Der verbotene Park

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Der verbotene Park
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Inhalt





Impressum 2







Neue Freunde … 3







… neue Feinde 16







Die Hexe und der verbotene Park 28







Herausforderung in der Schule 53







Geheimnisse um den vergessenen Friedhof 59







Kriegsrat 80







Das Abenteuer beginnt 93







Die Mutprobe 107







Ein vertrauter Verbündeter 139







Ein Angeber wird entlarvt 154







Ein Geheimnis lüftet sich 162







Der Überfall 179







Ein Verbrechen wird entdeckt 199







Das Geständnis 209







Gespensterjagd 224







Glücklicher Ausklang 242







Impressum



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:



Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.



Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.



Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.



© 2022 novum publishing



ISBN Printausgabe: 978-3-99131-240-6



ISBN e-book: 978-3-99131-241-3



Lektorat: Mag. Angelika Mählich



Umschlagfoto: Roman Egorov, Ekaterina Nikolaenko, Mikesilent, Merggy | Dreamstime.com



Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh





www.novumverlag.com





Bildquellennachweis:



Bild 1 und 3 © Hubertus von Wick



Bild 4, 8-16 © Task Force Clipart – lizenzfrei



Bild 2 und 7 © Werner Nitschke (im Auftrag des Verfassers)



Bild 5 © Wolfgang Claussen auf Pixabay, https://pixabay.com/de/



Bild 6 © Ariane von Saltzwedel auf Pixabay (Riesenschnauzer), https://pixabay.com/de/





Neue Freunde …



Frau Grüttner stellte zwei Becher auf den Tisch und goss in den einen Kakao ein. Dann nahm sie die Thermoskanne aus der Kaffeemaschine und füllte sich den frisch gebrühten Kaffee in den anderen.



„Tobias, dein Kakao ist fertig.“



Der Zehnjährige kam aus dem Kinderzimmer und setzte sich schweigend vor seinen warmen Kakao. Der blonde Wuschelkopf war groß und kräftig für sein Alter und konnte ebenso gut für einen Elfjährigen gehalten werden. Seine Jeans waren verwaschen und trugen auf den Knien bunte Bilderflicken. Sein dunkelblaues Sweatshirt schien neueren Datums zu sein und war ihm sichtlich eine Nummer zu groß.



Mutter und Sohn saßen sich schweigend gegenüber und hielten mit beiden Händen ihre Becher umklammert, als müssten sie sich an ihnen festhalten.



Frau Grüttner wusste, dass Tobias todunglücklich war. Für ihn hatte der Umzug hierher in das kleine Dorf mehr bedeutet als nur einen Schulwechsel, den sie als das eigentliche Problem ansah. Tobias hatte seine vertraute Umgebung aufgeben müssen, seine Klassenkameraden, den Bolzplatz, den Spielplatz, den kleinen Graben, an dem sie immer das Wasser gestaut hatten und seine Piratenhöhle, eine große Röhre aus breiten Betonringen, die irgendwann einmal im Zuge von Kanalisationsarbeiten neben dem Spielplatz liegen geblieben waren.



Das Schlimmste aber war, dass ihn der Umzug von seinem besten Freund, dem Christoph, getrennt hatte. Sie hatte das Gefühl, dass er daran im Augenblick am meisten zu knabbern hatte.



„Hast du die Kisten schon ausgepackt?“, fragte sie, nur um etwas zu sagen.



„Nur die Spielsachen, die Klamotten noch nicht“, erwiderte er in sich gekehrt.



„Hast du gemerkt, dass dein neues Zimmer etwas größer ist als dein altes?“



Tobias nickte. Er wäre trotzdem lieber in seinem alten Zuhause geblieben. Aber seine Mutter hatte in der nahen Kreisstadt einen Job als Rechtsanwaltsfachangestellte bekommen, worüber sich anfangs beide sehr gefreut hatten.



Sie hatte seinetwegen und, weil irgendwann, als er gerade vier Jahre alt war, die Scheidung von seinem Vater dazwischenkam, für lange Zeit mit ihrem Beruf ausgesetzt und nun, nachdem er die Grundschule durchlaufen hatte, den Wiedereinstieg in das Berufsleben versucht. Das war gar nicht so einfach gewesen.



Er erinnerte sich noch, wie ihn seine Mutter ein Dreivierteljahr nach ihrem ersten Bewerbungsschreiben mit einem Brief in der Hand wedelnd in der Haustür empfing, als er von der Schule kam.



„Es hat geklappt, wir haben einen Job!“, hatte sie gerufen, ihn hochgehoben und wie wild im Kreis herumgewirbelt.



„Weißt du, was das bedeutet? Selbstverdientes Geld, Unabhängigkeit, weg vom Sozialamt!“



Sie hatten sich wahnsinnig gefreut, obwohl er zunächst nicht ganz verstanden hatte, was „weg vom Sozialamt“ bedeutete. Dann aber hatte sie hinzugefügt:



„Vielleicht erfüllt sich jetzt endlich dein Traum vom eigenen Computer.“



Da hatte er verstanden. Eigenes Geld, eigener Computer. Weg vom Sozialamt hieß: Ende mit der Sparsamkeit, Urlaub vielleicht, in den Süden fliegen, wie das andere Leute jedes Jahr tun.



So weit, so gut. Aber dann kam das dicke Ende. So ganz nebenbei, beim Ausziehen der Jacke, hatte sie gesagt:



„Einen kleinen Haken hat die Sache: Die neue Stelle liegt 115 Kilometer von hier entfernt. Das kann ich nicht jeden Tag fahren. Wir werden umziehen müssen.“



Tobias merkte, wie ihm die Tränen hochstiegen. Er nahm zwei kräftige Schlucke von seinem Kakao, um den dicken Kloß in seinem Hals herunterzuspülen.



„Ich weiß, wie dir zumute ist“, sagte seine Mutter und drückte seine Hände. „Aber du wirst sehen: Alles, was du jetzt noch vermisst, wirst du hier neu entdecken: Freunde, Spielplätze, Sportvereine und ab morgen auch Klassenkameraden.“



Tobias nickte. Der Gedanke, dass er morgen seinen ersten Tag in der neuen Schule hatte, in der er niemanden kannte, erzeugte ein mulmiges Gefühl in seinem Bauch.



Sie tranken ihre Becher aus und erhoben sich.



„Ich mache dir einen Vorschlag, Tobias, ich packe deine Kleiderkisten aus und du fährst ein bisschen durchs Dorf und erkundest unsere neue Umgebung.“



Tobias hatte eigentlich keine große Lust, dieses langweilige kleine Dorf zu erkunden. Andererseits wollte er seiner Mutter auf keinen Fall etwas vorheulen. Außerdem war er fest davon überzeugt, dass er ohnehin nicht länger als fünf Minuten brauchte, um einmal das Dorf zu umrunden.



Also nahm er das Angebot an. Er zog seine Jacke über, verließ die neue Wohnung, die im ersten Stock lag, stieg lustlos die 24 Stufen des Treppenhauses hinunter und trat ins Freie. Draußen blendete ihn die Nachmittagssonne. Zu dieser Jahreszeit, Anfang Oktober, stand die Sonne schon recht tief um diese Zeit, und in einer Stunde würde sie kaum noch zu sehen sein. Er entfernte das Fahrradschloss von seinem Drahtesel und radelte los.



Die Straße war neu, teilweise noch gar nicht fertig. Vor seinem Haus fehlte zum Beispiel der Bitumenbelag. Sie sollte sich mal als Ring durch das ganze Neubaugebiet schlängeln. Deshalb hatte man sie Hasenring genannt.



„Total bekloppt“, dachte Tobias. „Klingt ja wie Nasenring!“



Neben dreigeschossigen Mietshäusern gab es viele sehr unterschiedliche Einfamilienhäuser, in deren Gärten noch riesige Erd- und Sandhaufen lagen. Im vorderen Bereich der Straße, am Übergang zum alten Dorf, waren die Gärten schon angelegt. Die Bäume und Büsche waren allerdings gerade erst gepflanzt worden und sahen noch etwas mickrig aus.



Tobias registrierte einige Leute, die sich eifrig bemühten, aus ihren Bauschutt- und Sandwüsten ansprechende Gärten zu gestalten, er sah aber nur wenige Kinder. Sie waren jünger als er und wühlten mit kleinen Schaufeln und Eimerchen in den großen Dreckhaufen herum. Er umkurvte eine Baustellenabsperrung und sah zwei Jugendliche auf sich zukommen, ein Mädchen und einen Jungen. Tobias schätzte sie auf etwa 16 Jahre. Sie hatten sich untergehakt und blödelten herum. Für wenige Sekunden war Tobias durch die beiden so abgelenkt, dass er einen Haufen mit Baumaterialien übersah, der vor ihm durch Flatterband ordnungsgemäß abgesichert auf der Straße lag. Er durchbrach das Band, knallte in einen Palettenstapel hinein und flog mit dem Kopf voran über seinen Lenker. Sein Rad überschlug sich und blieb neben ihm liegen.



Einen Augenblick lang rührte er sich nicht. Er musste sich erst einmal sortieren. Seine rechte Schulter brannte und seine Hose hatte über dem linken Knie ein Loch.



„Mist“, dachte er. „Für die Hose hat Mama so viel Geld ausgegeben!“



Die beiden Jugendlichen kamen angelaufen.

 



„Bist ja ein echt geiler Radfahrer“, sagte der Junge, „aber am Salto solltest du noch ein bisschen arbeiten.“



„Sei nicht so fies“, schimpfte das Mädchen. „Siehst du nicht, dass er blutet?“



„War ja nicht so gemeint, komm, ich helfe dir mal hoch.“



Damit griff er Tobias unter die Achseln und stellte ihn auf die Beine.



In Höhe der Unfallstelle öffnete sich die Haustür eines Einfamilienhauses. Eine Frau kam heraus.



„Bist du verletzt?“, fragte sie besorgt. „Ich habe aus dem Küchenfenster gesehen, wie du über den Lenker geflogen bist.“



„Wie du siehst, steht er schon wieder“, sagte das Mädchen. „Aber er blutet am Knie.“



Für einen Augenblick war Tobias überrascht, dass die beiden sich zu kennen schienen. Aber als die Frau sagte: „Komm, Corinna, wir bringen ihn ins Haus“, merkte er, dass sie Mutter und Tochter waren.



Tobias war es ein bisschen unangenehm, von den drei Fremden so umsorgt zu werden und wollte den Rückzug antreten.



„Vielen Dank, aber ich glaube, das ist nicht nötig. Ich wohne gleich oben am Hasenring und kann schnell nach Hause fahren.“



Corinnas Mutter schaute zweifelnd zu Tobias´ Fahrrad, das mit einer leichten Acht im Vorderrad und einem verbogenen Lenker zwischen den Paletten lag.



„Vielleicht kann sich Matthias ja mal um dein Fahrrad kümmern“, sagte sie mit Blick auf Corinnas Freund. „In der Zwischenzeit schaue ich mir mal deine Verletzungen an.“



Sie schob Tobias vor sich her ins Haus. >STEINER< stand auf dem Klingelschild. Tobias bemerkte, dass auch diese Familie erst vor Kurzem eingezogen sein konnte.



Die Garderobe war wie der Spiegel noch nicht an die Wand gedübelt, sondern stand an ein Schränkchen gelehnt auf dem Boden. Corinnas Mutter lotste ihn in die Küche und deutete auf einen Stuhl. Tobias setzte sich, zog vorsichtig den Stoff seiner zerrissenen Hose vom Knie zurück und legte seine Wunde frei. Die Blutung stand inzwischen, die Wunde sah aber insgesamt sehr verschmutzt aus.



„Ich mach’s drumherum ein bisschen sauber und desinfiziere die Wunde. Keine Angst, das Zeug brennt nicht“, fügte sie schnell hinzu, als sie merkte, dass Tobias unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen begann.



Sie hatte sich gerade vorsichtig an die Arbeit gemacht, als ein blonder Schopf in der Küchentür erschien.



„Was ist denn hier los?“, fragte der Junge.



Er war einen Tick größer, aber wesentlich schmaler als Tobias, der ihn als gleich alt einschätzte.



„Du kommst gerade richtig, Philipp“, sagte seine Mutter. „Der junge Mann hier ist vor unserem Haus gestürzt. Du könntest mal ein Pflaster abschneiden.“



Dann schaute sie Tobias an und fragte: „Wie heißt du eigentlich?“



„Tobias Grüttner.“



Frau Steiner lächelte ihn freundlich an.



Die Blicke der Jungen streiften sich. Keiner der beiden verzog eine Miene. Philipp schnitt ein Pflaster zurecht und gab es seiner Mutter. Die besprühte gerade Tobias’ Knie mit einem Wunddesinfektionsspray, und Tobias registrierte dankbar, dass es tatsächlich nicht brannte.



„Wann seid Ihr eingezogen?“, fragte sie und klebte das Pflaster behutsam über die Wunde.



„Heute Vormittag.“



„Oh, dann war das sicher dein erster Ausflug hier im Dorf?“



Tobias nickte. „Und mein erster Unfall.“



Frau Steiner lachte. „Hoffentlich bleibt es bei dem einen. So viele Fahrräder zum Wechseln wirst du wohl nicht haben.“



„So viele Hosen auch nicht“, erwiderte Tobias und grinste.



Er erhob sich und schaute aus dem Küchenfenster auf die Straße. Sein Fahrrad stand jetzt vor dem Haus. Der Lenker war gerichtet, aber ob das Vorderrad in Ordnung war, konnte er von hier aus nicht sehen.



„Dann werde ich mal nach Hause fahren“, sagte er und fühlte vorsichtig nach seiner Schulter. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“



„Magst du Tobias ein Stück begleiten?“, fragte Frau Steiner an Philipp gewandt. „Du warst heute auch noch nicht draußen und jetzt scheint noch so schön die Sonne.“



„Wenn’s sein muss“, sagte der, eher gelangweilt.



Die Jungen verließen das Haus, und während Philipp sein Rad aus dem kleinen angebauten Schuppen holte, begutachtete Tobias sein Fahrrad. Lenker und Schutzbleche saßen wieder richtig, aber das Vorderrad wies nach wie vor eine kleine Acht auf.



„Gibt es hier irgendwo ein Fahrradgeschäft?“, fragte Tobias, als Philipp mit seinem Rad um die Hausecke kam.



„In Sanddorf“, nickte Philipp. „Das ist die nächste Kreisstadt.“



„Ich weiß“, sagte Tobias und schob sein Rad zur Straße zurück. „Nach Sanddorf muss ich ab morgen zur Schule.“



„Alle, die hier wohnen, müssen nach Sanddorf zur Schule“, sagte Philipp. „Ich auch.“



Er schwang sich auf sein Rad.



„Ich glaube, ich muss schieben“, meinte Tobias. „Das Vorderrad eiert zu stark.“



Philipp stieg ab. „Okay, schieben wir also ein Stück.“



Tobias schaute ihn an. Er fand seinen Begleiter recht nett, und dass der sein eigenes Rad jetzt neben ihm herschob, statt vorauszufahren, rechnete er ihm hoch an.



„In welche Schule gehst du denn in Sanddorf?“, fragte Tobias.



„Hegelstraße, 5. Klasse“, erwiderte Philipp und schoss einen Kieselstein zur Seite.



„Da muss ich auch hin“, sagte Tobias überrascht.



„In welche Fünfte gehst du?“



„Es gibt drei. Ich gehe in die b-Klasse.“



„Ich weiß noch nicht, in welche Fünfte ich genau komme“, sagte Tobias. „Auf jeden Fall werden wir uns dann auf dem Schulhof sehen.“



Philipp nickte.



„Welche Nummer wohnt Ihr?“, fragte er.



„32. Das ist da oben, wo die Straße noch nicht fertig ist.“



Ein LKW mit Sand beladen bahnte sich langsam seinen Weg an den Paletten mit roten Klinkersteinen vorbei, die vor einem Neubau am Straßenrand standen.



„Spielst du Fußball?“, fragte Philipp.



„Nicht im Verein. Aber ich glaube, ich spiele ganz gut.“



„Wir spielen immer in den Pausen auf dem Schulhof. Hier in Dolben gibt es, glaube ich, keinen Bolzplatz.“



„Ziemlich ödes Nest hier, was?“, meinte Tobias.



„So genau kenne ich mich in Dolben noch nicht aus“, erwiderte Philipp. „Wir wohnen schließlich auch erst vierzehn Tage hier. Wenn du Lust hast, können wir ja mal gemeinsam losziehen und gucken, wo was los ist.“



„Gute Idee“, freute sich Tobias. „Aber jetzt muss ich meiner Mutter erst mal das demolierte Fahrrad und die zerrissene Hose beichten.“



Sie hielten vor Tobias’ neuem Zuhause.



„Kommst du noch mit rauf?“



„Ich kann nicht. Meine Schwester wartet auf mich. Wir wollen ein neues Spiel auf dem Computer installieren. Wir sehen uns morgen in der Schule.“



„Du hast einen eigenen Computer?“



„Mit meiner Schwester zusammen“, nickte Philipp“, hast du auch einen?“



„Ich bekomme vielleicht demnächst einen eigenen.“



„Toll“, sagte Philipp. „Also, dann bis morgen!“



Er wendete sein Rad und rauschte davon.



„Bis morgen! Und vielen Dank noch mal!“, rief Tobias ihm nach.



Der Gedanke, schon am ersten Tag einen neuen Freund gefunden zu haben, ließ ihn Schulter und Knie kaum noch spüren.





… neue Feinde



„Viel Glück für deinen ersten Tag“, raunte Frau Grüttner ihrem Sohn zu, als sie den langen Flur der neuen Schule entlanggingen, auf der Suche nach dem Rektorzimmer. Sie wusste, dass sie ihn jetzt weder in den Arm nehmen noch ihm einen Kuss geben durfte. Es war ungeheuer peinlich, wenn die anderen einen dabei beobachteten, wie man – als Zehnjähriger – von seiner Mutter geküsst wurde.



„Danke“, raunte Tobias zurück. „Holst du mich nachher wieder ab?“



„Klar. Ich will nur erst einmal hören, wann du heute aus der Schule kommst. Dann bringe ich als Erstes dein Fahrrad zur Reparatur und schaue mich dabei gleich in Sanddorf ein wenig um. Um 10.00 Uhr habe ich einen Termin in meiner neuen Kanzlei. Ich soll mich vorstellen. Danach hole dich wieder ab. Ehe wir nach Hause fahren, müssen wir allerdings noch eine neue Hose für dich besorgen, die alte hat ja nicht lange gehalten.“



Tobias nickte. Seine Mutter war ganz schön erschrocken gewesen, als er gestern Nachmittag nach Hause gekommen war. Nicht nur wegen der Hose und des verbogenen Fahrrades. Sie hatte entdeckt, dass auch die Schulter völlig verschrammt und das Hemd aufgerissen war. Zum Glück hatte er ihr ausreden können, einen Arzt aufzusuchen. Mütter sind immer so übertrieben besorgt!



„Hier ist es“, sagte seine Mutter und klopfte an die Tür des Schulleiters.



„Bärmann – Rektor“, stand auf einem kleinen Schildchen neben der Tür. Ein mittelgroßer bärtiger Mann von kräftiger Statur öffnete und begrüßte sie freundlich.



„Kommen Sie herein und nehmen sie Platz“, sagte er und deutete auf zwei Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.



„Sie sind neu zugezogen?“, fragte er und blätterte in einer dünnen Akte.



„Gestern erst“, nickte Frau Grüttner. „Nach Dolben.“



„Dann müssen wir erst einmal eine Klasse für dich finden“, überlegte er und lächelte Tobias an. „Irgendwelche Wünsche?“



„5 b“, sagte Tobias spontan, und seine Mutter schaute ihn überrascht an.



„5 b ist gut“, nickte Bärmann gleichmütig. „Die haben heute eine Stunde eher aus. Hast du das gewusst?“



„Nein“, erwiderte Tobias wahrheitsgemäß, und sein Herz klopfte ihm vor Freude bis zum Hals. Er hätte sich nicht im Traum vorstellen können, dass man ihn fragen würde, in welche Klasse er gehen möchte! Philipp würde Augen machen!



„Es wird gleich läuten“, sagte Bärmann“, ich bringe dich in deine neue Klasse. Deine Klassenlehrerin ist Frau Lüttke. Sie wird sich um alles weitere kümmern.“



Und an Frau Grüttner gewandt fügte er hinzu: „Tobias wird heute um viertel vor Eins aus der Schule kommen.“



Frau Grüttner bedankte sich und verabschiedete sich von beiden. Als sie auf dem Flur auseinandergingen, winkte ihr Tobias unauffällig nach, was sie ebenso unauffällig erwiderte.



***



Es war 11.45 Uhr, als Tobias zur zweiten großen Pause zum ersten Mal den Schulhof betrat. In der ersten großen Pause hatte er vom Schulassistenten die Bücher bekommen und zu seiner Überraschung festgestellt, dass das Mathebuch das gleiche war, das sie an seiner alten Schule auch schon gehabt hatten. Dann war er mit Philipp und ein paar Klassenkameraden durch die Schule gepilgert und hatte sich mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht.



Er hatte im Großen und Ganzen mit der 5 b eine gute Wahl getroffen. Fünf seiner neuen Klassenkameraden kamen aus Dolben, darunter zwei Mädchen. Sie waren sehr hilfsbereit gewesen, als er heute Morgen neu in die Klasse kam, und Philipp hatte erwartungsgemäß sehr überrascht geguckt.



Er hatte sich leider neben ein Mädchen setzen müssen, worüber einige ziemlich blöd gekichert hatten, aber neben Philipp oder den anderen Jungen war kein Platz mehr frei gewesen. Da sich Mareike jedoch überhaupt nichts daraus zu machen schien, ihm im Gegenteil gleich ihr Buch herüberschob, weil er noch keines hatte, da hatte es ihn auch nicht weiter gestört.



Tobias holte tief Luft. Er hätte jetzt gern einen Happen gegessen, hatte aber heute Morgen in der Aufregung sein Brot zu Hause liegen lassen. Der Vormittag hatte ihn ziemlich geschlaucht. So viele neue Eindrücke waren auf ihn eingestürmt, so viele neue Gesichter, so viele Fragen.



Er suchte in seiner Tasche nach einem Geldstück, um sich beim Hausmeister irgendetwas Essbares zu kaufen, stellte aber fest, dass er – natürlich – eine andere Hose anhatte als gestern. Genau aus diesem Grunde hasste er es, sich umzuziehen, weil alles, was man in diesem Moment brauchte, mit Sicherheit in der Hose steckte, die man gerade nicht anhatte.



Auf dem Schulhof entstand ein Tumult. Die Schüler liefen in Scharen zusammen und umringten zwei Jungen, die offensichtlich kurz davorstanden, sich zu prügeln. Tobias hatte keine Lust auf weitere Aufregungen und wollte sich gerade abwenden, als er be­merkte, dass einer der Streithähne Philipp war. Und ihm gegenüber standen nicht ein, sondern standen gleich drei Gegner, die ihn ernsthaft bedrohten.



Tobias bahnte sich eine Schneise durch die Menge.



„Was willst du Würstchen denn allein gegen uns drei ausrichten?“, hörte er den Wortführer der drei gerade sagen, wobei er Philipp einen kräftigen Stoß gegen die Schulter versetzte.



Er war etwas größer als Philipp. Tobias schätzte, dass er in eine der 6. Klassen gehörte.

 



Tobias stellte sich direkt neben Philipp und sagte ganz ruhig:



„Du kannst wohl nicht zählen, Rambo. Wir sind zu zweit, und solltest du einen von uns noch einmal anfassen, fängst du dir ein Paar rote Ohren ein.“



Dem Wortführer verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Für einige Sekunden wurde es merklich stiller um sie herum. Man konnte sehen, wie es in ihm arbeitete, weil er Tobias noch nie zuvor gesehen hatte, und ihn deshalb auch nicht einschätzen konnte. Sekunden später hatte er sich aber wieder in der Gewalt.



„Hör mal, Kleiner, du bist wohl lebensmüde“, drohte er und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Mit einem raschen Griff packte er Tobias am Kragen und zog ihn zu sich heran. Tobias aber ergriff mit beiden Händen die Jacke seines Gegners und ließ sich rücklings auf den Boden fallen. Im Fallen riss er seinen Kontrahenten mit sich, der der Länge nach über ihn hinweg auf den Boden stürzte. Mit einer kurzen Drehbewegung war Tobias über ihm und drückte sein Gesicht nach unten auf den Boden.



„Na, was ist jetzt? Reicht es fürs Erste oder willst du noch eins aufs Auge?“, fragte Tobias ganz außer Atem.



Die beiden Freunde des am Boden Liegenden schickten sich an, ihm zur Hilfe zu eilen, aber da machte Philipp einen Schritt nach vorn und drohte:



„Lasst es lieber, sonst liegt da gleich noch einer auf der Erde.“



„Haut ’se, haut ’se, immer auf die Schnauze!“, schrien die Umherstehenden im Chor, aber da bahnte sich schon ein Lehrer den Weg durch die Menge und beugte sich zu den beiden herunter.



„Was ist hier los?“, fragte er scharf.



Tobias erhob sich langsam und auch sein Gegner rappelte sich auf. Sein Gesicht war vom Schmutz des Schulhofes ganz streifig, wies aber ansonsten keine Verletzungen auf.



„Wir sind irgendwie übereinander gefallen“, sagte Tobias. „Sonst war eigentlich nichts.“



„Stimmt das, Marco?“, fragte der Lehrer nun den anderen, der sich mit dem Ärmel seiner Jacke den Dreck aus dem Gesicht wischte.



„Ja, so ungefähr.“



„Dann geht euch jetzt lieber aus dem Weg“, schlug der Lehrer vor und wandte sich ab.



„Wir sehen uns noch“, zischte Marco Tobias zu und wandte sich ab. Seine Freunde folgten ihm.



„Ich freue mich drauf“, rief Tobias ihnen nach.



Philipp trat an ihn heran.



„Mann, das war ja eine tolle Vorstellung von dir“, sagte er. „Danke für deine Hilfe.“



„Worum ging es eigentlich?“, fragte Tobias.



„Die drei sind aus Dolben, und zwar aus dem alten Dorf. Sie können die Leute aus dem Neubauviertel nicht leiden, weil die für sie die Reichen sind, die angeblich ihr Dorf kaputtmachen, oder so. Jedenfalls müssen sie sich dauernd aufspielen. Von daher war es mal ganz gut, dass sie jetzt eins aufs Maul bekommen haben.“



„Das Problem ist nur, dass der Streit in Dolben weitergehen wird. Sie werden uns nicht in Ruhe lassen“, gab Tobias zu bedenken.



„Gemeinsam sind wir stark“, sagte Philipp feierlich und klopfte Tobias auf die Schulter.



Der schaute an sich herunter und stöhnte auf.



„Meine Mutter bringt mich um“, seufzte er und klopfte vergeblich an seiner Hose herum. „Das ist die zweite versaute Hose in zwei Tagen.“



***



„Wie siehst du denn schon wieder aus“, empfing Frau Grüttner prompt ihren Sohn, als er zu ihr ins Auto stieg.



„Tut mir leid, bin hingesegelt“, sagte Tobias und verschwieg den wesentlichen Teil des Vorfalles, der zu dem wenig schönen Aussehen seiner Hose geführt hatte.



„Dann kaufen wir wohl besser gleich zwei Hosen“, schlug seine Mutter vor und übersah bewusst den gequälten Gesichtsausdruck ihres Sohnes.



Tobias konnte Klamotteneinkaufen nicht ausstehen.



Frau Grüttner parkte auf dem Parkplatz eines Bekleidungshauses. Gelangweilt folgte er ihr in das große Geschäft.



Mutter und Sohn brauchten fast eine halbe Stunde, um für Tobias zwei Hosen auszusuchen. Der hatte in dieser Zeit mehr als einmal das Gefühl, in der Kabine ersticken zu müssen.



„Und solltest du weiterhin einen derartigen Verschleiß an Hosen haben“, sagte sie beim Einsteigen in den Wagen, „werden wir hier öfter mal ein Stündchen zubringen. Überleg dir das also.“



Tobias schwor sich, nur noch wie ein Balletttänzer zu schweben. Insgeheim freute er sich über die neuen Hosen, in denen er echt cool aussah. Er wusste, dass es seiner Mutter nicht leichtfiel, mal eben so viel Geld für seine Sachen auszugeben, bloß weil er nicht aufpassen konnte. Aber vielleicht würde sich das mit dem Geld ja mal ändern, jetzt, wo seine Mutter eine neue Stelle hatte.



„Wie war es eigentlich heute bei deiner neuen Stelle in der Kanzlei?“, fragte er unvermittelt.



„Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr fragen“, erwiderte sie lächelnd und bog auf den Parkplatz eines chinesischen Restaurants ein. „Ich glaube, wir haben heute einen Grund zum Feiern.“



„Wir gehen essen?“, freute sich Tobias.



Sie waren seit ewigen Zeiten nicht mehr zusammen essen gewesen. Mehr als zu einer Bratwurst hatte es nie gereicht. Und für chinesisches Essen ließ er sowieso alles stehen und liegen.



„Ich wurde sehr freundlich bei einer Tasse Kaffee empfangen“, berichtete sie, als sie sich zwei Plätze am Fenster ausgesucht hatten. „Die Kanzlei besteht aus drei Rechtsanwälten, einer Schreibkraft und mir als Fachangestellte für Rechtsanwalts- und Notariatsange­legenheiten. Meine Chefs sind Herr Dr. Schirmer, der auch Notar ist, und Herr Dr. Steiner, der übrigens auch irgendwo in Dolben wohnt. Er ist der Strafrechtler und macht einen sehr netten und lockeren Eindruck.“



„Bestraft der die Verbrecher vor Gericht?“, fragte Tobias.



„Der verteidigt Straftäter vor Gericht, damit sie nicht unschuldig hinter Gitter kommen“, erklärte Frau Grüttner.



„Das stelle ich mir unheimlich spannend vor“, sagte Tobias. „Der muss ja den ganzen Tag mit richtigen Gangstern zu tun haben.“



„So ungefähr“, lachte seine Mutter und schlug die Speisekarte auf.



Sie blätterten langsam von den Vorspeisen über die Hauptgerichte zu den Desserts und entschieden sich dann, den Mittagstisch zu nehmen.



„Darf ich die Lychees zum Nachtisch?“, fragte Tobias und freute sich, dass seine Mutter nickte.



Ein freundlicher Chinese brachte ihnen ihre Getränke, und Tobias stieß mit seiner Mutter an.



„Auf deine neue Stelle, Mama“, prostete er ihr zu. „Du hast aber noch gar nicht von dem dritten Rechtsanwalt erzählt.“



„Der Dritte im Bunde ist Herr Neuberger. Der ist jünger als die anderen beiden, etwa so alt wie ich. Er ist in der Kanzlei für Zivilklagen und das Verkehrsrecht zuständig, also zum Beispiel für Schadensersatzklagen und Verkehrsunfälle.“



„Wenn ich also gestern in ein Auto hineingerauscht wäre statt in eine Baustelle, hätte er mich vor Gericht verteidigt?“, wollte Tobias wissen.



„Er hätte uns sicher geholfen, mit deinem Unfallgegner klarzukommen“, nickte seine Mutter.



„Beruhigend zu wissen“, stellte Tobias erleichtert fest.



Die Suppe wurde serviert, und beide aßen mit sichtlichem Appetit.



„Und wie war dein erster Schultag in Sanddorf, abgesehen davon, dass du schon wieder hingefallen bist? “



Tobias erzählte von den Klassenkameraden und den Schulbüchern, vom Gebäude und den Hausmeistern, von seiner Platznachbarin und dem Schulassistenten. Von seiner ersten Prügelei erzählte er nichts. „Der Philipp, von dem ich dir gestern erzählt habe, ist auch in der 5 b. Deshalb wollte ich so gern in diese Klasse. Er ist der Einzige, den ich hier schon kenne.“



Seine Mutter lächelte. „Ich habe mich schon gewundert, wieso du unbedingt in diese Klasse wolltest.“



Das Hauptgericht wurde serviert.



„Was ist eigentlich mit meinem Fahrrad?“, fragte Tobias und schaufelte sich eine ordentliche Portion Reis auf den Teller.



„Musste ich für zwei Tage abgeben“, berichtete sie. „Sie müssen das Vorderrad richten. Kriegen sie aber hin, haben sie gesagt.“



Tobias nickte.



„Ich habe mich heute Nachmittag mit Philipp verabredet. Wir wollen ein bisschen herumstromern und uns Dolb