Menschen, Göttern gleich

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H. G. Wells MENSCHEN, GÖTTERN GLEICH
ERSTES BUCH Der Einbruch der Erdlinge
I Mr. Barnstaple geht auf Urlaub

1

Mr. Barnstaple fand, daß er dringend einen Urlaub brauchte; nur wußte er weder, mit wem, noch wohin er hätte gehen können. Er war überarbeitet und hielt es zu Hause nicht mehr aus.

Barnstaple hatte von Natur aus ein starkes Temperament. Seine Familie liebte er innig, so daß er sie durch und durch kannte und sie ihn entsetzlich langweilte, wenn er in so niedergedrückter Stimmung war. Seine drei heranwachsenden Söhne schienen von einem Tag zum andern langbeiniger und größer zu werden. Wollte er sich in einen Sessel setzen, so saß sicher schon einer von ihnen darin; sie verjagten ihn von seinem Pianola; sie erfüllten das Haus mit gellendem und nicht enden wollendem Gelächter über Witze, die sich nicht zum Erzählen eigneten. Sie störten ihn bei den späten, harmlosen Flirts, die bis dahin sein bester Trost in diesem Jammertal gewesen waren; sie schlugen ihn im Tennis; sie rauften miteinander voll Übermut auf den Treppenabsätzen und sausten zu zweit und dritt unter gewaltigem Getöse die Stiegen hinunter. Ihre Hüte lagen überall umher. Sie kamen zu spät zum Frühstück. Jeden Abend beim Zubettgehen erhoben sie ein Gebrüll: »Uahu! Uahu! Uahu! … bums!« Und ihrer Mutter schien dies zu gefallen. Sie alle kosteten Geld und setzten sich sorglos über die Tatsache hinweg, daß alles, mit Ausnahme von Barnstaples Verdienst, gestiegen war. Und wenn er bei den Mahlzeiten einige schlichte Wahrheiten über Mr. Lloyd George äußerte, oder wenn er den leisesten Versuch machte, den Ton des Tischgespräches über das Niveau des dümmsten Tratsches zu erheben, ließ ihre Aufmerksamkeit ostentativ nach …

Auf jeden Fall schien es ostentativ.

Er hatte das starke Bedürfnis, von seiner Familie fort, irgendwohin zu gehen, wo er in Ruhe mit Stolz und Liebe an seine Angehörigen denken konnte, ohne von ihnen gestört zu werden …

Und ebenso wünschte er dringend, für einige Zeit von Mr. Peeve loszukommen. Nie wieder wollte er eine Zeitung oder eine Zeitungsankündigung sehen; selbst der Anblick der Straßen wurde ihm zur Qual. Er war von der Furcht vor einem finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch besessen, gegen den der Weltkrieg bloß als ein geringfügiger Zwischenfall erschienen wäre. Und das nur aus dem Grunde, weil er zweiter Redakteur und Faktotum beim Liberal war, jenem bekannten Organ der traurigeren Aspekte der fortschrittlichen Meinung, und weil der unentwegte Pessimismus des Mr. Peeve, seines Chefs, ihn immer mehr ansteckte. Früher war es noch möglich gewesen, Mr. Peeve eine Art Widerstand entgegenzusetzen, indem man sich mit den anderen Angehörigen der Redaktion über seinen Trübsinn verstohlen lustig machte, aber jetzt gab es keine anderen Redaktionsmitglieder mehr; in einem Anfall finanzieller Verzagtheit hatte Mr. Peeve sie alle abgebaut. Tatsächlich schrieb jetzt außer Barnstaple und Mr. Peeve niemand mehr regelmäßig für den Liberal. So stand nun Mr. Barnstaple ganz unter Peeves Einfluß. Der konnte manchmal zwei Stunden lang zusammengekrümmt, die Hände tief in den Hosentaschen, und alle Dinge von der düstersten Seite betrachtend, auf seinem Redaktionsstuhl hocken. Barnstaple neigte von Natur aus zu bescheidenen Hoffnungen und zu Fortschrittsglauben, aber Mr. Peeve hielt hartnäckig daran fest, daß es um mindestens sechs Jahre zu spät sei, an einen Fortschritt zu glauben und daß der Liberalismus bestenfalls auf ein baldiges Jüngstes Gericht hoffen könne. Und wenn Mr. Peeve den Leitartikel, den der Redaktionsstab, als es noch einen gab, dessen wöchentliche Magenverstimmung nannte, fertiggebracht hatte, ging er fort und überließ es Mr. Barnstaple, den restlichen Teil des Blattes für die nächste Woche zusammenzustellen.

Schon in normalen Zeiten wäre es schwer genug gewesen, mit Mr. Peeve zusammenzuarbeiten; aber die Zeiten waren nicht normal. Sie waren erfüllt von unangenehmen Begebenheiten, die seine trübseligen Ahnungen nur zu berechtigt erscheinen ließen. Die große Aussperrung der Grubenarbeiter dauerte bereits einen Monat und ließ den kommerziellen Zusammenbruch Englands vorausahnen; jeder Morgen brachte aus Irland Nachricht von neuen Ausschreitungen, von unverzeihlichen und unvergeßbaren Greueltaten; eine anhaltende Dürre bedrohte die Welternte; der Völkerbund, auf den Mr. Barnstaple in den glorreichen Tagen des Präsidenten Wilson riesige Hoffnungen gesetzt hatte, war zu trauriger und selbstzufriedener Bedeutungslosigkeit herabgesunken; überall Konflikte, überall Unvernunft; sieben Achtel der Welt schienen in chronische Unordnung und soziale Auflösung zu verfallen. Sogar ohne Mr. Peeve wäre es schwer genug gewesen, den Ereignissen die Stirn zu bieten.

Mr. Barnstaple gab nun auch wirklich die Hoffnung auf, aber für Menschen seiner Art ist Hoffnung eine wesentliche Würze, ohne die das Leben unverdaulich wird. Er hatte seine Hoffnung stets auf den Liberalismus und auf eine großzügige, freiheitliche Bewegung gesetzt, jetzt aber begann er zu glauben, daß der Liberalismus niemals mehr erreichen würde, als gekrümmt dazusitzen, mit den Händen in den Taschen, über die Rührigkeit tiefer stehender, aber energischer Männer zu grollen und darüber zu raunzen, daß ihre krabbelnde Emsigkeit die Welt zugrunde richten werde.

Tag und Nacht machte sich Mr. Barnstaple nun Sorgen um die ganze Welt; nachts noch mehr als tagsüber, da er keinen Schlaf finden konnte. Er war von einer krankhaften Begierde behext, eine Nummer des Liberal herauszubringen, die sein ureigenstes Werk sein sollte, alles abzuändern, nachdem Mr. Peeve gegangen war, das ganze gallige Zeug, den elenden leeren Hohn über dieses oder jenes Unrecht auszumerzen, die Schadenfreude über Grausamkeit und Unglück, die Aufregung über die belanglosen, natürlich menschlichen Fehlgriffe von Mr. Lloyd George unter Berufung auf Lord Grey, Lord Robert Cecil, Lord Lansdowne, den Papst, die Königin Anna oder auf Kaiser Barbarossa (sie wechselten von Woche zu Woche); sich zu erheben, den jungen Bestrebungen einer wiedergeborenen Welt Stimme und Gestalt zu geben und die Nummer zu füllen mit – Utopia! Den verblüfften Lesern des Liberal zu sagen: Seht her, das hat zu geschehen. Seht her, das wollen wir tun. Welch ein Schlag wäre das für Mr. Peeve bei seinem Sonntagsfrühstück! Vor Staunen würde er am Ende gar diese Mahlzeit ausnahmsweise richtig verdauen.

Aber das waren höchst närrische Träume. Zu Hause saßen die drei jungen Barnstaples, und ihnen mußte ein anständiger Start gesichert werden. Und so schön der Traum auch war, so hatte Mr. Barnstaple doch die sehr bedrückende Überzeugung, daß er in Wirklichkeit nicht geschickt genug sei, um so eine Sache richtig anzupacken. Irgendwie würde er sie doch verpfuschen …

Und dann könnte er vom Regen in die Traufe kommen. Der Liberal war wohl ein ödes, entmutigendes und kleinliches Blatt, aber es war immerhin kein gemeines und verrufenes Blatt.

Indes, wenn es auch zu keinem so verheerenden Ausbruch kommen sollte, so war es doch für Mr. Barnstaple unbedingt erforderlich, einige Zeit von Mr. Peeve auszuruhen. Ein- oder zweimal hatte er ihm schon widersprochen. Ein Streit konnte jeden Augenblick ausbrechen. Es war klar, daß der erste Schritt, den er tun mußte, um von Mr. Peeve auszuruhen, ein Besuch beim Arzt war. Also ging Mr. Barnstaple zu einem Arzt.

»Ich verliere die Gewalt über meine Nerven«, sagte Mr. Barnstaple, »ich bin fürchterlich nervös.«

»Sie leiden an Neurasthenie«, sagte der Arzt.

»Ich hasse meine tägliche Arbeit.«

»Sie brauchen einen Urlaub.«

»Glauben Sie, daß ich eine Abwechslung nötig habe?«

»Eine so gründliche, wie nur irgend möglich.«

»Können Sie mir einen Ort empfehlen, wohin ich gehen könnte?«

»Wohin wollen Sie gehen?«

»Ich habe kein bestimmtes Ziel. Ich dachte, Sie könnten mir etwas empfehlen …«

»Finden Sie einen anziehenden Ort – und gehen Sie dorthin. Tun Sie sich keinen Zwang an.«

Mr. Barnstaple zahlte dem Doktor eine Guinee und, gewappnet mit dessen Ratschlägen, bereitete er sich darauf vor, Mr. Peeve von seiner Erkrankung und der Notwendigkeit eines Urlaubs zu benachrichtigen, sobald sich Gelegenheit ergeben würde.

2

Eine Zeitlang bedeutete der in Aussicht stehende Urlaub für Mr. Barnstaple eine Vermehrung der schon äußerst schwer auf ihm lastenden Sorgen. Der Entschluß fortzugehen stellte ihn plötzlich vor drei anscheinend unlösbare Probleme: Wie fortkommen? Wohin? Und da Mr. Barnstaple zu jenen Leuten gehörte, die sehr schnell ihrer eigenen Gesellschaft überdrüssig werden: Mit wem? Verstohlene Pläne brachen wie ein leuchtender Strahl durch die Miene voll aufrichtigen Jammers, die Barnstaple in letzter Zeit zur Schau trug. Aber niemand achtete sonderlich auf Barnstaples Gesichtsausdruck.

Eines war ihm ganz klar. Kein Sterbenswörtchen von diesem Urlaub zu Hause! Er wußte ganz genau, was geschehen würde, wenn Mrs. Barnstaple Wind davon bekäme. Sie würde mit einer Miene hingebungsvollen Eifers die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. »Du mußt einen richtigen Urlaub haben!« würde sie sagen. Sie würde ein ziemlich entferntes und teures Bad in Cornwall, Schottland oder in der Bretagne wählen, sie würde einen Haufen Reiseausstattung zusammenkaufen, im letzten Augenblick würde ihr noch etwas einfallen, um das Gepäck mit unbequemen Dingen vollzupfropfen, und – sie würde die Jungen mitnehmen. Wahrscheinlich würde sie es so einzurichten verstehen, daß eine oder zwei Freundesgruppen an denselben Ort kämen, um ›etwas Leben in die Bude zu bringen‹. Und dann würden die sicherlich ihre schlechtesten Charakterzüge hervorkehren und sich als ganz unausstehliche Menschen entpuppen. Es würde kein ordentliches Gespräch, keine echte Fröhlichkeit geben, sondern nur endlose Spiele … Nein!

 

Wie kann es aber ein Mann anstellen, auf Urlaub zu gehen, ohne daß seine Frau Wind davon bekommt? Irgendwie muß doch ein Koffer gepackt und aus dem Hause geschmuggelt werden …

Mr. Barnstaple betrachtete es als den hoffnungsvollsten Umstand in seiner Lage, daß er ein kleines Auto sein eigen nannte. Es war nur natürlich, daß dieser Wagen eine große Rolle in seinen geheimen Plänen spielte. Er schien ihm die günstigsten Möglichkeiten zum Entkommen zu bieten. Er verwandelte die mögliche Antwort auf die Frage: Wohin? Von einem bestimmten, feststehenden Ort in einen, der, wie ich glaube, in der Mathematik geometrischer Ort genannt wird. Und dann hatte das kleine Biest etwas so Gemütliches an sich, daß es leise, aber ganz vernehmlich die Frage beantwortete: Mit wem? Es war ein Zweisitzer! In der Familie hieß es ›Das Fußbad‹, der ›Senftopf‹ oder ›Die Gelbe Gefahr‹. Wie man aus diesen Bezeichnungen schließen kann, war es ein niederer, offener Wagen von grellgelber Farbe. Barnstaple benützte ihn zur Fahrt von Sydenham nach seinem Büro. Der Wagen legte mit einem Liter Brennstoff leicht zwölf Kilometer zurück, war also viel billiger als eine Monatskarte. Tagsüber stand er im Hof unter dem Bürofenster. In Sydenham war er in einem Schuppen untergebracht, zu dem nur Mr. Barnstaple den Schlüssel besaß. Bisher war es ihm gelungen, zu verhindern, daß die Jungen das Auto fuhren oder in Stücke zerlegten. Manchmal fuhr er mit Mrs. Barnstaple in Sydenham umher, ihre Einkäufe zu besorgen. Aber sie konnte den kleinen Wagen nicht recht leiden, weil er sie zu sehr den Elementen aussetzte und sie darin verstaubt und zerzaust wurde. Durch all das, was der kleine Wagen ermöglichte, und durch all das, was er verhinderte, war er offenbar zum Mittel des benötigten Urlaubs bestimmt. Und Mr. Barnstaple fuhr ihn wirklich gern. Er steuerte sehr schlecht, aber sehr vorsichtig. Und obwohl die Karre manchmal stehenblieb und sich weigerte, weiterzufahren, so tat sie doch nicht das, was die meisten anderen Dinge in Mr. Barnstaples Leben taten, oder sie hatte es wenigstens bisher nicht getan; nämlich, sich nach Osten zu wenden, wenn Barnstaple das Steuerrad nach Westen drehte. Dies verlieh ihm ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit.

Schließlich traf Mr. Barnstaple seine Entscheidung mit großer Eile. Plötzlich eröffnete sich ihm eine günstige Gelegenheit. Donnerstag hatte er in der Druckerei zu tun, und er fühlte sich furchtbar abgehetzt, als er abends heimkam. Das Wetter war andauernd heiß und trocken. Es wurde nicht weniger bedrückend durch den Gedanken, daß diese Dürre Hunger und Elend für die Hälfte der Welt vorausahnen ließ. Und in London herrschte Hochsaison – mondän und grinsend. Dieses Jahr war womöglich noch blödsinniger als das große Tangojahr 1913, welches Mr. Barnstaple im Hinblick auf die darauf folgenden Ereignisse bis jetzt für das blödsinnigste Jahr der Weltgeschichte gehalten hatte. Der Star brachte den üblichen Schub an schlechten Nachrichten neben der Spalte, in welcher die sportlichen und gesellschaftlichen Neuigkeiten herrschten. Zwischen den Russen und Polen waren Kämpfe ausgebrochen, ebenso in Irland, in Kleinasien, an der indischen Grenze und in Ostsibirien. Drei neue schreckliche Mordtaten waren geschehen. Die Bergarbeiter waren noch immer ausgesperrt, und es drohte ein großer Eisenbahnerstreik. In der Bahn hatte Barnstaple nur einen Stehplatz bekommen, und der Zug war mit zwanzig Minuten Verspätung abgefahren.

Zu Hause fand er einen Zettel vor, auf dem ihm seine Frau mitteilte, daß ihre Vettern aus Wimbledon telegrafiert hätten, man habe dort die seltene Gelegenheit, Mademoiselle Lenglen und andere Größen Tennis spielen zu sehen; sie sei mit den Jungen hinübergefahren und werde erst spät zurückkehren. Es würde den Jungen guttun, meinte sie, wirklich erstklassige Tennisspieler zu sehen. Die Dienstboten hätten an diesem Abend ihren Ausgang. Er werde hoffentlich nicht böse sein, diesmal allein daheim bleiben zu müssen. Die Mädchen würden etwas kalten Aufschnitt für ihn bereitstellen, ehe sie fortgingen.

Mr. Barnstaple las diese Botschaft mit Resignation. Beim Abendbrot las er eine Broschüre, die ihm ein Freund aus China gesandt hatte, um ihm zu zeigen, wie die Japaner die Reste chinesischer Zivilisation und Bildung zerstörten.

Erst als er nach dem Abendbrot in seinem kleinen Garten saß und seine Pfeife rauchte, kam es ihm voll zu Bewußtsein, was es für ihn bedeutete, allein zu Hause zu sein. Dann wurde er auf einmal sehr geschäftig. Er rief Mr. Peeve an, teilte ihm das Urteil des Arztes mit, erklärte ihm, daß die Dinge beim Liberal gerade jetzt besonders günstig lägen, und erhielt Urlaub.

Danach ging er in sein Schlafzimmer und packte eilig einen vorsintflutlichen Koffer, den man wahrscheinlich nicht so bald vermissen würde, und verstaute ihn unter dem Sitz seines Wagens. Danach beschäftigte er sich einige Zeit damit, seiner Frau einen Brief zu schreiben, und steckte ihn sehr sorgfältig in seine Brusttasche.

Dann sperrte er den Wagenschuppen ab und setzte sich mit seiner Pfeife und einem guten, gedankenschweren Buch über den Bankrott Europas in einen Liegestuhl im Garten, um so unschuldig wie nur möglich auszusehen und sich auch so zu fühlen, ehe seine Familie nach Hause käme.

Als seine Frau zurückkam, erzählte er ihr so beiläufig, daß er sich sehr nervös fühle und daß er sich vorgenommen habe, am nächsten Montag nach London zu fahren, um einen Arzt zu konsultieren.

Mrs. Barnstaple schlug einen Arzt vor, er aber sagte, er habe in dieser Angelegenheit auf Peeve Rücksicht zu nehmen und Peeve sei gerade auf den Dr. Soundso versessen – das war nämlich der Mann, den er in Wirklichkeit schon konsultiert hatte. Und als Mrs. Barnstaple sagte, ihrer Meinung nach hätten sie alle einmal richtige Ferien nötig, brummte er etwas Unverständliches.

Auf diese Weise konnte Mr. Barnstaple mit dem ganzen Gepäck, das für mehrere Ferienwochen nötig war, das Haus verlassen, ohne irgendeinem unüberwindlichen Widerstand zu begegnen. Am nächsten Morgen brach er nach London auf. Der Verkehr auf der Straße war bunt und lebhaft, aber keineswegs schwierig, und die ›Gelbe Gefahr‹ fuhr so sanft dahin, daß sie den Namen ›Goldene Hoffnung‹ verdient hätte. In Camberwell bog er in die Camberwell-New Road ein und nahm den Weg nach dem am Anfang der Vaux-Bridge Road gelegenen Postamt. Hier hielt er an. Sein Vorhaben erschreckte ihn, erfüllte ihn aber auch mit Stolz. Er begab sich ins Postamt und sandte seiner Frau ein Telegramm: ›Dr. Pagan sagt, Einsamkeit und Ruhe dringend nötig, fahre daher in den Seen-Distrikt, habe, dies vorausahnend, Gepäck mitgenommen. Brief folgt.‹

Dann kam er heraus, kramte in seiner Tasche, zog den Brief hervor, den er am vorigen Abend geschrieben hatte, und steckte ihn in den Postkasten. Den Brief hatte er absichtlich so gekritzelt, daß er Neurasthenie in akutem Stadium ahnen ließ. Dr. Pagan habe einen sofortigen Urlaub verordnet, stand dort geschrieben, und ihm empfohlen, ›nordwärts zu wandern‹. Es sei besser, ihm während einiger Tage oder etwa einer Woche keinerlei Post nachzusenden. Er werde nicht schreiben, außer es ginge etwas schief. Keine Nachricht sei gute Nachricht. Sie möge ruhig sein, alles würde gut werden. Sobald er eine feste Adresse für Briefe habe, werde er drahten, aber nur ganz dringende Sachen sollten ihm dann nachgeschickt werden.

Danach stieg er wieder in den Wagen und das mit einem Gefühl der Freiheit, wie er es seit seinen ersten Schulferien nicht mehr empfunden hatte. So schlug er die Richtung nach der Great North Road ein, aber im Stau am Hyde Park Corner hieß ihn ein Polizist nach der Knights Bridge abbiegen, und später wurde er an der Ecke, wo die Bath Road von der Oxford Road abzweigt, durch einen Möbelwagen, der den Weg versperrte, in die erstere abgedrängt. Aber das machte nicht viel aus. Jeder Weg führt nach Irgendwohin, und er konnte ja auch später nordwärts fahren.

3

Es war einer jener Tage voll heiteren Sonnenscheins, die für die große Dürre von 1921 so charakteristisch waren. Es war nicht im geringsten schwül. Im Gegenteil, die Frische und Mr. Barnstaples gute Laune vereinigten sich, um ihn recht angenehme Erlebnisse erwarten zu lassen. Die Hoffnung war wieder zurückgekehrt. Er wußte wohl, daß er auf dem Wege war, dem Alltag zu entfliehen, aber er hatte bis jetzt noch nicht die leiseste Ahnung, wie vollkommen ihn dieser Weg dem Alltag entführen sollte. Es wäre schon ein nettes kleines Erlebnis, jetzt bei einem Wirtshaus zu halten und zu frühstücken. Und wenn er sich unterwegs einsam fühlen sollte, würde er irgend jemanden mitnehmen und mit ihm plaudern. Er konnte ganz ruhig jemanden mitnehmen, denn es war ihm ganz gleichgültig, nach welcher Richtung er fuhr, wenn er nur Sydenham und die Redaktion des Liberal im Rücken hatte.

Unweit von Slough wurde er von einem riesigen grauen Tourenwagen überholt, der ihn aufschreckte und zum Ausweichen zwang. Der Wagen tauchte lautlos neben ihm auf und hatte ihn im Augenblick überholt, obwohl er selbst nach seinem Geschwindigkeitsmesser, der nur manchmal nicht ganz genau war, gut fünfundfünfzig Kilometer in der Stunde fuhr. Die Insassen waren, wie er feststellte, drei Herren und eine Dame; sie saßen alle hochaufgerichtet und sahen sich um, als ob sie sich für etwas interessierten, das hinterherkam. Da sie sehr schnell an ihm vorüberfuhren, konnte er bloß bemerken, daß die Dame von einer auffallenden, strahlenden Schönheit war und daß der ihm zunächst sitzende Herr ein sonderbar elfenhaftes, wenn auch ältliches Gesicht hatte.

Noch bevor er den Schreck über diese vorbeisausende Erscheinung überwunden hatte, machte ihn ein andrer Wagen mit dem Ton eines prähistorischen Sauriers darauf aufmerksam, daß schon wieder jemand an ihm vorbeiwollte. Auf solche Weise – nämlich nach freundlicher Verständigung – ließ sich Mr. Barnstaple gern überholen. Er verringerte die Geschwindigkeit, ließ jeden Anspruch darauf, König der Straße zu sein, fallen und machte mit der Hand aufmunternde Zeichen. Eine große, glatte, schnelle Limousine machte von seiner Erlaubnis, die breite Straße zu passieren, Gebrauch. Der Wagen führte eine tüchtige Menge Gepäck mit sich; aber, mit Ausnahme eines jungen Mannes mit einem Monokel, der neben dem Fahrer saß, sah Barnstaple keine Insassen. Gleich vor ihm bog die Limousine um die Ecke, hinter dem Tourenwagen her.

Nun, selbst eine fahrende ›Fußbadewanne‹ hat es nicht gern, an einem hellen Morgen auf offener Straße so großspurig überholt zu werden. Barnstaple drückte das Gaspedal hinunter und nahm die Kurve mit gut zehn Stundenkilometer schneller, als ihm seine Vorsicht sonst zu fahren gestattete. Er fand die Straße vor sich ganz leer.

Ja, er fand die Straße vor sich viel zu leer. Sie erstreckte sich etwa fünfhundert Meter lang schnurgerade vor seinen Augen. Auf der linken Seite waren eine niedrige, gestützte Hecke, vereinzelte Bäume, flache Felder, dahinter lagen einige kleine Häuschen, weiter entfernt Pappeln, und ganz hinten sah man Windsor Castle. Auf der rechten Seite waren gleichfalls Felder und ein kleines Wirtshaus vor einem Hintergrund niedriger bewaldeter Hügel. Eine auffallende Erscheinung in dieser ruhigen Landschaft war die Reklame eines Strandhotels in Maidenhead. Barnstaple sah vor sich das Flimmern der heißen Luft und zwei oder drei Staubwirbel, die auf der Straße entlang tanzten. Aber keine Spur von dem großen Tourenwagen – und keine Spur von der Limousine. Mr. Barnstaple brauchte gut zwei Sekunden, ehe er sich dieser erstaunlichen Tatsache voll bewußt wurde. Weder zur Rechten noch zur Linken gab es irgendeine Seitenstraße, in welche die Wagen hätten verschwinden können. Und wenn sie schon um die nächste Biegung sein sollten, dann hätten sie mit dreihundert Kilometern in der Stunde fahren müssen.

Mr. Barnstaple hatte die gute Gewohnheit, die Geschwindigkeit sofort zu verringern, wenn er sich über etwas nicht klar war. Auch jetzt stoppte er ab. So kam er auf eine Geschwindigkeit von ungefähr zwanzig Stundenkilometer und starrte mit offenem Munde in die leere Landschaft, um irgendeinen Anhaltspunkt für das rätselhafte Verschwinden der Wagen zu finden. Erstaunlicherweise hatte er durchaus nicht das Gefühl, daß er selbst irgendwie gefährdet sein könnte.

Dann schien sein Wagen an irgend etwas anzustoßen und begann zu schleudern. Er schleuderte so heftig herum, daß Barnstaple für einen Augenblick den Kopf verlor. Er konnte sich nicht erinnern, was man zu tun hat, wenn ein Wagen schleudert. Er erinnerte sich dunkel, daß man in die Richtung zu steuern hätte, nach der sich der Wagen dreht, aber in seiner momentanen Aufregung konnte er nicht feststellen, in welche Richtung der Wagen schleuderte.

 

Später erinnerte er sich, daß er in diesem Augenblick einen Ton gehört hatte. Es war genau derselbe Ton, der entsteht, wenn eine Spannung ihren Höhepunkt erreicht hat, scharf wie das Springen einer Lautensaite, ein Ton, den man zu Anfang – oder zu Ende – der Bewußtlosigkeit in der Narkose hört.

Es war ihm, als ob er gegen die Hecke an der rechten Seite geschleudert worden wäre, aber nun fand er die Straße wieder vor sich. Er berührte den Gashebel, stoppte aber dann wieder ab und blieb stehen. Voll tiefster Verwunderung blieb er stehen.

Diese Straße war vollkommen verschieden von derjenigen, auf der er sich noch vor einer halben Minute befunden hatte. Die Hecken waren verwandelt, die Bäume waren verändert. Windsor Castle war verschwunden, und – eine kleine Entschädigung – die große Limousine war wieder in Sicht. Sie stand am Rand der Straße, ungefähr zweihundert Meter entfernt.