geruchlos gewesen, etwa als wenn sie im Keller aufbewahrt worden seien. Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts erklärte der Sachverständige, zwei andere Sachverständige haben erklärt, daß die Zerstückelung von sachkundiger Hand vorgenommen worden sei. Dafür spreche die Auslösung der Schenkel, die wie bei Tieren vorgenommen war.

Der zweite Sachverständige, Gerichtsarzt Privatdozent Dr. Puppe (Berlin), bekundete: Bei der Untersuchung waren die Lungen an der Schnittfläche braunrot, während anämische Lungen blaß sind. Diese Färbung der Lunge spricht gegen Verblutung. Die Blutleere ist nur in inneren Organen erkennbar, diese fehlen aber außer den Lungen. Da der Körper zerschnitten ist konnte sich das Blut auch nach dem Tode entleeren, um so mehr, als der Körper mit Wasser in Verbindung gekommen ist. Auch die Herzklappen, die inneren Wände der Arterien und die Venen des Oberschenkels waren braunrot; ferner spricht gegen Verblutung das Fehlen der Suffusion an der Schnittfläche. Vors.: Sie meinen, daß der Tod absolut durch Erstickung herbeigeführt worden ist? Sachverständiger: Nein, es ist nur wahrscheinlich. Aber die für die Verblutung sprechenden Gründe erscheinen unsicher und zweifelhaft. Der Sachverständige hielt es in seinen weiteren Ausführungen für möglich und wahrscheinlich, daß der Kopf mit der Schnittfläche im Wasser gelegen habe und, da der Moorboden bekanntlich desinfizierende und konservierende Eigenschaften besitze, auf diese Art so gut erhalten sei. Die weitere Beweisaufnahme förderte nicht das mindeste für die Schuld des Angeklagten zutage. Der Erste Staatsanwalt hielt trotzdem die Schuld des Angeklagten für erwiesen und beantragte fünf Jahre Gefängnis.

Verteidiger Justizrat Dr. v. Gordon: Wenn der Angeklagte schuldig wäre, so würde keine Strafe hoch genug gegen ihn sein, denn er hätte, indem er den Täter der Strafe zu entziehen suchte, unsägliches Unglück, das über viele andere gekommen, verschuldet. Der Angeklagte ist aber nicht schuldig; ich erwarte daher zuversichtlich seine Freisprechung. Das Eigentümliche an diesem Verfahren ist, daß man keinen Anhalt für den Täter hat. Nach Einsicht der Akten muß jeder ruhig und objektiv Urteilende zugeben, daß sich nach keiner Seite hin Anhaltspunkte für einen Verdacht ergeben haben. Nach dem Gutachten des Dr. Puppe erscheint der Erstickungstod sehr wahrscheinlich. Diese Beurteilung der Todesursache erscheint für die weitere Verfolgung von höhster Bedeutung. Sollten aber, beim Gericht Zweifel über die sich gegenüberstehenden Gutachten bestehen, so würde es sich empfehlen, ein Obergutachten des Medizinalkollegiums einzuholen. Wäre der Tod durch Verblutung eingetreten, so würde es sich vielleicht um einen israelitischen systematischen Mord handeln, den mehrere Personen ausgeübt haben müßten. Anders liegt es beim Erstickungstod, dann wäre mit allen Möglichkeiten zu rechnen. Es wäre möglich, daß Winter in irgendeiner Situation überrascht wäre, oder daß er aus Fahrlässigkeit bei irgendeinem Scherz oder einer Liebelei unter dem Kissen erstickt sei. Es muß entschieden bestritten werden, daß dem Staatsanwalt der Beweis gelungen sei, daß überhaupt eine strafbare Handlung den Tod Winters verursacht hat. Auch der Versuch, ein Motiv für die Handlungsweise des Angeklagten nachzuweisen, ist der Anklage mißlungen. Zur Zeit, als der Kopf gefunden wurde, waren schon Tausende Mark Belohnung ausgeboten. Also das Motiv des Eigennutzes schwebt ganz in der Luft. Es liegt hier ein Maximum von Unwahrscheinlichkeiten vor, die gegen jeden anderen ebenso belastend angewendet werden könnten. Aus vollster Überzeugung beantrage ich daher die Freisprechung des Angeklagten. Die Freisprechung fällt wie ein reifer Apfel vom Baum. Ich möchte nur wünschen und hoffen, daß die Bevölkerung auf Grund des heutigen Beweisergebnisses den Mann, der wieder in ihre Mitte tritt, nicht als Mörder oder Mordgesellen betrachtet.

Nach nur kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende folgendes Urteil: Das Gericht hat sich dem Gutachten des Sanitätsrats Müller angeschlossen, welches im wesentlichen mit dem Gutachten der Berliner Gerichtsärzte Mittenzweig und Störmer übereinstimmt. Diese drei Herren standen unter dem frischen Eindruck der Sektion, ohne daß das Gericht damit den wissenschaftlichen Einwendungen des heute gehörten anderen Herrn Sachverständigen zu nahe treten will. Auf Grund dieser drei Gutachten hat das Gericht zu keiner festen Annahme über die Todesursache kommen können, denn die Herren sprechen auch nur von Wahrscheinlichkeiten. Bezüglich des Angeklagten ist als erwiesen anzusehen, was der Zeuge Friedler ausgesagt hat, der Israelski mit einem runden Gegenstand im Sack vorbeigehen gesehen hat. Friedler hat ihn aber nicht weiter gehen sehen, als bis zur Ecke. Es erscheint nicht nachgewiesen, wohin er weiter gegangen ist. Die Aussagen der anderen Zeugen sind zu unsicher gewesen. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, daß der Kopf nicht längere Zeit im Graben gelegen haben kann, es fehlt eben jeder Anhalt dafür, was der Angeklagte im Sack gehabt hat. Das Gericht hat ferner nicht als erwiesen angesehen, daß ein Schächtschnitt vorliegt. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt: es ist nicht erwiesen, daß der Angeklagte Israelski dem nicht ermittelten Täter Beihilfe geleistet hat. Er war daher freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen.

Anfang Oktober 1900 hatte sich der siebzehnjährige Präparand Richard Speisiger vor der Konitzer Strafkammer wegen wissentlichen Meineids zu verantworten. Speisiger war ein Freund des ermordeten Winter. Er war beschuldigt, bezüglich des Verkehrs des Winter wissentlich eine Unwahrheit beschworen zu haben. In diesem Prozeß wurde von mehreren als Zeugen vernommenen Gymnasiasten bekundet: Winter habe ihnen viel über seinen unzüchtigen Verkehr erzählt und ihnen noch kurz vor seinem Tode mitgeteilt, daß er mit drei jungen Mädchen fortdauernd intimen Verkehr unterhalte. Er habe aber noch mit anderen Frauen intimen Verkehr, so daß er bisweilen schachmatt sei.

Zwecks weiterer Feststellung des von dem Ermordeten unterhaltenen unzüchtigen Verkehrs wurde am zweiten Verhandlungstage den ganzen Vormittag wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Auch die Vertreter der Presse mußten den Saal verlassen. In dieser unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefundenen Verhandlung wurden mehrere unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehende Dirnen vernommen.

 

In der öffentlichen Verhandlung bekundete eine Reihe Zeugen: der Fleischergeselle Moritz Lewy, genannt der »Pincenez-Lewy«, weil er sogar das Vieh mit dem Pincenez auf der Nase durch die Stadt trieb, sei augenscheinlich mit dem ermordeten Winter befreundet gewesen, denn er sei mehrfach mit Winter auf der Straße plaudernd gesehen worden. Moritz Lewy bekundete, als ihm der Vorsitzende die Zeugenaussagen vorhielt: Er kenne viele Gymnasiasten, mit denen er sich unterhalte, ohne ihren Namen zu wissen. Dasselbe werde wohl auch bezüglich des Winter der Fall sein. Es sei sehr leicht möglich, daß er wiederholt mit Winter gesprochen und auch mit ihm zusammengegangen sei, ohne seinen Namen zu kennen. Er erinnere sich wenigstens nicht, Winter gekannt zu haben.

Vors.: Sie haben bei dem Untersuchungsrichter mit voller Entschiedenheit in Abrede gestellt, daß Sie Winter gekannt haben.

Der Zeuge schwieg. Der Gerichtshof beschloß die Aussage des Zeugen Moritz Lewy protokollieren zu lassen. Lewy wurde darauf vereidigt und auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wegen Verdachts des wissentlichen Meineids im Gerichtssaale verhaftet.

Im Plädoyer bemerkte der Erste Staatsanwalt: Die nichtöffentliche Verhandlung hat ergeben, daß der ermordete Winter, obwohl noch Gymnasiast und erst 18 1/2 Jahre alt, mit den verworfensten Dirnen intimen Verkehr unterhalten hat. Der Erste Staatsanwalt erachtete im weiteren die Schuld des Angeklagten Speisiger in drei Fällen für erwiesen und beantragte 2 Jahre 6 Monate Gefängnis. Der Gerichtshof sprach jedoch den Angeklagten wegen mangelnder Beweise frei.

Sehr bald darauf folgten mehrere Prozesse wegen Landfriedensbruchs sowie wegen Auflaufs und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Alle diese Straftaten waren aus Anlaß des Winterschen Mordes in Konitz und verschiedenen Nachbarstädten unternommen worden.

Am 25. Oktober begann vor dem Schwurgericht des Konitzer Landgerichts ein sehr umfangreicher Prozeß wegen wissentlichen Meineids gegen 1. den Gasanstaltsarbeiter Bernhard Maßloff, 2. dessen Ehefrau, geborene Roß, 3. Gesindevermieterin Anna Roß, 4. Frau Auguste Berg geborene Roß. Maßloff hatte vor dem Untersuchungsrichter beschworen: Er sei am Sonntag, den 11. März 1900, abends gegen 10 Uhr, die Danziger Straße entlang gegangen, um sich nach seiner außerhalb von Konitz belegenen Behausung zu begeben. Als er aus seiner Schnupftabakflasche eine Prise nehmen wollte, sei ihm der Pfropfen von der Schnupftabakflasche zur Erde gefallen. Er habe sich gebückt, um den Pfropfen aufzuheben. Bei dieser Gelegenheit sei sein Blick in ein Kellerfenster gefallen. Er habe gesehen, daß mehrere Männer dort in einer Weise wie Schlächter hantierten. Gleichzeitig habe er Winseln und Stöhnen, sowie ein »Gebabber« und Gurgeltöne vernommen. Obwohl er nicht wußte, wer in diesem Hause wohnte, sei er um die Ecke in die Rähmestraße gegangen. Dort habe er sich auf die Lauer gelegt. Nach etwa dreiviertel Stunden sei ein alter Jude aus dem Keller gekommen. Bald darauf seien noch zwei junge Juden, die ein schweres, langes Paket trugen, aus dem Keller gestiegen. Der alte Jude und die zwei jungen Juden haben das schwere Paket nach dem Mönchsee getragen und dort hineingeworfen. Die Schwiegermutter des Maßloff, Frau Roß, hatte vor dem Untersuchungsrichter bekundet: Ein Knecht habe dieselben Beobachtungen wie ihr Schwiegersohn Maßloff gemacht. Frau Berg und Frau Roß hatten außerdem beim Untersuchungsrichter bekundet: Sie hätten am Sonntag vor dem Morde verschiedene Beobachtungen in der Lewyschen Wohnung gemacht. Frau Lewy und ihre Schwester, die sogenannte »Lappen-Lewy« seien sehr aufgeregt gewesen. Diese haben auch Gespräche geführt, die sich auf die Ermordung des Gymnasiasten Winter bezogen. Außerdem haben sie in der Lewyschen Wohnung die Wintersche Uhrkette und ein dem Ermordeten gehörendes weißes Taschentuch, gezeichnet E.W., liegen sehen. Frau Maßloff hatte verschiedene Angaben ihres Mannes eidlich bestätigt. Da alle diese Angaben den Stempel der Unwahrheit an der Stirn trugen, wurde gegen die vier Personen Anklage wegen wissentlichen Meineids erhoben. Den Vorsitz in dieser Verhandlung, der auch ein Vertreter des Justizministeriums und zum Teil die antisemitischen Reichstagsabgeordneten Liebermann von Sonnenberg und Pastor a.D. Krösell beiwohnten, führte Landgerichtsdirektor Schwedowitz. Die Anklage vertraten der Oberstaatsanwalt am Oberlandesgericht zu Marienwerder Dr. Lantz und der Erste Staatsanwalt Settegast. Die Verteidigung führten, und zwar als Offizialverteidiger die Konitzer Rechtsanwälte Dr. Hunrath, Zielowski, Gebauer und Vogel. Die Vernehmung des Hauptangeklagten Maßloff gestaltete sich ungefähr folgendermaßen: Ich wiederhole, daß ich die von mir angegebenen Vorgänge in dem Lewyschen Keller genau gesehen und auch beobachtet habe, wie die drei Männer das Paket wegtrugen.

Vors.: Wann hatten Sie etwas von dem Verschwinden des Ernst Winter erfahren?

Angekl.: Am Dienstag, den 13. März. Ich war damals arbeitslos und fragte in der Gasanstalt wegen Arbeit nach. Währenddem kam ein Junge auf den Hof und sagte: Es sei ein Rumpf im Mönchssee gefunden worden, der jedenfalls der des vermißten Ernst Winter sei.

Vors.: Wann haben Sie nun Ihre Wahrnehmungen gemacht, die Sie in der Voruntersuchung eidlich bekundet haben?

Angekl.: An dem Sonntag vorher abends.

Vors.: An diesem Tage war Winter verschwunden?

Angekl.: Ja.

Vors.: Was haben Sie nun an diesem Sonntag gemacht?

Angekl.: Gegen 7 Uhr abends besuchte ich meinen Schwager Berg. Wir gingen dann zusammen in einen Gasthof, wo ich 3 bis 4 Glas Bier und auch einige Schnäpse trank; ich war aber vollständig nüchtern, als wir zurückgingen, um noch bei Berg Karten zu spielen. Hier trank ich noch einen Rum und ging dann gegen 10 Uhr abends weg. Als ich die Danziger Straße entlang ging, wollte ich eine Prise nehmen. Dabei fiel mir der Pfropfen des Schnupftabakfläschchens auf die Erde, und ich bückte mich, um ihn zu suchen. Währenddem kam ich mit dem Kopf einem Kellerfenster nahe und hörte dahinter ein Gemurmel. Auch sah ich einen Lichtschimmer durch die Ritze des verhängten Fensters scheinen. Das machte mich stutzig und aufmerksam.

Vors.: Das war doch aber nichts Auffälliges? Solchen Lichtschimmer sieht man doch öfter?

Angekl.: Es war doch aber schon nach 10 Uhr, auch war das mehr wie ein Gemurmel, es klang wie eine Art Geheul: Hoh! Hoh! Oh! Oh!

Vors.: Angeklagter Maßloff, überlegen Sie sich genau, was Sie hier sagen. Sie haben sich früher wiederholt widersprochen bei der Erzählung dieser Sachen.

Angekl.: Das ist keine Lüge, das ist die Wahrheit.

Vors.: Sie haben in der Voruntersuchung vor dem Landrichter Dr. Zimmermann ausgesagt, Sie hätten bei Bergs nicht bloß einen Rum, sondern außerdem 3 Schnäpse getrunken. Es kommt sehr darauf an, ob Sie vielleicht an jenem Abend betrunken waren.

Angekl.: Ich war vollständig nüchtern.

Vors.: Weiter haben Sie in der Voruntersuchung ausdrücklich gesagt: Meine frühere Aussage, daß ich durch den Lichtschimmer auf die Vorgänge im Keller aufmerksam geworden sei, ist falsch.

Angekl.: Jawohl, aber ich habe den Lichtschimmer deutlich gesehen.

Vors.: Was haben Sie dann getan?

Angekl.: Ich horchte am zweiten Fenster.

Vors.: Haben Sie sich dabei niedergebeugt? Überlegen Sie sich das genau.

Angekl.: Ich bin niedergekniet und habe mich auf die linke Hand gestützt. Dann brachte ich mein Ohr in die nächste Nähe des Fensters und hörte darauf ein dumpfes Gebabber aus dem Keller kommen. Vors.: Von dem angeblichen Geheul haben Sie bisher nie etwas gesagt.