Sonnenwende über dem Schloss

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Sonnenwende über dem Schloss
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Helfried Stockhofe

Sonnenwende über dem Schloss

Helfried Stockhofe: Sonnenwende über dem Schloss

Text und Umschlaggestaltung: © 2019 Copyright Helfried Stockhofe

Verlag: Helfried Stockhofe, 93455 Traitsching, helfried.stockhofe(at)web.de

Druck: epubli, ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Die Beiden

Sie trug den Becher in der Hand

- Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand -

So leicht und sicher war ihr Gang,

Kein Tropfen aus dem Becher sprang.

So leicht und fest war seine Hand:

Er ritt auf einem jungen Pferde

Und mit nachlässiger Gebärde

Erzwang er, dass es zitternd stand.

Jedoch, wenn er aus ihrer Hand

Den leichten Becher nehmen sollte,

So war es Beiden allzu schwer:

Denn Beide bebten sie so sehr,

Dass keine Hand die and're fand

Und dunkler Wein am Boden rollte.

(Hugo von Hofmannsthal)

Die Personen in diesem Buch sind, ebenso wie die Handlung, frei erfunden! Ähnlichkeiten mit der Realität wären rein zufällig. Beim Ort des Geschehens ist die Erzählung inspiriert vom schönen Schloss Sattelpeilnstein mit seinem wunderbaren Burgberg.

Das Fräulein Hans auf dem Weg zur Frau

1

Das "Fräulein Hans" machte seinem Namen alle Ehre: "Fräulein" erinnert an eine ledige Volksschullehrerin aus längst vergangenen Zeiten und "Hans" an einen jungen Mann, vielleicht aus einem Märchen wie "Hans im Glück". Beides aus der heutigen modernen Zeit gefallen. Und doch war das Fräulein keine zerbrechliche alte Jungfer, sondern eine knackige Vierzigerin, die man gelegentlich mit einem Gewehr am Waldrand entlang marschieren sah und durchaus für einen forschen Jäger nach einer gelungenen Jagd halten konnte.

Das männliche Auftreten passte zu ihrem seltsamen Namen und auch das "Fräulein" erschien nicht unpassend, wenn man an "Burgfräulein" denkt, weil dieser Frau tatsächlich eine Burg gehörte. Die Burg - oder was von ihr übrig geblieben war - thronte auf einem felsigen baumbestandenen Hügel, der zu einer Versammlung von Hügeln gehörte, die sich wie ein Kegelspiel auf einer weiten Ebene zusammengefunden hatten. Und auf jedem dieser Hügel stand einst eine Burg oder zumindest eine Wallfahrtskapelle. Der Burgberg des Fräuleins war zwar der kleinste - man konnte ihn vom Tal aus in kaum mehr als einer halben Stunde besteigen - er war aber der Einzige, von dem auch ein kleines Schloss herabgrüßte, an den Hang gebaut und vielleicht nur 50 Meter Luftlinie unterhalb der Burgruine liegend. In jenem schmucken Schlösschen wohnte das Fräulein. Auf derselben Seite des Berges zog sich eine dörfliche Siedlung bis ins Tal hinab.

Auch das Schloss gehörte unserem adligen Fräulein. Und als Burg- und Schlossfräulein sah sie oft hinauf zu der einst so stolzen Burg, manchmal mit einem Seufzer, weil sie sich ausmalte, dass ihr Schloss wohl auch irgendwann einmal als eine solche Ruine enden würde.

Den vollständigen Namen der Frau kannte im Ort niemand, allenfalls der Pfarrer oder der Bürgermeister. Man nannte sie nur "Fräulein Hans" ganz ohne ein "von" und ohne einen ihrer Vornamen. Im Dorf zu sehen war sie nur bei den sonntäglichen Kirchgängen. Es ergab sich jedoch nur selten die Gelegenheit, mit dem Fräulein wirklich ins Gespräch zu kommen. Die Kontakte zur Dorfbevölkerung überließ sie einem Angestellten, der sich um alles rund ums "Haus" kümmerte, aber auch im Haus und sogar um das leibliche Wohl seiner Chefin - und er war ein guter Koch! Niemals glaubte auch nur einer, dass der Verwalter sein Kümmern auch auf das sexuelle Wohlbefinden des Fräuleins erstreckte. Auch da wirkte sie wie aus der Zeit gefallen oder besser, wie aus dem Leben gefallen. Das Fräulein erschien sexuell unantastbar, wie ein Neutrum oder eher noch wie ein Jüngling mit Faible für die Natur und die Jagd. Wenn sich Männer der Umgebung nach Frauen umsahen, gehörte sie bestimmt nicht dazu und auch die Frauen des Dorfes rechneten sie nicht zu Ihresgleichen. Und keiner machte sich Gedanken darüber, ob der wesentlich ältere Verwalter ein Auge auf seine Chefin werfen könnte, fast keiner.

Sie selbst aber zog sich manchmal nackt vor dem großen Spiegel aus und schien sich damit vergewissern zu wollen, ob sie alles besaß, was zu einer Frau gehört: Ein Busen, der bei ihr immer noch erstaunlich fest wirkte, und eine Scham ohne männliches Beiwerk zwischen schmalen Hüften. Sie lehnte ihren Körper nicht ab, sondern war durchaus stolz auf ihn - wobei nicht zu verkennen war, dass die Festigkeit seiner Formen ihr ganz besonders gefiel. Und sie erinnerte sich wehmütig an ihre Jugend, in der sich testosterongesteuerte Jungs dafür interessierten und einige von ihnen ihn sogar etwas näher kennenlernten. Damals, so glaubte sie, war sie noch ein Mädchen wie alle anderen in ihrer Schulklasse, aber als sie nach ihrem Abitur und dem plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern umzog in das kleine Schloss eines alten Onkels, musste sie bald in ein ernstes Erwachsenendasein springen. Denn auch der Onkel verstarb kurz darauf und sie erbte das Schloss samt der Ländereien. Trotz dieses Erbes war sie aber kein Hans im Glück, obwohl: Der Hans im Glück hatte auch anfangs einen Klumpen Gold, der ihn beschwerte, und erst als er am Schluss mittellos dastand, fühlte er sich befreit. Nun, so leicht würde das Fräulein ihre goldene Bürde wohl nicht loswerden. Zumal sie sich mit Eifer in ihre neuen Aufgaben stürzte.

Problematischer als die Bürde des Schlosses und des ganzen Besitzes war für das Fräulein jedoch ihre ungesellig wirkende Art. Dabei unternahm sie anfangs durchaus Versuche, sich irgendwie in die Dorfgemeinschaft einzugliedern, doch vieles misslang. Es lag wohl auch an der unterschiedlichen Mentalität zwischen den Einheimischen und der Zugezogenen, sicher aber auch an der Trauer nach den Todesfällen. Doch ein jungenhaftes Auftreten hatte sie schon immer und es kam einfach nichts Gescheites bei ihren Annäherungen heraus - egal an welches Geschlecht. Es blieb ihr scheinbar nichts anderes, als ihr Schicksal als geschlechtsneutrales "Fräulein Hans" anzunehmen.

Auf Empfehlung ihres Verwalters, der das erfolglose Bemühen seiner Chefin bedauerte, kam das Fräulein der Dorfbevölkerung aber anderweitig entgegen: So durften sich Hochzeitspaare vor der Schlosskulisse ablichten lassen und der Vorplatz des Schlosses konnte von allen Vereinen für ihre besonderen Feste genutzt werden. Sie stellte dafür sogar Strom- und Wasserversorgung kostenlos zur Verfügung. Wenn aber Vereinsabordnungen mit großen bunten Schirmen daherkamen und um ihre Schirmherrschaft baten, lehnte sie dankend ab. Solche Versuche gab es allerdings nur wenige, denn bald wurde allen klar, dass die Schlossherrin ein anderes Gemüt besaß als der Vorgänger, ihr Onkel in seinen jungen Jahren. Statt Dorffeste mitzufeiern, mit deren Gebräuchen sie nichts anfangen konnte, zog sie sich in ihr Schloss und in die Natur zurück, unternahm morgendliche Streifzüge und spazierte manchmal sogar nachts ihren Burgberg hinauf - immer mit dem Gewehr bewaffnet - und schaute sehnsüchtig hinunter in die erleuchteten Zimmer der Dorfgemeinschaft.

So ging es etwa zwanzig Jahre lang und niemals war dabei etwas Ungewöhnliches geschehen, bis jener warme Abend Anfang Mai kam, der das Leben des Fräuleins verändern sollte.

2

Der Burgberg stand unter Naturschutz, wohl wegen seiner hohen alten Bäume und der großen Felsen, die sich imposant zwischen die Baumriesen schoben und die ganz oben als Fundament der alten Burganlage dienten. Dort gab es auch einen Aussichtspunkt. Er war für das Fräulein reserviert, denn überall an den möglichen Aufgängen zur Burganlage stand: "Privatbesitz! Betreten verboten!" und es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie das Fräulein auf jeden schießen würde, der sich auf den Hügel wagte. Dem Fräulein gaben diese Schilder die Sicherheit, sogar nachts hier umherwandern zu können. Oben schaute sie hinunter zum Schloss und über das Dorf hinweg auf die umliegenden Felder und Wälder, die größtenteils zum Schlossbesitz gehörten, aber fast alle verpachtet waren.

Wenn sie nachts dort oben saß, auf einem von der Tagessonne noch gewärmten Felsen, dann genoss sie, neben der manchmal wundervollen freien Sicht auf die Sterne oder in den Mondnächten auf das vermeintliche Antlitz des Nachbargestirns, von dem sie sich stets angeblickt fühlte, den leisen Wind und die gelegentliche warme Brise, die aus den umgebenden Tälern über den Burgberg streifte. Spät am Abend lauschte sie in eine große Stille, die nur unterbrochen wurde von Geräuschen in den Baumwipfeln, von einem Knacken auf dem Waldboden oder auch manchmal von einem Auto, das die letzten Bewohner in das Dorf zurückbrachte.

Sie dachte dort viel über ihr Leben nach, das man bei gutem Willen als geregelt und ruhig bezeichnen konnte, von außen aber auch als traurig oder gar trostlos wahrgenommen wurde. Dies galt auch für das Leben ihres Verwalters. Gelegentlich erspähte sie in einem erleuchteten Fenster ihres Schlosses diesen älteren Mann, der sich um alles kümmerte und der sich auch um sie sorgte, wenn sie wieder einmal nachts unterwegs war. Manchmal sah und hörte sie ihn, wie er am Flügel saß und melancholische Chopin-Stücke spielte. Das tat er nur, wenn sein Fräulein außer Haus war! Ihr schien es verwunderlich, dass dieser starke Mann mit seinen tatkräftigen Händen Klavier spielen konnte und solche Melodien bevorzugte. Meistens saß er aber in einem vom verstorbenen Schlossherrn geerbten Schaukelstuhl, las seine Zeitung und trank dabei ein Bier aus der Flasche. Er benutzte Gläser nur, wenn er in Gesellschaft des Fräuleins eine anständige Figur abgeben wollte. Sie mochte ihn und verzieh ihm natürlich, dass er in seinen Privaträumen alles etwas lockerer nahm. Ein wenig schämte sie sich, ihn zu beobachten.

 

Sie erwischte sich auch dabei, dass sie sich wünschte, er möge sich auch einmal vor ihr entkleiden. Wie lange hatte sie keinen nackten Mann mehr gesehen! Oh weh, solche sündige Gedanken müsste sie dem Pfarrer beichten! ...Wenn sie sich trauen würde ... Immerhin wollte sie nie, dass es zwischen ihrem Verwalter und ihr zu weitergehenden Handlungen käme. Aber das wäre ja wohl keine Sünde, oder? Er war nicht verheiratet, aber er war ihr zu alt. Und außerdem machte er keinerlei Anstalten in diese Richtung und wenn sie nicht am eigenen Leib spüren würde, dass dies kein Zeichen für Homosexualität ist, würde sie glauben, er wäre schwul.

Der Verwalter hieß Ferdinand, aber er wurde im Dorf nur Ferdl gerufen. Er gehörte quasi zum Inventar des Schlosses, denn er hatte schon immer der Familie des Onkels gedient. Weit und breit gab es offenbar keinerlei Verwandtschaft des Verwalters, das Schloss war sein Zuhause. Er war schon seit seiner Jugend im Schloss. Zu seiner "Herrschaft", wie er die Schlossbesitzer zu bezeichnen pflegte, verhielt er sich immer loyal, freundlich und sehr korrekt. Ferdinand war auch aus der Zeit gefallen. In jungen Jahren hatte auch er versucht, sich der Dorfjugend anzuschließen, aber er war leider an die Falschen geraten. Vielleicht war es einfach nur der falsche Ort oder der falsche Zeitpunkt, nämlich bei feuchtfröhlichen Feiern mit dummem Gerede. Doch er ließ sich von den primitiven Witzen und Gesprächen bald verschrecken. Sie erinnerten ihn zu sehr an seine Kindheit! Da konnte und wollte er nicht mithalten. So distanzierte er sich und erreichte, dass er nicht mehr kumpelhaft angesprochen, sondern eher gemieden und mit “Respekt“ behandelt wurde. Bald stellte man ihm auch keine Fragen mehr über seine “Herrschaft“, weil man von ihm ohnehin nichts über Interna aus dem Schloss erfahren konnte.

3

Unweit des Schlosses stand ein einzelnes Haus. Es war von einem Architekten aus der Stadt gekauft und renoviert worden und alle Dorfbewohner nannten es "die Architektenvilla". Es passte zwar nicht mehr zu den anderen alten Gebäuden des Dorfes, aber für sich allein gesehen, war es recht nett anzuschauen - und es musste ja auch nicht zu den anderen passen, weil es zusammen mit dem Schloss etwas abseits stand. Eingefriedet war das Grundstück mit einer seltsamen mannshohen Mauer aus zusammengetragenen Feld- und Granitsteinen.

Wenn sich das "Burgfräulein" auf den nächtlichen Spaziergängen hinauf zur Burgruine an den Lichtern im Dorf wärmte, kam nun nach vielen Jahren, in denen das alte Haus leer stand und nur schemenhaft heraufgrüßte, ein besonders helles Licht dazu. In dessen Schein sah das Fräulein gelegentlich eine Frau, stets korrekt gekleidet - und wenn diese einmal weniger Kleidung trug, dann wandte sich das Fräulein ab, um nicht zu sehr auch noch in diese Intimsphäre einzudringen. Diese Frau zog nämlich niemals den Vorhang des Fensters zu, weil sie ja von dort doch nur auf den Burgberg blickte, zu dem auch auf dieser Seite kein öffentlicher Weg hinaufführte und somit kein Spaziergänger vermutet werden brauchte. Oder es war ganz einfach die Laune oder der Stil des Architekten, für die Fenster niemals Vorhänge oder Rollläden vorzusehen. Auch zum Dorf hin schien ihm das nicht nötig, weil das Haus nicht nur etwas entfernt, sondern auch etwas erhöht stand. Oder sollte den Leuten der Einblick auf die moderne Einrichtung des Hauses gestattet werden?

Es war meist nur die Frau des Architekten zu sehen, denn er selbst kam nur an den Wochenenden und da wollte er seine Ruhe haben. Beide schienen keine geselligen Menschen zu sein und damit hatten sie mit ihrer Nachbarin etwas Gemeinsames.

So war es kein Wunder, dass die "Frau von Hans" und die "Frau Architekt" nur langsam ins Gespräch kamen, allenfalls einmal in den Garten der anderen traten und die Blumen bewunderten. Dennoch kamen sie sich langsam näher. Wenn aber der Ehemann anwesend war, verließ die Frau niemals ihr Grundstück. Es fehlte nur noch, dass eine Fahne aufgezogen wurde, damit jeder erkennen konnte, dass der Herr(scher) daheim war und das Paar nicht gestört werden durfte. Und tatsächlich, als wäre es heraufbeschworen worden, stellte der Architekt wirklich bald einen Fahnenmast auf und zog daran an jedem Wochenende die Landes-Fahne hoch - während bei der Nachbarin stets eine Flagge wehte, die auf die Adelsfamilie hinwies.

Der Architekt galt als reich. Er besaß an seinem Arbeitsort eine weitere Wohnung und man vermutete, dass ihm noch einige Mietshäuser in der Stadt gehörten. Das Paar hatte keine Kinder - so glaubte man zumindest - und in die Architektenvilla kamen nur selten Besucher. Die anfänglichen Spekulationen über den Architekten, seine Frau und seinen Besitz ließen bald nach, es schien sich ja nichts zu ändern und es war ohnehin nichts zu erfahren. Die Architektenfrau engagierte auch niemals eine Putzfrau oder anderes Personal, obwohl sie es sich hätte leisten können. Nein, sie versorgte ihren Haushalt selbst und deshalb drang nichts nach außen. Lediglich die vorhanglosen Fenster eröffneten Einblicke. Doch von der Burgbergseite schaute nur das Burgfräulein hinein und von der Dorfseite erkannte man, wenn man über die Steinmauer sah, nur den oberen Meter der Räumlichkeiten und konnte allenfalls erahnen, wie teuer die bis zur Decke reichenden Möbel und Regale wohl wären.

4

Auf der dem Dorf abgewandten anderen Seite des Burgbergs führte ab dem Schloss ein Wirtschaftsweg am Berg entlang. Er umrundete den halben Berg, bevor er dann weiter hinab in die Wälder der Adligen bis hinunter ins Tal führte, wo nicht nur ein Bach rauschte, sondern auch eine Straße, die die umliegenden Ortschaften miteinander verband.

Von diesem Waldweg, den Berg hinauf abzweigend, gelangte das Fräulein auf einem fast zugewachsenen Weg zur Ruine. Zwischen den alten Bergahornen und mächtigen Felsblöcken schlängelte sich dieser hoch. Auf seinem Weg zum Aussichtspunkt zwängte er sich an einer Stelle zwischen den runden Granitfelsen auf der einen Seite und Felstrümmern auf der anderen Seite hindurch. Das Fräulein wusste, dass die Trümmer vom teilweisen Einsturz der Ruine stammten und dort erst recht absolutes Betretungsverbot herrschte. Der reguläre Aufstieg war der Schlossbesitzerin jedoch so vertraut, dass sie ihn leicht in Mondnächten begehen konnte, zumal durch das licht gewordene Blätterdach der alten Bäume auch das Mondlicht immer wieder seinen Weg fand.

An dem warmen Maiabend, der ihr Leben veränderte, ging sie wie so oft völlig angstfrei dahin, lauschte dem Knacken flüchtender Rehe und dem Warnruf einer aufgeschreckten Amsel. Doch irgendetwas erschien ihr daran merkwürdig. Sie fasste unwillkürlich ihr Gewehr etwas strenger, hielt sich aber nur daran fest, denn, was niemand wusste, ihre Waffe war nur ein Ausstellungsstück.

Anfangs dachte sie an eine Sinnestäuschung, aber weil der merkwürdige Schatten vor ihr schnell den Berg hinaufhuschte und dann zwischen sie und das erleuchtete Fenster der Architektenvilla geriet, wurde es zu einer sicheren Realität: Da lief jemand mitten in der Nacht vor ihr Richtung Ruine, extrem vorsichtig und leise und doch sehr behend. Sie nahm sofort an, dass es sich um einen Mann handeln musste, eine Frau würde sich doch nicht trauen ... Der Mann hielt kurz inne, sah sich offenbar um, hatte das Fräulein wohl bemerkt und lief dann schnell weiter bis hinauf zum Aussichtsfelsen. Die ansonsten furchtlose Schlossbesitzerin zögerte: Sollte sie ihm nachlaufen und dort oben, wo es keinen Ausweg mehr gab, stellen? Oder sollte sie sich schnellstens davonmachen, zurück auf den Waldweg eilen und von dort ins sichere Schloss? In diesem Moment schlug die Kirchenuhr Mitternacht. Das gab den Ausschlag: Das Fräulein sah dies als ein Zeichen, kehrte um, stieg zum Waldweg hinab und lief zurück ins Schloss.

Sollten denn wiederum irgendwelche Schatzsucher ihren Berg heimsuchen? Nach Münzen aus alten Zeiten wurde noch vor Jahren mit Metalldetektoren geforscht, nach Höhlen und Gängen in das Berginnere, nach Mineralien, nach keltischen Goldkelchen und Ähnlichem. Erst als die Eigentümerin die Verbotsschilder aufstellte und mit dem Gewehr patrouillierte, war Schluss damit. Und in der Nacht hatte es sowieso noch nie einer gewagt, in das Privatgelände einzudringen - soweit es das Fräulein beurteilen konnte.

Sie informierte am nächsten Tag ihren Verwalter und bat ihn, mit ihr zusammen eine Runde durch das Areal zu drehen. Doch es fanden sich keine Spuren nächtlichen Treibens. Beide hatten gefürchtet, dass sie eine Entdeckung machen könnten, wie vor etlichen Jahren, als sie einen um Hilfe rufenden Verletzten zwischen den schwer zugänglichen Felsen des Ruineneinsturzes liegen sahen und ihn anschließend nur mühsam mit einem Beinbruch befreien konnten. Und wie hatten sich die Sanitäter abgemüht, ihn mit der Trage durch das Felsenlabyrinth zum Krankenwagen zu transportieren!

Der Verwalter versprach, er würde sich der Sache annehmen und nun auch selbst die Augen offen halten.

5

Als am nächsten Abend, der wiederum großzügig Augustwärme an den Mai verschenkte, die Frau von Hans im Schloss blieb und ihr Fenster weit öffnete, glaubte sie etwas vom Burgberg herab zu hören. Sie kannte dieses Geräusch, doch konnte es anfangs nicht zuordnen. Es waren rhythmische Schläge, Metall auf Metall, aber nicht sauber, sondern im Klang leicht verschmutzt durch eine schwer beschreibbare Beimengung. Es erinnerte sie an einen Ferienaufenthalt im Schloss bei Onkel und Tante vor vielen Jahren. Und schnell war wegen dieser Erinnerung das Rätsel des Geräusches gelöst! Damals hatte sie als Kind dem seinerzeit noch jungen Verwalter bei einer Arbeit zugesehen. Es war an einem Sommertag, als sich der Verwalter über einen Gedenkstein hermachte und mit Fäustel und Meißel die Inschrift wieder lesbar gestaltete: Kräftige Schläge, ab und zu ein Fluch oder eine Missfallensgeste, Schweiß, der von der Stirn tropfte, und ein braun gebräunter Oberkörper, der mit seinen Muskeln die Pubertierende zum Staunen brachte. Ja, auch der Verwalter war einmal jünger gewesen!

Es schlug also an diesem noch jungen Abend jemand auf einem Felsen herum - also doch ein Mineraliensammler! Schnell verließ sie ihr Zimmer, ging ein Stockwerk höher und klopfte an die Eingangstür zur Zweizimmerwohnung ihres Verwalters. Es rührte sich nichts. Das Fräulein schulterte das Gewehr und machte sich mutig mit einer großen Taschenlampe alleine auf in Richtung Burgberg. Wenigstens erschrecken wollte sie den Mineraliensammler.

Kaum hatte sie das Schlosstor hinter sich gelassen, kam ihr auf dem Wirtschaftsweg der Verwalter entgegen, mit geöffnetem Hemd unter dem ein noch immer stattlicher Rest jugendlicher Muskeln zu erkennen war. Im Werkzeuggürtel steckten Fäustling und Meißel. Das Fräulein war verblüfft und irritiert, wusste nichts zu sagen. Ja, meinte der Verwalter, er habe eine Runde durch den Burgberg gedreht und nichts Auffälliges bemerkt. Kein Wort zu Meißel und Fäustling! Er ging schleunigst an seiner Chefin vorbei, mit einem Blick, der klar verriet, dass er sich bei etwas ertappt fühlte. Sie blieb stehen und schaute ihm nach. Was hatte er gemacht? Dann fand sie ihre Sprache wieder und rief ihm nach, dass sie selbst auch noch eine Runde drehen werde.

Langsam und mit suchendem Blick ging sie ihren gewohnten Weg zur Ruine hinauf. Im Auge hatte sie die Felsen mit ihren durch Wollsackverwitterung entstandenen übereinander liegenden und überhängenden Bäuchen. Dort vermutete sie, habe der Verwalter etwas vom Fels abgeschlagen. Auf der Mitte des Weges fand sie im Schein der Taschenlampe rechts abzweigend einen Trampelpfad, nein, mehr eine frisch getretene Spur durch lange und stachelige Brombeerruten, die sich hier am Boden entlangschlängelten. War da der Verwalter vom Weg abgezweigt? Sie folgte der Spur, achtete darauf, dass sie sich nicht im Gestrüpp verhängte oder auf etwas trat, was sie zum Ausgleiten oder Stolpern bringen könnte. Plötzlich endete der Pfad! Sie stand vor einem am Boden liegenden etwa einen Meter breiten Stein. Bedeckt wurde dieser durch eine Moosmatte, die sich leicht vom Felsen löste. Sie hob das Moos vorsichtig hoch und fand des Rätsels Lösung:

I + F

6

"Ingelinde von Hans" hieß das Fräulein und dass alle nur "Fräulein Hans" sagten, lag in aller Interesse. Nur der Verwalter, der die Chefin schon seit ihrer Kindheit kannte, sprach sie mit "Fräulein Inge" an. Sie nannte ihn schon immer "Ferdinand" - und sie duzte ihn. Für ihn kam es nicht in Frage, sie zu duzen oder von ihr gesiezt zu werden. Es war, als ob es ihm immer wichtig gewesen wäre, das Gefälle zwischen der Herrschaft und dem Dienstpersonal nicht zu verringern, die Distanz nicht zu verwässern mit unschicklicher Anrede. Man merkte ihm die "alte Schule" an, die er seit der Jugendzeit beim Onkel seiner jetzigen Chefin gelernt hatte. Das höchste der Gefühle war schon, dass er den Dorfleuten gegenüber von seiner "Chefin" und nicht von seiner "Herrschaft" sprach. Klar, dass er trotzdem immer leicht von allen belächelt wurde - manchmal auch beneidet wegen seiner Wohnung im Schloss und wegen einer beruflichen Tätigkeit, die ihm viel Selbstständigkeit ermöglichte. Jeder wusste, dass die Schlossbesitzerin ihrem Ferdinand absolut vertraute, zumal sie selbst wenig Interesse an Haus und Hof hatte. Lediglich der Zustand ihrer Wälder war ihr wichtig, aber da tat Ferdinand auch alles genau so, wie sie es auch getan hätte.

 

Ferdinand hatte also die Anfangsbuchstaben ihrer beider Vornamen in den Stein gemeißelt! Ingelinde und Ferdinand, I+F! Was hatte er sich dabei gedacht? Hatte es wirklich das zu bedeuten, was gemeinhin eine solche Kombination auf der Rinde alter Bäume ausdrücken soll? In Stein gemeißelt, müsste es dann ja noch mehr bedeuten!

Ingelinde deckte den Felsstein wieder sorgfältig mit dem Moos zu und ging zurück zum Schloss. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Falsch konnte es jedenfalls nicht sein, ihrem Ferdinand vorerst aus dem Weg zu gehen. Vielleicht bekam sie mit der Zeit die richtige Idee. Es war nicht nur der große Altersunterschied, der ihre Fragezeichen verstärkte, sondern vor allem, dass Ferdinand niemals den Anschein erweckt hatte, dass sie mehr als seine Chefin wäre. Ja, früher, bei ihren Besuchen, als er vielleicht Mitte 30 und sie noch keine 20 war, also einige Jahre bevor der Onkel starb, da bildete sie sich manchmal ein, dass er ihr gelegentlich verstohlene Blicke zuwarf und sie nicht mehr als kleines Mädchen sah, aber so recht auf ihre Wahrnehmung verlassen, wollte sie sich nicht. Freilich, ihr hatte es schon geschmeichelt, dass so ein gestandenes Mannsbild Interesse zeigte, aber ihre Erfahrungen mit den Männern waren viel zu oberflächlich, als dass sie ihrer Einschätzung vertrauen konnte. Ferdinand war ihr damals aber nicht zu alt.

Die Eltern hielten es für eine Ausrede, wenn sie als Jugendliche betonte, sie könne mit gleichaltrigen Jungs nichts anfangen. Doch sie hatte es tatsächlich so gemeint. „Die sind zu oberflächlich!", erklärte sie ihrer Mutter, die darauf nur mit einem Schmunzeln reagierte - war es doch ohnehin noch nicht an der Zeit, an eine ernsthafte Verbindung zu denken. Keiner hatte damals mit dem zu frühen Tod der Eltern gerechnet und Inge auf ein Erwachsenenleben vorbereitet, bei dem ihr niemand zur Seite steht. Nun, zum Glück war Ferdinand da! Er kümmerte sich um sie, wie es vielleicht ihr Vater getan hätte - und damit veränderte sich damals vermutlich erneut seine Sichtweise: Inge war nun nicht mehr eine begehrenswerte junge Frau, sondern eine hilfebedürftige junge Schlossherrin.

Und jetzt das! War sie inzwischen reif genug, um in ihr wieder eine Frau zu sehen? Oder hatte er sie schon lange im Auge und sie hatte es nur nicht erkannt?

Ferdinand war für seine Alter noch gut in Form, das war klar. Seinen Körper hatte sie stets wahrgenommen. Aber sie hatte doch fast nie private Gespräche mit ihm geführt, kannte ihn doch gar nicht richtig. Jetzt wunderte sie sich, dass sie so lange mit einem Mann unter einem Dach gelebt hatte, ohne dass sie ihm näher gekommen war.

7

Als sich Inge an diesem Abend ihren nackten Körper vor dem Spiegel betrachtete, kamen ihr Zweifel, ob sie Ferdinand überhaupt gefallen würde. Vielleicht war sie ihm zu wenig fraulich-rund? Und als es ihr bewusst wurde, dass sie im Licht vor dem Spiegel stand und sich draußen schon die Dunkelheit über den Burgberg gelegt hatte, kam ihr plötzlich der Gedanke, dass man sie ja von dort beobachten könnte. Sie hatte bisher die Vorhänge nie geschlossen, in dem Glauben, dort oben würde ohnehin niemand in der Dunkelheit nach ihr Ausschau halten. Aber jetzt? Hatte nicht der Schatten, den sie vor kurzem auf dem Burgpfad gesehen hatte, Ähnlichkeit mit Ferdinands Gestalt gehabt? War er nicht nur unterwegs, um etwas einzugravieren, sondern vor allem, um sie von dort oben zu beobachten? Schnell zog sie den Vorhang vor.

Dann überlegte sie. Würde er sein Interesse verlieren, wenn sie sich seinen Blicken entzöge oder würde er versuchen, mit ihr in echten Kontakt zu treten, wenn sie sich ihm nicht mehr als "Anschauungsobjekt" zur Verfügung stellte? Sie dachte an ihre eigenen nächtlichen Beobachtungen, wie sie ihn in seinem Zimmer im Lichtschein gesehen hatte ... Hatte er das geahnt? Hatte er ganz bewusst seine Vorhänge nicht geschlossen, damit sie in seine Intimsphäre einblicken konnte? Sie öffnete wieder den Vorhang, zog sich aber ihr Nachthemd über, um es nicht zu übertreiben. Vermutlich wäre dies auch der richtige Zwischenschritt: Sein Interesse an ihr hochhalten und seinen Wunsch nach "mehr" entfachen! Mit aufgeregt zittrigen Händen holte sie eine Bürste hervor und kämmte sich sorgfältig und auffällig lässig ihre Haare - und sie bedauerte es diesmal, dass sie nicht mit einer langen Haarpracht glänzen konnte. Dann löschte sie das Licht, holte ihr Fernglas und schaute hinauf zur dunklen Burgruine. Und tatsächlich meinte sie, dort oben eine Gestalt zu erkennen, die hinter Felsen verschwand.

So ging es einige Nächte. Inge hörte zwar am frühen Abend immer wieder einmal Geräusche, die ihr sagten, dass Ferdinand anwesend war, aber später war Stille im Schloss und die Vorstellung konnte beginnen. Vom Haarekämmen kam sie zum Eincremen ihres Gesichts, später auch ihrer Füße. Einige Nächte weiter rasierte sie sich im hellen Lampenschein ihre Beine - etwas, was sie vorher noch nie getan hatte! Und so steigerte sie sich in ein Verhalten hinein, das stets aufregender und lustvoller für sie wurde.

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