Der verbotene Park

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Die Hexe und der verbotene Park

„Lass uns durchs alte Dorf gehen“, schlug Tobias vor. „Dann kannst du mir gleich mal zeigen, wo man hier einkauft.“

Philipp war einverstanden. Er hatte sein Rad bei Tobias vor der Haustür angeschlossen, als er hörte, dass dessen Fahrrad noch in der Werkstatt war. So marschierten sie los, ein Stück den Hasenring hinunter, dann links durch eine noch unbefestigte Seitenstraße und schließlich quer über ein unbebautes Grundstück, auf dem ein riesiger Berg Mutterboden lag. Sie kletterten rutschend und auf allen vieren den Berg hinauf und rannten ihn auf der anderen Seite wieder hinunter. Dann stiegen sie über einen kleinen Staketenzaun, schlichen über ein fremdes Grundstück und erreichten den alten Dorfkern von Dolben.

Das alte Dolben war sehr idyllisch. Neben der schmalen Durchgangsstraße lag der Dorfteich umringt von kleinen Fachwerkhäusern, deren Dächer sich beinahe berührten. Ähnlich kleine Häuser standen rechts und links der Straße, manche noch mit Reet gedeckt, unterbrochen von etwas größeren Häusern, die neueren Datums waren und kleine Läden beherbergten. Dort gab es eine Bäckerei, eine Fleischerei, ein Schreibwarengeschäft, das auch Spielsachen führte, und ein kleines Bekleidungsgeschäft. Davon würde Tobias seiner Mutter sicherheitshalber nichts erzählen.

„Komm, wir quetschen uns zwischen den Fachwerkhäusern durch und schauen mal, wie es auf der Rückseite weitergeht“, schlug Philipp vor.

Sie gingen am Dorfteich vorbei und scheuchten dabei ein Entenpaar auf. Dann tauchten sie in den finsteren Schlund ein, den die beiden Hauswände mit ihren gerade einmal anderthalb Metern Zwischenraum ließen. Sie hörten Stimmen auf der Rückseite und hielten einen Augenblick inne.

„Warte einen Moment“, raunte Tobias seinem Freund zu und hielt ihn an der Schulter zurück.

„Wir können da nicht so einfach durchspazieren, wenn dahinter Leute sind.“

Philipp legte seinen Zeigefinger auf den Mund, um Tobias zu bedeuten, er solle leise sein, und schlich vorsichtig weiter die Hauswand entlang zum rückwärtigen Teil des Gebäudes. Tobias folgte ihm wenige Schritte auf Zehenspitzen, als er plötzlich eine fast lautlose Bewegung hinter sich wahrnahm. Er wirbelte herum und blieb erstarrt stehen. Direkt vor ihm stand eine alte Frau in einem schwarzen Umhang. Ihr hässliches zerknittertes Gesicht sah aus, als trüge sie eine Maske, und ihre Augen funkelten ihn böse an. Für einen Augenblick dachte Tobias, sein Herz bliebe stehen. Tausend Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er dachte an Flucht, kam aber an der Frau, die ihn an eine Märchenhexe erinnerte, nicht vorbei. Nach hinten herauszuflüchten war ebenfalls nicht möglich, dann hätte er wahrscheinlich gleich mehrere Leute auf dem Hals. Und auf Philipp zu hoffen war aussichtslos: der war genauso gefangen wie er selbst.

Also hieß es, sich seinem Schicksal zu ergeben, was wohl mindestens eine Standpauke bedeutete. Doch es kam anders. Vollkommen unerwartet spuckte die Alte ihm ins Gesicht und packte ihn an der Schulter. Während sie ihn schüttelte, zischte sie ihn in einem eigenartig heiser-krächzenden Ton an:

„Geht nicht hin. Keiner darf hinein. Es ist verboten. Im Park wohnt der Tod. Niemand kommt aus dem verbotenen Park zurück.“

Während Tobias noch wie angenagelt und schreckensbleich vor der alten Hexe stand, hatte Philipp schon reagiert. Er hatte das Geräusch des Spuckens gehört, sich umgedreht und die beiden voreinander stehen sehen. Er war herbeigeeilt und hatte gerade noch die letzten Worte der Frau aufgeschnappt. Jetzt riss er Tobias von dem eisernen Griff der Alten los und zerrte ihn zur Rückseite der Häuser hin. Tobias’ Lebensgeister kehrten zurück, er stürzte fast, fing sich aber wieder und folgte Philipp dann mit schnellen Schritten.

„Los, nach hinten raus!“, kommandierte der und hatte das Ende des finsteren schmalen Ganges schon fast erreicht.

„Auch Ihr kommt nicht zurück“, rief ihnen die Alte mit heiserer Stimme nach. „Es ist verboten!“

Entgegen ihrer Erwartung öffneten sich hinter den gedrungenen Fachwerkhäusern keine Gärten, sondern ein Stückchen Wiese, hinter dem sich quer zu den Häusern ein unbefestigter Weg aus dem Dorf herausschlängelte.

Die Jungen hetzten den Weg hinunter und sprangen hinter dem Dorf in einen tiefen Graben, der zu ihrem Glück noch kein Wasser führte, weil der September sehr trocken gewesen war. Die Böschungen des Grabens waren mit hohem Gras bewachsen. Hier waren sie erst einmal in Sicherheit.

„Bäh, so ein Schwein“, erregte sich Tobias und wischte sich mit seinem Hemd das Gesicht trocken. „Rotzt die mir glatt ins Gesicht!“

„Die war doch nicht ganz frisch“, meinte Philipp noch ganz außer Atem. „Oder war sie besoffen?“

„Ist mir ziemlich egal“, schimpfte Tobias. „Es war jedenfalls ekelhaft. Alte Hexe!“

Mit einem anderen Stück seines Hemdes wischte er sich noch einmal durchs Gesicht.

„Was wollte die eigentlich von uns?“, fragte Philipp und lugte vorsichtig über den Böschungsrand hinaus.

„Die hat nur herumgesponnen“, meinte Tobias und würgte sein Hemd wieder in die Hose. „Aus irgendeinem verbotenen Park kämen wir nicht wieder zurück, weil da der Tod lauert, oder so.“

„Klingt ziemlich verkalkt“, lachte Philipp.

Eine Wiesenschnake, im Volksmund „Schneider“ genannt, tänzelte schwerfällig in der Nachmittagssonne zwischen ihnen hindurch und berührte mit ihren langen Beinen zweimal wippend Philipps Haar.

Der vertrieb sie, indem er energisch den Kopf schüttelte.

„Wollen wir weiter? Die Luft ist rein.“

Tobias nickte, wischte sich noch einmal mit dem Handrücken über Mund und Nase und erhob sich. Sie kletterten aus dem Graben und orientierten sich erst einmal, um festzustellen, wo sie waren.

Vor ihnen lag das alte Dorf, im Hintergrund, etwas nach Süden versetzt, ragte ein Kran in die Lüfte, der im Neubaugebiet stand, das von hier aus selbst aber nicht zu sehen war. Der Weg, auf dem sie standen, führte vom Dorf weg auf ein kleines Wäldchen zu, in das sich ein kleines Haus hineinduckte, als wolle es sich verstecken.

Die Jungen hatten das Haus fast gleichzeitig entdeckt und schauten sich an.

„Wollen wir hin?“, fragte Tobias.

„Ich liebe alte Häuser“, lachte Philipp und trabte los.

Nach der Erfahrung von eben blieben sie zunächst in vorsichtigem Abstand von dem kleinen Gebäude stehen. Es sah einem Friesenhäuschen sehr ähnlich, wie Tobias es im letzten Jahr in Schleswig-Holstein kennengelernt hatte, als er mit dem Sportverein an der Nordsee war. Das schmale Mittelteil ragte schlank in die Höhe, während rechts und links von ihm die Dachflächen nach vorn zeigten. Diese tief heruntergezogenen Flächen vermittelten tatsächlich den Eindruck, als ducke sich das Haus. Kleine Sprossenfenster hingen ein wenig schief in ihren Fensteröffnungen, und die Haustür bestand aus schweren, zusammengezimmerten Bohlen, die irgendwann einmal mit Farbe angestrichen gewesen waren. Jetzt allerdings sah man nur noch kleine Reste abblätternder Farbe, die darauf hindeuteten, dass die Tür einmal blau gewesen sein musste. Im schlanken Mittelteil des Hauses, über der Haustür, verschloss ein Fensterladen eine kleine Luke.


Überrascht waren die Jungen, dass im rechten Teil des Hauses noch Gardinen hingen, auch wenn sie bestimmt schon Jahre lang nicht mehr gewaschen worden waren. Der linke Teil des Hauses sah unbewohnt aus.

„Da wohnt noch jemand“, stellte Philipp leise fest.

„Lass uns hinten herum gehen“, raunte Tobias. „Ich habe keine Lust, mich heute noch einmal anspucken zu lassen.“

In großem Bogen umgingen sie das Haus, kletterten über einen Graben und gelangten bald an eine mindestens zwei Meter hohe Mauer aus Feldsteinen, die dicht mit Efeu überwuchert war.

„Wahnsinn“, staunte Philipp, „das muss ein riesiges Grundstück sein. Hast du gesehen, wie lang diese Mauer ist?“

„Hundert Meter, schätze ich, und hinter Bäumen völlig versteckt. Von draußen nicht zu sehen.“

„Ob das alles zu dem kleinen Häuschen da vorne gehört?“, überlegte Philipp.

„Wäre möglich. Mich würde brennend interessieren, wie es hinter dieser Mauer aussieht“, meinte Tobias und schaute sich suchend nach einer Möglichkeit um, die Mauer zu überwinden.


„Wenn das Grundstück zum Haus gehört, ist es mit Sicherheit kein gepflegter Garten“, vermutete Philipp. „Lass uns ein Stück an der Mauer entlanggehen, vielleicht finden wir eine Stelle, an der wir hinaufklettern können.“

So marschierten sie im Gänsemarsch die Mauer entlang und schauten nach einer Lücke, durch die sie hindurchgelangen konnten. Die Mauer erwies sich aber im Gegensatz zu dem Haus als außerordentlich gut erhalten, und sie fanden kein einziges Loch. Vielleicht lag es daran, dass die Mauer in ihrer gesamten Länge von Schwarzerlen und Birken eingefasst war und ihr auf diese Weise über all die Jahre Schutz geboten hatten. Nach fast hundert Metern endlich knickte die Mauer rechtwinklig ab. Und auf der Stirnseite des Grundstückes hatten sie Glück. Eine Birke war bei einem der letzten Stürme entwurzelt worden und von außen gegen die Mauer gefallen. Sie stand da wie eine Leiter an die Mauer gelehnt und forderte die Jungen geradezu auf, an ihrem Stamm emporzuklettern.

Tobias machte den Anfang. Auf allen vieren zog er sich vorsichtig nach oben und bemühte sich, vom Stamm nicht abzurutschen. Er hatte Glück, dass am oberen Teil des immer schmaler werdenden Stammes rechts und links genügend kleine Äste abgingen, die er als Haltegriffe nutzen konnte.

 

„Ich bin oben“, meldete er an Philipp weiter, als er vom Stamm auf die Mauer gesprungen war.

Philipp hatte auch schon die Hälfte des Aufstiegs hinter sich gebracht.

„Wie viel Platz ist da oben?“, fragte er hinauf.

„Fünfzig Zentimeter, schätze ich“, gab Tobias zurück und streckte seine Hand aus, um seinen Freund das letzte Stückchen auf die Mauerkrone herüberzuziehen.

„Mann, staunte Philipp. „Ein verwilderter Park.“

„Park?“, stutzte Tobias und schaute Philipp überrascht an. „Glaubst du, das ist der verbotene Park, von dem die alte Hexe gefaselt hat?“

„Wäre auf jeden Fall spannend“, grinste Philipp. „Wir sollten mal ausprobieren, ob da unten tatsächlich der Tod lauert.“

„Und wenn er uns geschnappt hat, erscheinen wir der Alten als Gespenster, spucken ihr ins Gesicht und wimmern: „Alte, du hattest ja so recht!“

Tobias sagte das in einer solchen Grabesstimme, dass Philipp vor lauter Lachen fast von der Mauer fiel.

„So, und wie kommen wir da jetzt herunter?“, fragte Tobias, als sich Philipp beruhigt hatte.

„Ganz einfach: springen!“ Und er machte einen gewaltigen Satz von der Mauer in das Innere des Parks.

„Bist du verrückt?“, rief Tobias erschrocken herunter. „Da kommst du nie wieder heraus! Oder siehst du irgendwo eine Leiter?“

„Oh, Mist, daran habe ich gar nicht gedacht“, erwiderte Philipp und schaute sich nach einem Hilfsmittel um, mit dem er auf die Mauer zurückgelangen konnte. Dann schüttelte er den Kopf.

„Keine Leiter in Sicht. Aber wenn du auch herunterkommst, können wir eine Räuberleiter machen. Ich ziehe dich dann von oben auf die Mauerkrone.“

„Witzbold! Dann kann ich dich auch gleich selbst auf die Mauer ziehen!“, sagte Tobias und tippte sich an die Stirn.

„Aber dann können wir den Park vorher nicht mehr erkunden“, grinste Philipp.

„Also gut, probieren wir’s“, stimmte Tobias zu und sprang hinunter. „Wenn das mit deiner Räuberleiter nachher nicht klappt, sind wir hier gefangen“, gab er zu bedenken, als er sich aufgerappelt hatte.

„Dann werden wir gemeinsam elendiglich sterben“, meinte Philipp theatralisch, griff sich an sein Herz und ließ sich rücklings in das hohe Unkraut fallen.

Ganz so witzig fand Tobias diese Theatereinlage nicht. Er grinste zwar, aber die Vorstellung, in einer Stunde, wenn es dämmrig zu werden begann, hier immer noch festzusitzen, ließ ihm ein wenig mulmig werden.

„Okay, dann komm“, sagte er, und bemühte sich, selbstbewusst zu wirken. „Aber leise und vorsichtig.“

Sie schoben sich durch hohes Gras und Unkraut zwischen dicht stehenden Erlen, Birken und Weiden hindurch Meter um Meter vor. Hin und wieder versperrten ihnen Kiefern und Zypressen oder auch behauene Natursteine und polierte schwarze Platten den Weg.

„Ziemliche Wildnis hier“, stellte Philipp fest und schaute sich vorsichtig um.

„Die haben hier alte Grabsteine abgekippt“, wunderte sich Tobias. „Die meisten, die hier in der Gegend herumliegen, sind zerbrochen.“

Vor ihnen ragte dichtes Gestrüpp auf, durch das sie sich vorsichtig hindurcharbeiteten.

„Da vorn steht ein Pavillon“, meldete Tobias, der vorgegangen war. „Sieht aus wie ein Tempel.“

Sie schlichen von hinten an den Pavillon heran, der etwa sechs mal sechs Meter groß war und ein kleines, flaches Satteldach trug. Auf seiner Rückseite zeigte er keinerlei Fensteröffnungen, war also zum Anschleichen gut geeignet. Sie lugten vorsichtig um die Ecke. Ein kleines, vergittertes Fensterchen zeigte nach Osten und den Eingangsbereich zierten zwei Säulen.

„Das ist weder ein Pavillon noch ein Tempel, das ist eine Gruft“, flüsterte Philipp erschaudernd.

„Dann ist das ganze hier kein Park, sondern ein alter Friedhof“, stellte Tobias fest.

„Deshalb auch überall die umgekippten Grabsteine!“

„Die Alte hatte recht. Hier lauert der Tod.“ Philipp erschauderte noch einmal.

„Spinn nicht rum“, sagte Tobias rau, um sich selbst etwas zu beruhigen. Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut. „Hier lauert überhaupt nichts außer Unkraut und Mücken.“

Er schlug sich kräftig auf den Unterarm, um einen der kleinen Blutsauger zu erwischen, der ihn schon geraume Zeit umschwirrt hatte.

„Aussichtsturm?“, fragte Philipp und zeigte nach oben.

„Du willst im Ernst aufs Dach der Gruft klettern?“ Tobias schaute ungläubig nach oben.

„Klar, von oben haben wir bestimmt einen Überblick über das ganze Gelände. Es sind doch höchstens zwei Meter. Wir nehmen das Fenstergitter als Leiter.“

„Da müssen wir auch erst einmal drankommen“, gab Tobias zu bedenken.

„Räuberleiter“, schlug Philipp vor. „Ich ziehe dich dann nach.“ Tobias stellte sich mit dem Rücken an die Wand, das Fenstergitter über sich. Er verschränkte die Finger seiner Hände zu einem Steigbügel und ließ Philipp aufsteigen. Der zog sich erst an Tobias Hals, dann am Gitter hoch und trat schließlich mit dem anderen Fuß ins Fenstergitter.

„Jetzt du“, sagte Philipp und griff nach Tobias ausgestreckten Händen. „Häng dich erst einmal ans Gitter.“


Damit zog er, so kräftig er konnte, seinen Freund in die Höhe, bis der sich am Gitter mit beiden Händen festhalten konnte. Während Tobias versuchte, mit den Füßen an der Hauswand Halt zu finden und sich hochzudrücken, schwang sich Philipp auf das Satteldach und machte das Gitter frei. Tobias rechter Fuß hakte sich im Gitter ein, sodass er sich weiter nach oben ziehen konnte. Keuchend schwang er sich zu Philipp aufs Dach, wo sie sich flach auf die stark ramponierte Dachfläche legten und vorsichtig über die Steinblende spähten, mit der man die ganze Giebelfront eingefasst hatte, sodass jemand, der vor der Gruft stand, das Dach von vorn gar nicht sehen konnte.

„Tatsächlich ein Friedhof“, stellte Philipp fest. „Von hier oben sieht man noch die alten Wege durch das Unkraut schimmern. Ist mir unten gar nicht aufgefallen. Ist ja der reinste Urwald.“

Ein kühler Windhauch streifte die beiden verschwitzten Jungen, was sie als sehr angenehm empfanden. Im Westen verfärbte sich die Sonne und schickte sich an, unterzugehen.

Tobias schaute auf seine Armbanduhr. „Wir sollten den Rückzug antreten“, schlug er vor, „bis wir über die Mauer sind, wird auch noch eine ganze Zeit vergehen. Hier haben wir, glaube ich, alles gesehen.“

„Denkste!“, wehrte Philipp ab. „Auf der anderen Seite des Daches ist ein ziemlich großes Loch. Lass uns mal hindurchgucken, ob irgendetwas zu sehen ist.“

Sie rutschten über den Giebel auf die andere Seite des Daches und schoben sich vorsichtig an den Rand des Loches.

Einige Sonnenstrahlen fielen schräg von vorn durch den Eingangsbereich und beleuchteten den Vorraum der Gruft mit schummrigem Licht.

„Mensch, sieh mal“, sagte Tobias aufgeregt. „Da in der Säulenhalle, im Eingangsbereich, geht ja eine kleine Treppe nach unten zu einer Tür!“

„Lass uns runterklettern und mal nachsehen, ob man die Tür öffnen kann“, schlug Philipp vor, der in diesem Moment nicht weniger aufgeregt war als Tobias.

„Meinst du, wir kommen unentdeckt durch die Halle?“, fragte Tobias zweifelnd.

„Wird sich finden“, sagte Philipp.

„Und wenn da Särge im Raum stehen?“

„Wird sich auch finden“, wiederholte Philipp und zuckte mit den Schultern.

Sie wollten sich gerade erheben, als Tobias seinen Freund festhielt und mit einem Ruck herunterdrückte.

„Achtung, da ist jemand!“, zischte er Philipp zu.

Erschrocken hielten sie die Luft an. Etwa fünfzig Meter vor ihnen sahen sie eine Gestalt, die sich durch Unkraut und Gestrüpp arbeitete und sich ab und zu dabei zur Erde beugte, als würde sie Steine aufsammeln. Die Gestalt hatte einen langen, dunklen Mantel an, der offen um sie herumwehte.

„Ein Mann“, flüsterte Philipp.

„Ich glaube auch“, erwiderte Tobias leise, „aber was macht er da?“

„Keine Ahnung. Sieht so aus, als suchte er etwas.“

„Was machen wir, wenn er näherkommt?“ Philipp sah seinen Freund besorgt an.

„Liegenbleiben. Hier oben vermutet uns keiner.“ Tobias hoffte, dass er recht behalten würde.

Tatsächlich entfernte sich der Mann nach einiger Zeit, die den Jungen wie eine Ewigkeit vorkam.

„Wir hauen ab“, schlug Philipp vor und ließ sich langsam zur Seite die Dachfläche hinuntergleiten. Am Rande des Daches drehte er sich auf den Bauch und ließ sich die zwei Meter von der Dachkante zum Boden herunterfallen. Tobias rutschte auf gleichem Wege hinterher und war froh, als er unbeschadet unten gelandet war. Im Schutze der Gruft verschwanden sie in das rückwärtige Gestrüpp und hockten sich nieder.

Sie wagten kaum zu atmen und horchten in das Gelände hinein, ob ihnen vielleicht jemand gefolgt sei. Tobias gab Philipp einen Wink, weiterzulaufen, aber gerade, als sie sich erhoben hatten, hielt Philipp ihn zurück.

„Verdammt, ein Hund“, stieß er aus und zeigte zur Gruft zurück.

Ein großes, schwarzes Tier stöberte im Bereich der Gruft herum, bog dann um die Ecke und kam direkt auf sie zu.

„Ach du Schande“, sagte Tobias atemlos und wollte gerade loslaufen, als Philipp ihn erneut festhielt.

„Stehen bleiben“, zischte er. „Ruhig stehen bleiben, er hat uns noch nicht gesehen.“

Beide legten die Arme an den Körper und hielten den Atem an. Ihre Gesichter zeigten starr nach vorn, und keiner von beiden wagte es, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Tatsächlich lief der Hund gute sechs Meter an ihnen vorbei, als ein gellender Pfiff aus dem vorderen Bereich des Geländes ertönte. Der Hund reagierte sofort. Er dreht auf dem Absatz um und lief ein zweites Mal an den im dichten Gestrüpp stehenden Jungen vorbei, um nach kurzer Zeit im Unterholz zu verschwinden.

Tobias atmete hörbar aus.

„Uff, das war knapp. Wieso warst du so sicher, dass er uns nicht sehen würde?“

„Ich bin mir jedenfalls ganz sicher, dass er uns entdeckt hätte, wenn wir wie zwei Verrückte vor ihm her durch das Unterholz gerannt wären.“

„Mann, deine Nerven möchte ich haben“, sagte Tobias anerkennend.

„Soll ich dir etwas verraten? Ich hätte mir vor Schiss beinahe in die Hose gemacht.“

Tobias sah seinen Freund bewundernd an. Er hatte noch nicht viele Jungen kennengelernt, die zugeben konnten, dass sie auch mal Angst hatten. Dass Philipp es ihm gegenüber zugegeben hatte, wertete er als Beweis seiner Freundschaft.

„Lass uns abhauen“, sagte er nach einem prüfenden Blick in Richtung Gruft. „Es wird schummrig, und wir müssen noch über die Mauer.“

Die Mauer war schnell und ohne Zwischenfälle erreicht. Es war die gleiche Stelle, an der sie vorhin von außen herübergeklettert waren. Nun standen sie vor dem Problem, hinaufzukommen.

„Räuberleiter“, sagte Philipp, als ginge es um das Alltäglichste der Welt.

Dieses Mal stellte er sich selbst vor die Mauer, aber Tobias konnte den Rand der Mauerkrone nicht erreichen.

„Stell dich auf meine Schulter“, sagte Philipp gepresst. Er kam langsam aus der Puste.

Tobias stellte seinen rechten Fuß auf Philipps linke Schulter und drückte sich langsam hoch, mit den Fingern die Mauer hinauftastend.

„Ich kann den oberen Rand erreichen“, meldete er. „Ich finde aber nichts, um mich festzuhalten. Es fehlen zwanzig Zentimeter.“

„Kannst du diesen verdammten Ast da oben nicht zu fassen kriegen?“, keuchte Philipp.

„Unmöglich. Der hängt ja noch ein Stück höher über der Mauer!“

„Dann komm runter. Ich kann dich nicht mehr halten!“

Tobias sprang von seiner Schulter, und beide ließen sich ins Gras fallen.

„Jetzt fehlt nur noch, dass der Köter hier auftaucht“, schnaufte Tobias. „Ich wusste gleich, dass wir da so leicht nicht wieder hinaufkommen.“

„Wir müssen irgendetwas finden, das etwa zwanzig Zentimeter dick ist“, stellte Philipp fest“, dann haben wir einen Sockel, auf den wir uns draufstellen können.“

„Ich hab’s“, rief Tobias aus. „Wir nehmen einen Grabstein! Die liegen doch hier überall herum.“

„Wir können es versuchen“, stimmte Philipp zu, „aber ich glaube, die sind tonnenschwer.“

Sie gingen auf die Suche und mussten ein ganzes Stück in Richtung Gruft zurückgehen, ehe sie eine alte Grabplatte fanden. Beiden war nicht wohl in ihrer Haut, schon wieder so weit in das Gelände vorgedrungen zu sein. Sie wussten, dass sie nicht allein waren. Wenn hier auch nicht der Tod lauerte, so doch auf jeden Fall ein Mann mit seinem Hund. Und der würde sicher nicht lange auf Erklärungen warten, was sie hier bei Einbruch der Dämmerung zu suchen hatten.

 

Gemeinsam versuchten sie, die Grabplatte anzuheben, aber der schwere Stein ließ sich höchstens um einen Zentimeter bewegen.

„Hast du noch eine gute Idee?“, fragte Philipp etwas ironisch.

„Vielleicht tut es auch ein Balken oder ein Baumstamm“, schlug Tobias vor.

In der Ferne erklang das tiefe Gebell eines großen Hundes.

„Wir müssen hier weg“, raunte Philipp und lief zur Mauer zurück. Tobias lief ihm in einem kleinen Bogen nach. Er wollte auf keinen Fall Trampelpfade hinterlassen.

Während er Philipp in einiger Entfernung folgte, sah er plötzlich, von Gras und Unkraut überwuchert, einen kleinen Haufen Bauschutt im Gestrüpp liegen. Aus dem Bauschutt ragte ein zehn Zentimeter dickes Kantholz von vielleicht fünfzig Zentimeter Länge. Er rüttelte es aus dem Schutt heraus und nahm es mit.

„Ein bisschen schmal, um damit auf die Mauer zu kommen“, urteilte Philipp, als ihm Tobias seine Entdeckung zeigte.

„Wir legen das Holz natürlich nicht quer vor die Mauer, sondern wir lehnen es aufrecht dagegen. Dann stehen wir nicht nur zwanzig Zentimeter höher, sondern einen halben Meter.“

Tobias stellte das Kantholz auf und lehnte es etwas schräg gegen die Mauer.

„Wer macht den Anfang?“, fragte er.

Das Hundegebell kam näher.

„Ich“, sagte Philipp schnell und erklomm das Holz.

„Ein paar Zentimeter musst du mir auf dem Holz schon lassen“, sagte Tobias. „Wie wollen wir sonst da oben eine Räuberleiter machen?“

Philipp versuchte, seinen Fuß ein Stück zur Seite zu nehmen, aber er verlor sein Gleichgewicht, das Holz fiel um, und er stürzte herunter.

„Gleich noch einmal“, ermunterte ihn Tobias. „Du musst deinen anderen Fuß in die Mauerritze da stellen. Dann hast du mehr Halt.“

Philipp versuchte es zum zweiten Mal. Dieses Mal stand er sicherer.

„Jetzt komm herauf“, forderte er Tobias auf.

Tobias stellte seinen rechten Fuß auf die fünf Zentimeter des Kantholzes, die Philipp ihm gelassen hatte. Dann zog er sich vorsichtig an ihm hoch und stellte seinen linken Fuß in den Steigbügel, den Philipp ihm hinhielt. Aber gerade, als er Philipps Steigbügel mit seinem ganzen Gewicht belastete, verlor dieser erneut das Gleichgewicht, und beide stürzten zu Boden.

„Wir kommen hier nie wieder heraus“, sagte Philipp resigniert.

Sein ganzes Selbstbewusstsein war auf einmal verschwunden.

„Keine Panik“, beruhigte ihn Tobias, und er war erstaunt, wie gelassen er das sagte.

„Vielleicht finden wir hier noch ein zweites Holz oder …“ Er sprang plötzlich auf.

„Ich habe eine bessere Idee. Zieh mal deine Jacke aus.“

Philipp entledigte sich wortlos seiner Jacke. Er fragte gar nicht nach, was Tobias damit wollte. Der knotete Philipps Jacke mit seiner eigenen an den Ärmeln zusammen und kletterte erneut auf den an der Mauer lehnenden Balken. Dann warf er die zusammengeknoteten Jacken über den Ast, der von dem entwurzelten Baum über die Mauer ragte, wobei er den einen Ärmel festhielt. Das Gewicht der Jacken bog den Ast hinunter, sodass Tobias nun den zweiten Ärmel fassen konnte. Wie mit einem Lasso zog er dann den Ast zu sich herunter.

„Komm auf den Balken und greif dir den Ast“, forderte Tobias, der sich krampfhaft bemühte, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Philipp erklomm vorsichtig den Balken und konnte tatsächlich den heruntergebogenen Ast erreichen. Er zog sich vorsichtig hoch und stellte sich behutsam auf Tobias Schulter.

„Kannst du noch?“, fragte er besorgt. „Ich habe es gleich geschafft.“

„Beeil dich“, keuchte Tobias. „Ich rutsche gleich ab.“

Philipp stieß sich ab und stemmte sich auf die Mauer hoch. Der Ast schnellte nach oben, die Jacken flogen über die Mauer nach draußen und Tobias stürzte in hohem Bogen ins Gras.

„Ich bin oben“, meldete Philipp erleichtert von der Mauerkrone.

„Und ich bin wieder unten“, rief Tobias hinauf, wobei er sich aus dem Gras aufrappelte.

Das Bellen des Hundes kam dieses Mal aus Richtung der Gruft zu ihnen herüber.

„Wenn du es jetzt nicht schaffst, mich auf die Mauer zu holen, bekommt die Hexe doch noch recht“, raunte Tobias halblaut nach oben und stellte das Kantholz zum vierten Mal auf.

Während er auf den Balken kletterte, hatte Philipp die zusammengeknoteten Jacken aus dem umgefallenen Baum gefischt und ließ den einen Ärmel zu Tobias herab.

„Fass an, ich zieh dich hoch“, forderte er Tobias auf.

Tobias ergriff den Ärmel und Philipp zog beidhändig mit aller Kraft. Tobias schnellte nach oben und hangelte sich auf die Mauer.

Das Bellen kam bedrohlich nahe.

Die Jungen kletterten, so rasch es die anbrechende Dunkelheit zuließ, den Stamm hinunter und erreichten erleichtert sicheren Boden.

Auf der anderen Seite der Mauer hörten sie das Brechen von trockenen Zweigen und das Hecheln eines Hundes auf der Suche nach Eindringlingen.

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