Leo, der gähnende Löwe, und seine Abenteuer

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Leo, der gähnende Löwe, und seine Abenteuer

Helmut Höfling

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2013 Helmut Höfling

ISBN 978-3-8442-6216-2

Die Löweneltern haben Sorgen

In Afrika lebten ein Löwenpapa und eine Löwenmama, die ein Löwenkind hatten. Sie waren sehr stolz auf ihren kleinen Leo, so hieß nämlich das Löwenkind. Die Eltern hatten ihm den Namen des Großvaters gegeben, der einmal der mutigste und stärkste Löwe in ganz Afrika gewesen war, und sie hofften, ihr kleiner Leo werde später auch so berühmt sein wie sein Großvater. Aber Leo machte ihnen nicht nur Freude, sondern auch Sorgen - wie alle Kinder ihren Eltern.

Eines Vormittags saßen die Löweneltern vor dem mächtigen Stamm des Affenbrotbaumes, wo sie sich am liebsten aufhielten, und unterhielten sich über ihr Kind.

„Hast du auch bemerkt“, sagte die Löwenmama zu ihrem Mann, „dass unser kleiner Leo in der letzten Woche wieder tüchtig gewachsen ist?“

„Na klar!“, antwortete der Löwenpapa mit funkelnden Augen. „Sogar ein ordentliches Stück!“

„So groß wie unser Kind ist kein anderer junger Löwe in dem Alter.“

„Und was er schon für Pranken hat!“

„Dabei rührt er kein Fleisch an, obwohl ich ihm immer die besten Stücke anbiete.“

„Ja, sonderbar!“, brummte der Löwenpapa. „Als ich so alt war wie er, habe ich nie genug zu futtern kriegen können.“

„Dafür schnuppert unser Leo lieber an Blumen herum“, seufzte die Löwenmama.

„Oder er schüttelt sich Kokosnüsse von den Palmen und verschmaust sie wie Leckerbissen. Es ist einfach nicht zu fassen!“

„Brrr!“, machte die Löwenmama und verzog das Gesicht, als habe sie auf Pfefferkörner gebissen. „Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke.“

„Woher mag er nur diese Angewohnheiten haben?“

„Von mir bestimmt nicht!“

„Von mir aber auch nicht.

„In meiner Familie ist kein Pflanzenesser gewesen“, fügte die Löwenmama nachdrücklich hinzu.

„Glaubst du vielleicht in meiner?“

„Natürlich nicht, sonst hätte ich dich erst gar nicht geheiratet.“

Das leuchtete dem Löwenpapa ein. „Jaja“, nickte er und fuhr dann nachdenklich fort: „Ich muss mal ein ernstes Wort mit ihm reden.“

„Ja, tu das.“

„Am besten sofort. Wo steckt er eigentlich?“

„Ich hab ihn vorhin weggeschickt“, erklärte die Löwenmama.“

„Wohin?“

„Zum Spielplatz, wo die anderen Löwenkinder sind.“

„Das ist gut. Er soll nicht so viel allein sein, sondern mit den anderen Löwenkindern spielen. Dann verliert er vielleicht eher seine Eigenheiten.“

„Soll ich ihn holen?“

„Nein, lass uns lieber zusammen hingehen und ihn suchen.“

Der Löwenpapa und die Löwenmama erhoben sich also und trotteten zum Spielplatz hinüber. Dort ging es recht munter zu. Mehrere Löwenkinder jagten gerade einen Hasen, der ängstlich durchs hohe Gras flüchtete.

Wohlwollend schaute der Löwenpapa dem Treiben zu und meinte: „Das ist das richtige Spiel für Löwenkinder: Hasen jagen. Wir Löwen sind nun mal geborene Jäger, und früh übt sich, wer ein Meister werden will.“

„Aber unser Leo ist gar nicht dabei“, bemerkte die Löwenmama.

Der Löwenpapa runzelte die Stirn. Tatsächlich! Alle anderen Löwenkinder jagten hinter dem Hasen her - nur der kleine Leo nicht. Er lag unter einem Affenbrotbaum im Gras und schlief.

„Und so was nennt sich nun mein Sohn!“, fauchte der Löwenpapa außer sich. „Ich - ich könnte mir die Mähne ausraufen!“

„Lass uns hingehen und ihn wecken.“

„Ich will ihm mal gehörig den Marsch blasen, jawohl, das werde ich!“

„Aber tu ihm nicht weh!“

„Unsinn!“, brummte der Löwenpapa und eilte entschlossen auf den schlafenden kleinen Löwen zu. Dabei machte er so große Schritte, dass seine Frau Mühe hatte, ihm zu folgen.

Ein Löwe will kein Löwe sein

Der kleine Leo hatte sich, den Kopf auf den Pfoten, behaglich zusammengerollt und schnurrte wie eine Katze. Ein Büschel aus seiner Mähne hing ihm wirr über die Augen, aber das störte ihn nicht. Er hatte die Lider geschlossen und träumte. Es schien ein schöner Traum zu sein, denn der kleine Löwe lächelte glücklich vor sich hin.

Die Löwenmama war gerührt, als sie ihren Liebling so zufrieden im Gras liegen sah, rings umgeben von bunten Blumen. Besorgt blickte sie in das strenge Gesicht ihres Mannes und beugte sich dann über den kleinen Schläfer.

„Leo!“, flüsterte sie ihm zart ins Ohr, um ihn nicht zu erschrecken.

Aber das Löwenkind rührte sich nicht.

„Jetzt ruf ich ihn mal“, grollte der Löwenpapa, holte tief Luft und schrie mit Donnerstimme: „Leo!“

Wenn er erwartet hatte, Leo werde vor Schreck zusammenfahren, so sah er sich getäuscht. Der kleine Leo zuckte nur mit den Ohren und riss dann das Maul auf, um laut und lange zu gähnen.

„Gähnen kannst du“, polterte der Löwenpapa los „das seh ich. Aber wach auch endlich einmal auf!“

Leo gähnte nochmals und blinzelte schlaftrunken durch die Haarsträhne hindurch.

„Papa“, sagte er lieb.

„Erstaunlich, dass du mich überhaupt so schnell erkennst.“

„Und Mama!“

Am liebsten hätte die Löwenmama ihr Kind an sich gedrückt. Da fiel ihr aber gerade noch rechtzeitig ein, dass sie ja mit ihrem Mann zu einem anderen Zweck gekommen war. Sie musste jetzt hart bleiben und tadelte deshalb den kleinen Löwen:

„Was ist das für eine Art, Leo, am helllichten Tag im Gras zu liegen und zu schlafen!“

Leo gähnte und streckte sich dabei. „Ich - ich muss gerade erst eingenickt sein.“

„Du schläfst ja noch immer“, schalt ihn sein Vater.

„Nein, nein, Papa, ich habe nur gegähnt.“

„Kannst du auch noch was anderes als gähnen?“

„Wie meinst du das, Papa?“

„Warum jagst du nicht auch Hasen wie die anderen Löwenkinder?“

„Ich finde es langweilig“, antwortete Leo. „Und außerdem tut mir der arme Hase leid.“

„Ein Löwe muss nun mal jagen.“

„Warum, Papa?“

„Weil ein Löwe nun mal ein Löwe ist.“

„Dann will ich kein Löwe sein“, sagte Leo trotzig.

Die Löwenmama lächelte. „Aber, Leo, das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Du bist und bleibst ein Löwe - genau wie dein Vater und ich.“

Das verstand der kleine Leo zwar nicht so recht, aber da seine Mutter es behauptete, schien es wohl wahr zu sein. So ganz wollte er sich jedoch nicht in sein Schicksal fügen und meinte deshalb:

„Wenn ich schon ein Löwe sein muss, dann will ich aber nicht auf die Jagd gehen.“

„Was willst du denn tun?“, fragte ihn die Löwenmama.

„Im Gras liegen und an Blümchen schnuppern.“

Leo strahlte übers ganze Gesicht, als er das bekannte. Seinem Vater dagegen sträubte sich die Mähne.

„Hat die Welt schon mal so was gesehen?“, schimpfte er. „Im Gras liegen und an Blümchen schnuppern - ausgerechnet mein Sohn!“

„Riech doch mal, Papa, die roten Blumen hier. Wie die duften!“, rief der kleine Leo und schnupperte behaglich an den Blüten. „Und erst die blauen hier - und da drüben die gelben! Die haben einen solchen Duft, dass ich vorhin wie betäubt war und kurz eingenickt bin.“

„Ich verbiete dir ein für alle Mal, an Blumen zu schnuppern.“

„Aber, Papa!“

Bittend blickte Leo zu seinem Vater auf, dem Weinen nahe. Doch der Löwenpapa blieb unerbittlich.

Da wandte sich das Löwenkind hilfesuchend an seine Mutter. Doch auch die Löwenmama schüttelte den Kopf und sagte:

„Nein, Leo, das gehört sich wirklich nicht für einen Löwen.“

Das stimmte den kleinen Löwen nur noch trauriger.

„Wovon willst du denn leben, wenn du dauernd nur im Gras liegst und an Blümchen schnupperst?“, fragte ihn sein Vater.

„Von Kokosnüssen und Bananen“, rief Leo schnell. „Die wachsen überall und schmecken so gut.“

„Sag nur noch, dass du auch Gras lecker findest!“

„Warum nicht, Papa? Den Elefanten schmeckt es doch auch.“

„Aber, Leo, damit verdirbst du dir ja den Magen“, meinte die Mutter besorgt.

„Bis jetzt noch nicht, Mama.“

„Schluss jetzt mit diesen Kindereien!“, fuhr der Löwenpapa dazwischen. „Von heute an gehst du wie jeder andere Löwe auf die Jagd, damit du lernst, dein Brot selbst zu verdienen.“

„Brot?“

„Eh - Fleisch wollte ich sagen“, brummelte der Löwenpapa mürrisch.

„Ich will aber kein Fleisch essen.“

„Gib keine Widerworte, Leo, wenn Papa was sagt“, mahnte ihn die Mutter.

„Also heute Abend gehen wir zur Tränke - wir alle drei.“

Damit meinte der Löwenpapa das Wasserloch, wohin die Gazellen beim Einbruch der Dunkelheit kamen, um ihren Durst zu löschen.“

„Was tun wir denn da?“, wollte Leo von seinem Vater wissen.

„Wir legen uns hinter einen Busch auf die Lauer und warten, bis die Herde dicht in unserer Nähe ist.“

„Und dann?“

„Sobald ich ein Zeichen gebe, stürzt du dich auf eine Gazelle und fängst sie, wie ein richtiger Löwe.“

Das passte dem Löwenkind Leo allerdings gar nicht. Doch es musste nun mal seinen Eltern gehorchen.

Beim Jagen gähnt man nicht

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als die Löweneltern mit Leo zur Tränke aufbrachen. Dort verbargen sie sich hinter einem Gebüsch in der Nähe des Wasserlochs und warteten.

Sie lagen noch nicht lange auf der Lauer, als sich vorsichtig ein Rudel Gazellen näherte. Argwöhnisch schnupperten sie die Luft ein, ohne zu merken, dass ihr schlimmster Feind, der Löwe, sie aus dem Hinterhalt beobachtete - sogar drei Löwen! Die Gazellen schienen sich ganz sicher zu fühlen und tranken in aller Ruhe das trübe Wasser.

 

Gepackt vom Jagdfieber belauerten die beiden großen Löwen die Herde. Nur Leo, das Löwenkind, fand es langweilig, so lange mucksmäuschenstill zu liegen und zu warten. Er musste sich schwer zusammenreißen, um gegen den Schlaf anzukämpfen.

Gerade als ihm die Lider wieder vor Müdigkeit zuzufallen drohten, drehte sich der Löwenpapa zu ihm hin und flüsterte:

„Noch etwas Geduld, Leo. Wir müssen warten, bis die Herde sich satt getrunken hat und zurückkommt. Dann nehmen alle Gazellen ihren Weg hier dicht an unserem Gebüsch vorbei. Auf mein Zeichen springst du auf und jagst eine Gazelle - deine Gazelle! Hast du verstanden, Leo?“

„Ja, Papa.“

„Und verhalte dich genauso, wie wir es dir vorhin erklärt haben“, ermahnte ihn die Mutter.

Der kleine Löwe nickte. „Ja, Mama.“

Leo musste sich also noch etwas gedulden. Noch nie hatte er sich so gelangweilt wie jetzt auf der Jagd. Viel lieber hätte er geschlafen oder an Blümchen geschnuppert, als auf die Gazellen aufzupassen.

„Jetzt haben sie endlich ihren Durst gestillt“, flüsterte die Löwenmama nach einiger Zeit, die Leo wie die Ewigkeit vorgekommen war.

Tatsächlich verließ die Herde die Tränke. Dabei schlugen die Tiere den Weg ein, der dicht am Gebüsch vorbeiführte, hinter dem die Löwenfamilie versteckt lag.

Dem Löwenpapa zitterten vor Aufregung die Schnurrhaare, als er feststellte: „Sie kommen näher.“

„Für Leo sind sie aber noch zu weit“, meinte die Mutter. „Wenn er jetzt aufspringt, um sich auf eine Gazelle zu stürzen, dann laufen sie alle davon, und du weißt ja, dass sie schneller rennen können als wir.“

„Ja, darum wollen wir weiter geduldig hier hinter dem Busch warten.“

So sprachen die Löweneltern, die ihre Jagdleidenschaft kaum noch zügeln konnten.

Leo dagegen langweilte sich immer mehr, selbst als die Gazellen jetzt herankamen. Jeden Augenblick musste sein Vater ihm das verabredete Jagdzeichen geben: einen leichten Schlag mit dem Schweif.

Der kleine Löwe wartete und wartete. Schon dutzendmal hatte er die Herde von vorn und hinten gezählt, nur um nicht vor Langeweile einzunicken.

Als er gerade mal wieder von neuem anfing, geschah es: Erst warf er nur die Zahlen durcheinander, doch dann sperrte Leo, das Löwenkind, sein Maul auf und - gähnte! - gähnte aus tiefster Seele!

„Bist du verrückt geworden, Leo“, schalt ihn sein Vater, „jetzt zu gähnen!“

„Aber wenn ich doch gähnen muss“, verteidigte sich Leo und gähnte nur noch lauter.

Schon als Leo zu gähnen begann, hatten die Gazellen die Ohren gespitzt. Nur einen Augenblick stutzten sie, dann hatten sie erkannt, dass dieses Gähnen von einem Löwen stammte. In wilder Flucht stoben sie davon - in die Savanne hinein.

Vor Wut über diese missglückte Jagd sträubten sich die Haare des Löwenpapas wie die Stacheln eines Igels.

„Ich könnte mich selbst in Stücke reißen!“, fauchte er.

Leo gähnte noch immer. „Warum denn, Papa?“

„Auf der Jagd zu gähnen, als wolltest du die ganze Welt verschlingen.“

„Aber wenn ich doch gähnen muss“, wiederholte Leo zu seiner Entschuldigung.

„Ein Löwe gähnt niemals auf der Jagd.“

„Dann bin ich also doch kein Löwe“, behauptete Leo frohen Herzens.

Die Löwenmama lächelte nachsichtig. „Doch, Leo, doch, du bist ein Löwe.“

„Aber kein richtiger“, knurrte der Löwenpapa, „und ich glaube auch nicht, dass jemals ein richtiger Löwe aus dir wird. Wer weiß, ob du überhaupt mal was Ordentliches wirst.“

Man merkte es dem Löwenpapa an, dass er sich ärgerte und sich zugleich auch Sorgen machte um die Zukunft seines kleinen Leo. Er konnte ja nicht ahnen, wie weit es sein Sohnemann noch im Leben bringen sollte.

Die Kuh mit dem Hinkebein

Als Leo eines Tages wieder im Gras lag und an Blumen schnupperte, kam ein großer, bunt schillernder Schmetterling angeflogen. Furchtlos ließ er sich vor dem Löwenkind auf einer Blüte nieder und breitete die Flügel aus, um sich zu sonnen. Doch schon wenige Augenblicke später flatterte er wieder weiter, bald hierhin - bald dorthin.

Verzückt tapste das Löwenkind hinter ihm her und dachte: Wie schön wäre es, wenn auch ich wie ein Schmetterling von Blume zu Blume fliegen könnte.

Aber Leo war ja ein Löwe - und Löwen haben nun mal keine Flügel.

Da Leo nur noch Augen für den Schmetterling hatte, achtete er auch nicht auf den Weg. Er entfernte sich immer weiter von der Felsenhöhle, wo er mit seinen Eltern wohnte, und unentwegt schaukelte der Falter ausgelassen vor ihm her, bis er mit einem Mal seine Flügel besonders weit spannte und geradewegs auf die Sonne zu flatterte.

Der kleine Löwe schaute ihm so lange nach, bis er ihn schließlich aus den Augen verlor. Als Leo dann den Kopf wieder senkte und um sich blickte, erkannte er, dass er sich in einer Gegend befand, wo er noch nie gewesen war. Rechts vor ihm lag eine Viehfarm, und links davon dehnte sich das Weideland aus, auf dem Kühe grasten.

Büffel und Gnus hatte das Löwenkind in der Wildnis zwar schon gesehen, aber noch nie solche schwarzweiß gescheckten Tiere wie jene da vor ihm. Neben einigen Kühen hockten schwarze Männer auf einem Schemel, hielten einen Eimer zwischen den Beinen geklemmt und melkten. Auch das hatte Leo noch nie gesehen. Deshalb wollte er gern wissen, was dort vor sich ging.

Als jedoch die Schwarzen den Löwen erblickten, ließen sie erschrocken ihre Melkeimer fallen, sprangen auf und schrien wild durcheinander:

„Ein Löwe!“

„Rettet euch, ein Löwe!“

„Ein Löwe will uns fressen!“

„Hilfe! Hilfe!“

„Nichts wie weg von hier!“

„Ein Löwe!“

„Ein wilder Löwe!“

Unter solchen Schreckensrufen flohen die schwarzen Melker auf die Farmgebäude zu, während die frisch gemolkene Milch über die Weide floss. Auch die Kühne rannten davon - bis auf eine Kuh, die sich das linke Hinterbein verstaucht hatte und deshalb nicht gut laufen konnte.

„Halt, halt, ihr alle!“, rief Leo hinter ihnen her. „Bleibt doch stehen, ich tue euch ja nichts.“

Einen Augenblick lang blieben die Kühe auch tatsächlich stehen und glotzten ihn misstrauisch an. Doch als sich der kleine Löwe ihnen weiter näherte, flüchteten sie erneut.

Die Kuh mit dem Hinkebein, die nicht gut laufen konnte, drückte ihre Klauen fest in den Boden und senkte den Schädel mit den Hörnern, um sich bei einem Angriff wehren zu können.

„Bleibt doch endlich stehen!“, bat der kleine Löwe die Kühe von neuem. „Ich möchte euch nur guten Tag sagen. Vor mir braucht kein Tier Angst zu haben. Ich bin doch Leo.“

Als die Kühe den Namen hörten, machten sie plötzlich Halt und drehten sich um. Die Kuh mit dem Hinkebein hob den Kopf wieder und blickte das Löwenkind freundlich an. Neugierig trottete der kleine Löwe auf sie zu.

Kann man auch einen Löwen melken?

Dicht vor der Kuh mit dem Hinkebein blieb der kleine Löwe stehen und wedelte mit dem Schweif.

„Muh-muh, Leo heißt du?“, fragte sie ihn.

„Ja, kennst du mich vielleicht?“

„Gesehen habe ich dich zwar noch nicht, aber ich habe schon viel von dir gehört, muh-muh.“

„Von wem denn?“

„Oh, von vielen Tieren, zum Beispiel auch von Koko, dem Äffchen.“

„Koko pflückt mir immer die Bananen und schüttelt mir die Kokosnüsse herunter“, fiel Leo lebhaft ein.

„Auch der Marabu hat mir von dir erzählt.“

„Von ihm weiß ich die Namen aller Blumen.“

„Muh-muh, alle Tiere hier in der Gegend kennen dich, und alle sprechen nur gut über dich.“

„Warum sind denn vorhin alle Büffel vor mir weggelaufen?“

Die Kuh mit dem Hinkebein lächelte. „Erstens sind wir keine Büffel, sondern Kühe -“

„Da hab ich mal wieder was Neues dazugelernt“, warf Leo begeistert ein.

„Und zweitens“, fuhr die Kuh fort, „haben wir ja nicht ahnen können, dass du Leo bist.“

„Aber jetzt, wo du es weißt, hast du keine Angst mehr vor mir?“

„Nein, Leo, und die anderen Kühe auch nicht.“

Tatsächlich kehrte die Herde zufrieden brummend zurück. Alle begrüßten das Löwenkind und freuten sich, seine Bekanntschaft zu machen. Auch Leo strahlte übers ganze Gesicht.

„Was haben vorhin die schwarzen Männer eigentlich mit euch gemacht?“, fragte er.

„Sie haben uns gemolken“, erwiderte die Kuh mit dem Hinkebein.

Der kleine Löwe stutzte. „Wie soll ich das verstehen, liebe Kuh?“

„Muh-muh, wie soll ich dir das erklären, kleiner Löwe?“

„Kann man auch einen Löwen melken?“

„Das glaube ich kaum“, erklärte die Kuh mit dem Hinkebein lachend, und die ganze Herde stimmte fröhlich mit ein. „Nur Kühe werden gemolken - und manchmal auch Ziegen und Schafe. Wir fressen fettes Gras und machen Milch daraus. Und dann kommen die Menschen und melken uns, weil sie gern unsere Milch trinken oder Butter, Sahne und Käse daraus herstellen.“

„Milch hab ich auch schon getrunken bei meiner Mama, als ich noch ganz klein war.“

„Und jetzt bekommst du keine mehr?“

Leo schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben doch keine Kuh zu Hause.“

„Das kann ich gut verstehen. Bei wilden Löwen würde eine Kuh auch nicht alt, muh-muh.“

Die Kuh mit dem Hinkebein lachte erneut los, und all die anderen Kühe, die Leo umringten und anglotzten, fielen in das Gelächter ein.

„Schade!“, seufzte der kleine Löwe nach einer Weile.

„Was, Leo?“

„Dass ich jetzt keine Milch mehr von meiner Mama bekomme.“

„Muh-muh, hast du denn früher immer gern Milch getrunken?“, erkundigte sich die Kuh mit dem Hinkebein.

„Schrecklich gern!“

„Dann versuch doch mal, ob dir auch unsere Milch schmeckt. Dort im Eimer ist noch ein Rest übriggeblieben.“

„Das will ich gern tun.“

Als die Melker vorhin vor Schrecken ihre Eimer umgestoßen hatten, war einer so gegen einen Schemel gefallen, dass er nur halb ausgelaufen war. Das Löwenkind hockte sich auf die Hinterbeine, nahm den Eimer zwischen die Pfoten und hob ihn hoch. Den Rand setzte es an die Lippen und ließ die Milch genießerisch ins Maul rinnen. Da Leo dabei zu hastig vorging, tropfte ihm ein Teil der Milch links und rechts die Schnurrhaare hinunter und weiter über Hals und Bauch.

Das sah so täppisch aus, dass sich die dicken Kühe vor Lachen schüttelten.

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