Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman)

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Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig (Roman)
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H. G. Wells DER DIKTATOR oder Mr. Parham wird allmächtig
ERSTES BUCH Eine hoffnungsvolle Freundschaft

1
Mr. Parham und Sir Bussy Woodcock

Einige Zeit hindurch war Mr. Parham dem Gedanken, einer spiritistischen Sitzung beizuwohnen, wozu Sir Bussy Woodcock ihn aufgefordert hatte, in stärkstem Maße abgeneigt.

Mr. Parham wollte mit Spiritismus nichts zu schaffen haben. Gleichzeitig aber wollte er seine Beziehungen zu Sir Bussy Woodcock nicht lockern.

Sir Bussy Woodcock war einer jener ungebildeten Plutokraten, deren Umgang Männer von überragender Intelligenz heutzutage pflegen müssen, wenn sie nur den geringsten Ehrgeiz in sich verspüren, beim Schauspiel des Lebens mehr zu sein als bloße Zuschauer. Reiche Abenteuer solcher Art sind unter den heutigen Bedingungen die notwendigen Vermittler zwischen edlem Denken und gemeiner Wirklichkeit. Die Notwendigkeit einer so schwierigen und dabei so entwürdigenden Vermittlung ist bedauerlich, doch scheint sie in dieser unerklärlichen Welt nun einmal zu bestehen. Der Denker und der Mann der Tat sind einander nötig – zumindest scheint der Denker ihres Zusammenwirkens zu bedürfen. Sowohl Plato wie auch Konfuzius oder Machiavelli mußten sich einen Fürsten suchen. Heutzutage, da Fürsten auf schwachen Beinen stehen, müssen Denker sich an reiche Leute halten.

Es ist schwer, reiche Leute zu finden, die für geistige Bestrebungen etwas übrig haben, und hat man sie gefunden, so sind sie zumeist recht störrisch. An Sir Bussy zum Beispiel gab es so manches, was ein Mensch von hoher Geistigkeit kaum ertragen hätte, wenn ihm nicht die wunderbarste Selbstbeherrschung eigen gewesen wäre. Sir Bussy war ein kleiner Mann mit rotem, sommersprossigem Gesicht, einer hochgestülpten Nase, wie man sie heute so häufig findet, und einem Mund, der einer aufs Geratewohl ins Gesicht gesetzten Schmarre glich; er war untersetzt, was einen Menschen von hohem, schlankem Wuchs an und für sich schon unangenehm berühren muß, und er bewegte sich mit einer Lebhaftigkeit und Hast, die einem oft auf die Nerven fiel und jederzeit bewies, daß Sir Bussy gewisse, einem kultivierten Geiste unerläßliche Hemmungen völlig fehlten. Sein ganzes Gehaben hatte etwas Gieriges. Wenn man mit ihm sprach, schwätzte er mitten in eine wohlangebrachte Pause hinein, und Mr. Parham, der es lange Zeit hindurch gewohnt gewesen war, zu stummen Studenten zu sprechen, hatte nichts so trefflich gelernt wie die wohlüberlegte Anbringung von Pausen inmitten der Rede. Ein gut Teil seiner Besonderheit ging verloren, wenn man Mr. Parham das bedeutsame Schweigen inmitten des Gesprächs unmöglich machte. Doch Sir Bussy besaß kein Verständnis für dies bedeutsame Schweigen. Wann immer man bedeutsam schwieg, pflegte er auf eine sozusagen verheerende Art und Weise den Mund zu einem hastigen »Was wollten Sie sagen?« aufzutun. Und sein Lieblingswort war »Nu!« Er sagte es unaufhörlich, in mannigfachstem Tonfall und schien sich damit niemals an irgend eine bestimmte Person zu wenden. Das Wort bedeutete nichts oder konnte, was weit ärgerlicher war, alles bedeuten.

Der Kerl war von niedriger Herkunft. Sein Vater war Hansomkutscher in London gewesen, seine Mutter Pflegerin in einer Lungenheilanstalt zu Hampstead – der Vorname »Bussy« ging auf einen interessanten jungen Mann unter ihren ehemaligen Patienten zurück; und der Sohn der beiden hatte, im Alter von vierzehn Jahren bereits von Ehrgeiz erfüllt, einen recht anstrengenden Fortbildungskurs mit der tagfüllenden Arbeit bei dem geschwätzigen Inhaber eines Annoncenbüros vertauscht, weil, wie er sagte, »dies andere Zeug keinerlei Zweck hatte«. Das »andere Zeug« war, muß man wissen, Wordsworth, die Reformation, Morphologie der Pflanzen und National-Ökonomie, dargestellt durch blasierte und ein wenig dunkel spöttische junge Herren von den Universitäten.

Tolerant, weitherzig und von dem Wunsche erfüllt, durchaus modern zu sein, war Mr. Parham stets bemüht, diese Tatsachen zu vergessen. Er vergaß sie niemals wirklich, doch so oft er mit Sir Bussy zusammen war, versuchte er, es zu tun. Sir Bussys Aufstieg von solchen Anfängen zu Reichtum und Macht war eine der zahllosen märchenhaften Geschichten aus dem modernen Geschäftsleben. Mr. Parham ließ es sich angelegen sein, so wenig wie möglich darüber zu wissen.

Der Mann war nun einmal da. In knapp einem Vierteljahrhundert, während welcher Zeit Mr. Parham sich hauptsächlich mit unvergänglichen Dingen beschäftigt und Prüfungsarbeiten darüber durchgesehen hatte, war Sir Bussy zum Beherrscher einer reichen Fülle vergänglicher, aber greifbarer Phänomene geworden; zu diesen zählte ein großes Annoncenunternehmen, ein wichtiger Teil des Kleinhandels mit Lebensmitteln, eine Gruppe von Hotels, Plantagen in den Tropen, Kinos und noch so manches andere, wovon Mr. Parham nicht eigentlich Kenntnis, wohl aber eine gefühlsmäßige Ahnung hatte. Über diese kurzlebigen Erscheinungen gebot Sir Bussy während jener Stunden seiner Tage, die er nicht dem geselligen Leben widmete; auch wurde er gelegentlich um ihretwillen inmitten einer Gesellschaft ans Telephon gerufen oder führte im Flüstertone Privatgespräche mit jungen Leuten, die plötzlich, man wußte nicht woher, auftauchten. Infolge dieser Tätigkeit, die Mr. Parham stets recht dunkel blieb, lebte Sir Bussy, umgeben von einer Schar gehorsamer und unterwürfiger Menschen, so behaglich und luxuriös, daß ein schwächerer oder gemeinerer Geist als der Mr. Parhams davon völlig überwältigt worden wäre. Erschien er nachts in einer Haustür, so tauchten wunderbarerweise sofort etliche Chauffeure aus der Dunkelheit auf und standen, die Hand grüßend an der Mütze, vor ihm; er sagte »Nu!« und machte damit auf die allerfeinsten Bedienten Eindruck. In einer lichtvolleren Welt hätte es anders sein können, in dieser aber galt Mr. Parham den Chauffeuren des Sir Bussy offenkundig als ein unnützes Menschenwesen, das mit sich herumzuschleppen Sir Bussy Vergnügen machte, und wenn auch die Dienerschaft in Buntincombe, im Carfex House, Marmion House sowie in The Hangar Mr. Parham als Gentleman behandelte, so tat sie das doch sichtlich mehr infolge ihrer guten Erziehung, als weil sie ihn für einen solchen hielt. Immer wieder empfand man Sir Bussy als Wunder. Er konnte einer Unzahl von Menschen Befehle erteilen, doch war es Mr. Parham durchaus klar, daß er im Grunde keineswegs wußte, was er von den Leuten wollte. Aber er erteilte ihnen jedenfalls Befehle. Es war nur natürlich, daß Mr. Parham dachte: »Wenn ich so viel Macht besäße wie er, würde ich Erstaunliches leisten.«

Zum Beispiel hätte Sir Bussy Geschichte machen können.

Mr. Parham hatte sich sein ganzes Leben hindurch mit Geschichte und Philosophie befaßt. Er hatte mehrere historische Studien geschrieben – hauptsächlich über Richelieu und dessen Zeit, wobei er tiefer in die Eigenart Richelieus eingedrungen war als irgend ein Historiker vor ihm; er hatte Sonder-Geschichtskurse abgehalten; er hatte der Welt einen Band Essays geschenkt; er war Chefredakteur der populären Zeitschrift »Philosophy of History« und schrieb kritische Abhandlungen über die Arbeiten bedeutender Gelehrter, Abhandlungen, die – mitunter zu seinem Leidwesen zusammengestrichen und verstümmelt – im Empire, dem Weekly Philosopher und der Georgian Review erschienen. Niemand vermochte einer neuen Idee, die Form anzunehmen versuchte, so schneidig und dabei liebenswürdig den Garaus zu machen wie Mr. Parham. Und da er die Geschichte und die Philosophie so sehr liebte, war es ihm eine Qual, fühlen zu müssen, wie schlecht die Verworrenheit unserer Zeit zu dem paßte, was als Geschichtswissenschaft oder als reine Philosophie bezeichnet wird. Der Weltkrieg war ein Stück Geschichte, das sah er ein, wenn auch ein sehr klumpiges, rohes und widerspenstiges, und die Konferenz von Versailles war ebenfalls Geschichte – Geschichte in noch weiter fortgeschrittener Entartung. Man konnte diese Konferenz immerhin noch als einen Wettstreit zwischen dieser und jener Macht hinstellen, konnte von einem Kampf um die »Vorherrschaft« sprechen und die »Staatskunst« dieses oder jenes Menschen oder auswärtigen Amtes mit subtiler Logik auslegen.

Von 1919 an jedoch wurde alles fortschreitend schlimmer. Personen und Ereignisse verloren in immer stärkerem Maße jegliche Bedeutung. Sinnlosigkeit, eine Verwirrung aller Werte machte sich im Fluß der Geschehnisse geltend. Da war zum Beispiel Mr. Lloyd George. Wie sollte man einen derartigen Mann behandeln? Nach einem Höhepunkt von der Art der Versailler Konferenz hat eine geschichtliche Persönlichkeit ihre Laufbahn zu beenden und die Historiker ans Werk schreiten zu lassen, wie es Woodrow Wilson ja auch wirklich getan hatte, und vor ihm Lincoln, Sulla, Cäsar oder Alexander. Geschichtliche Persönlichkeiten haben einen Höhepunkt zu erreichen und sich dann sozusagen abzurunden, unangenehme Tatsachen müssen Stück für Stück von ihnen abfallen, so daß man sie allmählich mit immer größerer Sicherheit historisch auffassen kann. Die Wirklichkeit der Geschichte bricht dann eben durch den ganz oberflächlichen äußeren Schein hindurch; die Logik der Ereignisse tritt zu Tage.

Wo aber waren nun die Machtfaktoren? Um was für Kräfte handelte es sich? Angesichts von Dingen, wie sie heute vor sich gehen, fühlte sich dieser geschulte Historiker wie ein gewandter Bildschnitzer, von dem man verlangt, daß er aus einer Flüssigkeit ein Bildwerk schneide. Wo war das Grundgerüst? – überhaupt irgend ein Grundgerüst? Ein Mann wie Sir Bussy hätte in einem großen Kampfe zwischen den neuen Reichen und der älteren Oligarchie eine Rolle spielen sollen; er hätte einem römischen Ritter gleichen sollen, der den Patriziern gegenübersteht. Mit ihm hätte gewissermaßen das Zeitalter der Wahlrechtsdemokratie zu einem endgültigen Abschluß kommen müssen. Er hätte eine neue Phase in der Geschichte Großbritanniens, hätte das neue Imperium verkörpern sollen. Tat er das aber? Vertrat er überhaupt irgend etwas? Zu Zeiten überkam Mr. Parham ein Gefühl, als würde er verrückt werden, wenn es ihm nicht gelingen sollte, Sir Bussy zu einem Vertreter von irgend etwas zu stempeln, irgend etwas formell und historisch Bestimmtem.

 

Die altehrwürdigen Entwicklungsprozesse der Geschichte mußten doch wohl immer noch weitergehen – ohne Zweifel gingen sie immer noch weiter. Was hätte sonst vor sich gehen sollen? Sicherheit und Vorherrschaft – in Europa, in Asien, im Finanzwesen – wurden mit würdevollem Ernst von Mr. Parham und ihm verwandten Seelen in den bedeutenderen Wochen- und Monatszeitschriften besprochen. Überall gab es immer noch Regierungen und auswärtige Ämter, und sie schlugen sich den Regeln entsprechend, anständig und ordnungsgemäß durch die Phasen eines Kampfes um Weltherrschaft hindurch. Jede irgendwie bedeutsame Verhandlung oder Abmachung zwischen den Mächten wurde nunmehr streng geheim gehalten. Die Spionage war niemals noch so ausgebreitet, gewissenhaft und angesehen gewesen, und das Doppelkreuz der christlichen Diplomatie herrschte von Washington bis Tokio. Großbritannien und Frankreich, Amerika, Deutschland und Moskau unterhielten Flotten und Heere, führten höchst würdevolle diplomatische Verhandlungen und trafen geheime Abmachungen miteinander sowie gegen einander, just als ob es das alberne Gerede von einem »Krieg, der den Krieg aus der Welt schaffen soll«, niemals gegeben hätte. Das bolschewistische Moskau hatte nach einer beunruhigenden Anfangsphase zu den besten Überlieferungen des auswärtigen Amtes der Zarenherrschaft zurückgefunden. Hätte Mr. Parham das Vorrecht eines freundschaftlichen Verkehrs mit Staatsmännern gleich Sir Austin Chamberlain und Mr. Winston Churchill oder Monsieur Poincaré genossen, wäre er von dem einen oder dem anderen zum Abendessen eingeladen worden, so würden sich nach beendigtem Mahle, bei zugezogenen Fenstervorhängen und indes Portwein und Zigarren sich, Schachfiguren vergleichbar, in nachdenklicher Unregelmäßigkeit über das schimmernde Mahagoni hin bewegten, Gespräche ergeben haben, die ihn warm und behaglich zu seinem unbedingten Glauben an die Geschichte zurückgeführt hätten, an die Geschichte, wie er sie gelernt hatte und lehrte.

Leider boten sich ihm jedoch derartige gesellschaftliche Möglichkeiten nicht – trotz seiner lebendig aufschlußreichen Bücher und seiner trefflichen, ja mitunter geradezu bedeutenden Artikel.

Da ihm ein beruhigender Umgang solcher Art fehlte, tauchte ein seltsamer Gedanke in seinem Geiste auf und gewann an Kraft, der Gedanke nämlich, daß rings um die gegenwärtigen Erscheinungen des historischen Geschehens etwas ganz Anderes und Neues im Gange sei und diese Erscheinungen, wenn auch nicht gerade bedrohe, so doch bedeutungslos mache. Es fiel ihm schwer zu sagen, was dieses Andere sein mochte. Es äußerte sich als eine riesengroße und stetig zunehmende Gleichgültigkeit. Es zeigte sich in der Tatsache, daß alle Welt so lebte, als ob die ernstesten Dinge des Daseins gar nicht mehr ernst zu nehmen wären.

Als ob es vielmehr andere ernste Dinge gäbe. Und während der letzten Jahre hatte jenes Etwas sich Mr. Parham insbesondere in Sir Bussy gezeigt. Eines Nachts stellte Mr. Parham sich eine sehr ernste Frage. Es war ihm späterhin zweifelhaft, ob er sich in tiefes Brüten verloren habe oder von einem Alpdrücken heimgesucht worden sei, ob er nachgedacht oder nur geträumt habe, er denke nach. Angenommen – in dieser Form kam ihm die Sache in den Sinn – angenommen, Staatsmänner, Diplomaten, Fürsten, Professoren der Nationalökonomie, Militär- und Marinesachverständige, mit einem Wort, alle gegenwärtigen Erben der Geschichte, führten eine verwickelte, schwierige und gefährliche Situation herbei, eine Situation, in der Noten und Gegennoten getauscht, Äußerungen getan und sogar Ultimata gestellt würden, so daß es schließlich ob irgend einer »Frage« zu einer Kriegserklärung käme. Und angenommen – oh Entsetzen! – angenommen, die Menschen im allgemeinen und Sir Bussy im besonderen würden sich das Ganze gelassen ansehen, würden »Nu« oder »Was wollt ihr eigentlich?« sagen und sich abwenden. Sich abwenden und zu ihrer gewohnten Beschäftigung zurückkehren, der Beschäftigung mit Dingen, die für die Geschichte belanglos sind? Was würden die Erben der Geschichte dann tun? Würden die Soldaten es wagen, mit der Pistole gegen Sir Bussy vorzugehen? Würden die Staatsmänner ihn beiseite schieben? Angenommen, er würde sich nicht beiseite schieben lassen, sondern in der ihm eigenen, sonderbaren hinterhältigen Art und Weise Widerstand leisten. Angenommen, er würde sagen: »Schluß mit alledem – und zwar sofort!« Und angenommen, die anderen würden entdecken, daß sie wirklich Schluß damit zu machen haben!

Was sollte dann aus unserem geschichtlichen Erbe werden? Wo bliebe das Reich, die Großmächte, unsere nationalen Überlieferungen und unsere Politik? Ein absonderlicher Gedanke, diese Vorstellung, daß die historische Tradition völlig zusammenbrechen sollte; so absonderlich, daß er Mr. Parham in wachem Zustand niemals in den Sinn gekommen wäre. Es gab in Mr. Parhams Geist tatsächlich nichts, worauf ein solcher Gedanke sich hätte stützen, keinerlei Begriffe, mit denen er sich hätte verknüpfen können; trotzdem faßte er Fuß und belästigte Mr. Parham wie eine alberne Melodie, die einem nicht aus dem Kopf will. »Sie werden nicht gehorchen – wenn die Zeit kommt, werden sie nicht gehorchen«; das war der Kehrreim. Was danach aus dem menschlichen Leben werden sollte, vermochte Mr. Parham sich nicht vorzustellen. Es konnte nichts anderes kommen als das Chaos!

Worin Sir Bussy, das fühlte er, doch noch weiterleben würde, verwandelt vielleicht, aber in unverminderter Kraft. Erschrecklich. Triumphierend.

Nunmehr war Mr. Parham völlig wach, darüber konnte kein Zweifel herrschen, und er lag wach, bis die Morgendämmerung kam.

Die Muse der Geschichte mochte vom Aufstieg großer Dynastien erzählen, von der Vorherrschaft dieser oder jener Macht, von den ersten Anfängen des Nationalismus in Mazedonien, von dem Verfall und dem Zusammenbruch des Römischen Reiches, von den endlosen Kämpfen zwischen dem Islam und dem Christentum oder der lateinischen und der griechischen Kirche, von der wunderbaren Laufbahn Alexanders, Cäsars und Napoleons, sie mochte das Zauberbuch der großen Taten aufschlagen und so Sir Bussy aufzurütteln sich bemühen, damit er seine Rolle spiele, seine untergeordnete, aber dennoch bedeutsame Rolle in ihrem stetig fortschreitenden Drama: Sir Bussy lauschte ihrer Rede stets nur schlaftrunken, hielt allem Anscheine nach nicht viel davon, verlor sich, irgend einem seiner eigenen Gedankengänge folgend, in Regionen, die Mr. Parham unzugänglich blieben, und sagte schließlich »Nu!«

Nu!

Mr. Parham begann sich schwach und elend zu fühlen …

Und um die Schwierigkeiten seines Daseins zu vermehren, war da nun auch noch dieser verfluchte spiritistische Blödsinn, dieser verrückte Gedanke, einer Séance beizuwohnen und Medien ernst zu nehmen, Medien und die widerwärtigen, verrufenen und aufreizend rätselhaften Phänomene rings um sie.

Als es zu dämmern begann, dachte Mr. Parham ganz ernstlich daran, Sir Bussy aufzugeben. Aber er hatte mit diesem Gedanken schon mehrere Male gespielt und immer mit demselben Ergebnis. Schließlich wohnte er nicht nur einer, sondern sogar einer ganzen Reihe von spiritistischen Sitzungen bei, wie dieses Buch berichten wird.

2
Wie Sir Bussy und Mr. Parham sich zusammenfanden

Als Mr. Parham Sir Bussy vor fünf Jahren oder mehr zum ersten Male sah, hatte es den Anschein gehabt, als sei in dem großen Finanzmann ein wirkliches Interesse an geistigen Dingen lebendig. Ein bescheidenes, aber ernstes Interesse.

Bei einem von Sebright Smith im Hotel Rialto veranstalteten Herren-Souper hatte Mr. Parham über Michelangelo und Botticelli gesprochen. Es war eine jener Veranstaltungen gewesen, die Mr. Parham als Sebrights wunderbare Geselligkeitskunststücke zu bezeichnen pflegte. Sebright Smith ging allezeit in größter Unbekümmertheit eine Fülle gesellschaftlicher Verpflichtungen ein, und wenn es ihrer so viele geworden waren, daß sie ihn zu bedrücken begannen, gab er ein riesenhaftes Diner oder Souper, um sich ihrer zu entledigen. Es war ihm gleichgültig, welche Leute bei ihm zusammentrafen, er verließ sich darauf, daß der Champagner die Zungen lösen werde. Und der liberal moderne und dabei doch so kultivierte Mr. Parham fand diese Feste entzückend vorurteilslos.

Niemand hört so gut zu wie Leute, die sich in einer Gesellschaft nicht ganz behaglich fühlen, und Mr. Parham, der zum Vielwisser geboren worden war, ließ seiner Zunge freien Lauf. Er sagte Dinge über Botticelli, mit denen ein gewinnsüchtigerer Mann vierzig oder fünfzig Pfund verdient haben würde, indem er sie zu einem kleinen Buche verarbeitet hätte. Sir Bussy lauschte mit einem Gesichtsausdruck, den Leute, die ihn nicht kannten, für boshaft hätten halten können. Jedoch mit Unrecht: Er hatte nämlich die Gewohnheit, den linken Mundwinkel herabzuziehen, wenn ihn etwas interessierte oder wenn er mit irgend einem Aktionsplan beschäftigt war.

Als mit den Zigarren Bewegung in die Gesellschaft kam und Negersänger ein Lied anzustimmen begannen, nahm Sir Bussy die Gelegenheit wahr, sich auf dem neben Mr. Parham freigewordenen Stuhle niederzulassen.

»Sie wissen in diesen Dingen Bescheid?« fragte er, der herzbewegenden Klänge des geistlichen Negerliedes nicht achtend.

Mr. Parham blickte ihm fragend ins Gesicht.

»Alte Meister, Kunst und so weiter.«

»Sie interessieren mich«, sagte Mr. Parham mit freundlich herablassendem Lächeln, denn noch waren ihm Name und Ansehen des Mannes, mit dem er sprach, unbekannt.

»Mich hätten sie vielleicht auch interessieren können – aber ich gab es auf, mich mit ihnen zu beschäftigen. Essen Sie manchmal in der City zu Mittag?«

»Nicht oft.«

»Nun, wenn der Weg Sie einmal dahin führt – nächste Woche zum Beispiel – rufen Sie mich doch im Marmion House an.«

Der Name sagte Mr. Parham nichts.

»Gerne«, erwiderte er höflich.

Sir Bussy schien im Begriff zu gehen. Er schwieg einen Augenblick. »Es mag allerlei hinter der Kunst stecken«, hob er darauf wieder an. »Kommen Sie doch bestimmt. Was Sie sagten, hat mich wirklich interessiert.« Er lächelte, wobei ein seltsamer Schimmer von Liebenswürdigkeit in seinem Gesicht aufleuchtete, um sofort wieder zu verschwinden, und verließ die Gesellschaft lebhaften Schrittes inmitten einer Pause, während welcher Sebright Smith und die Neger mit lauter Stimme besprachen, welches Lied als nächstes gesungen werden sollte.

Ein wenig später suchte Mr. Parham den Gastgeber. »Wer ist der untersetzte kleine Mann mit dem roten Gesicht und den borstigen Haaren, der ganz früh wegging?«

»Meinen Sie vielleicht, daß ich hier jedermann kenne?« sagte Sebright Smith.

»Aber er saß neben Ihnen!«

»Ach so, der! Das ist einer unserer Er- Eroberer«, erwiderte Sebright Smith, der betrunken war.

»Hat er einen Namen?«

»Keinen wird er haben! Sir Blas-dich-auf Bussy-Bussy Kauf-das-Weltall-zusammen Woodcock. Er gehört zu der Sorte Menschen, die alles aufkaufen. Läden, Häuser und Fabriken, Landgüter und Kneipen. Steinbrüche. Ganze Handelszweige. Er kauft die Dinge, die man nötig braucht, und spielt ein bißchen mit ihnen herum, bis man sie dann endlich kriegt. Sie können heute in London kein Stückchen Butter essen, das er nicht zuvor gekauft und wieder verkauft hätte. Eisenbahnen kauft er, Hotels, Kinos und Vorstädte, Männer und Frauen mit Seele und Leib. Passen Sie auf, daß er Sie nicht auch kaufe.«

»Ich bin keine Marktware.«

»Sondern nur unter der Hand zu haben, wie?« meinte Sebright Smith. Der erschrocken fragende Gesichtsausdruck Mr. Parhams belehrte ihn, daß er sich eine Taktlosigkeit hatte zuschulden kommen lassen, und er versuchte sie mit der Frage »Noch ein Glas Champagner?« wieder gutzumachen.

Mr. Parham erblickte einen alten Freund, der ihm zuwinkte, und ließ die Bemerkung seines Wirtes unbeantwortet. Er konnte auch keinerlei Sinn in ihr entdecken, überdies war der Mann offenkundig betrunken. Gegen den Freund hin gewendet, hob er die Hand senkrecht empor, als wolle er einen Wagen aufhalten, und bahnte sich einen Weg zu ihm hinüber.

Im Laufe der folgenden Tage zog Mr. Parham auf sehr diskrete Art Erkundigungen über Sir Bussy ein und beschloß daraufhin überaus nachdrücklich, die Einladung in das Marmion House anzunehmen. Wenn der Mann Unterweisung in Dingen der Kunst haben wollte, sollte er sie bekommen. Hatte nicht Lord Rosebery gesagt: »Wir müssen die Leute erziehen, die uns beherrschen?«

 

Es sollte ein freundschaftliches Tête-à-Tête werden. Mr. Parham gedachte, seinem Wirt das Tor zur goldenen Welt der Kunst zu öffnen und nebenbei einen langgehegten Traum zu erwähnen, den Sir Bussy mit leichter Mühe in herrliche Wirklichkeit verwandeln konnte.

Dieser Traum, der Mr. Parham während langer Jahre vergeblichen Hoffens zu einem grollenden Vasallen Sir Bussys machen sollte, war der Plan, ein vornehmes und angesehenes Wochenblatt herauszugeben, zweispaltig und mit zurückhaltenden Überschriften. Eine jener Zeitschriften sollte es sein, die zwar keineswegs übermäßig stark verbreitet sind, trotzdem aber die öffentliche Meinung beeinflussen und in der ganzen zivilisierten Welt das geschichtliche Geschehen der Gegenwart lenken. Was der Spectator, die Saturday Review, die Nation und der New Statesman waren und sind, sollte sie sein, und noch mehr. Mr. Parham und einige von ihm entdeckte und beeinflußte junge Leute sollten sie zum größten Teile schreiben. Das ganze Schauspiel des Lebens sollte sie kritisch betrachten, öffentliche Angelegenheiten, Gegenwartsprobleme, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Sie sollte für alles Verständnis zeigen, stets gute Ratschläge bereit haben, jedoch niemals von der hohen Warte ihres geistigen Ranges herabsteigen. Bald sollte sie kühn sein, bald würdig streng, bald freimütig, bei keinem Anlaß aber laut oder gemein. Als Herausgeber einer Zeitung hat man etwas vom Wesen Gottes an sich; man ist Gott mit einem einzigen Hemmnis: dem Zeitungsinhaber nämlich. Wenn man jedoch tüchtig ist, kann man Gott mit einem wohlausgearbeiteten Kontrakt sein. Und ohne Gottes Verantwortlichkeit für die Mängel und Fehler des Weltalls, das man betrachtet. Man kann lächeln und Witze reißen, was ihm verboten ist. Denn er würde in den Verdacht kommen, daß er sich die Anlässe zu seinen Scherzen absichtlich geschaffen habe.

»Glossen der Woche« zu schreiben, ist vielleicht eine der reinsten Freuden, die das Leben einem klugen und kultivierten Menschen bieten kann. Man muntert Nationen auf oder weist sie zurecht. Man zeigt, wie Rußland geirrt und Deutschland die Anregung, die man vorvorige Woche gab, sich zunutze gemacht hat. Man analysiert die Beweggründe der Staatsmänner und warnt Bankiers, ja selbst die Großen der Geschäftswelt! Man richtet Richter. Für die oft so törichte Schar der Schreibenden hat man ein Wort des freundlichen Lobes oder der milden Verachtung. Die Künstler bedenkt man mit Komplimenten, manchmal mit boshaften. Lärmende kleine Korrespondenten blicken zu einem empor, schreiben aufgebrachte Protestbriefe und bedürfen von Zeit zu Zeit eines freundlichen Tadels. Heute läßt man einen bisher Unbekannten zu Ruhm gelangen, morgen stürzt man eine anerkannte Größe. Man kritisiert jedermann und bleibt selbst von aller Kritik verschont. Man spricht aus einer Wolke, glorreich, mächtig, der Menge entrückt. Nur wenige Menschen sind dieser großen Aufgabe würdig, doch wußte Mr. Parham seit langem, daß er zu dieser auserwählten Minderheit zählte. Nur schwer hatte er sein Geheimnis gewahrt, hatte auf seine Zeitung gewartet wie einst Jungfrauen hinter klösterlichen Mauern, des Liebsten harrten. Und hier war nun endlich Sir Bussy, Sir Bussy, der kaum den Finger zu rühren brauchte, um Mr. Parham zu der ersehnten Versetzung unter die Götter zu verhelfen.

Er brauchte nur »ja« zu sagen. Mr. Parham wußte genau, wohin er sich zu wenden und was er zu tun hatte. Es war die große Gelegenheit für Sir Bussy. Er konnte einen Gott ins Leben rufen. Er selbst besaß weder die nötige Bildung noch überhaupt die Fähigkeit, ein Gott zu sein, aber er konnte einen Gott schaffen.

Sir Bussy hatte alles mögliche aufgekauft, das aufregende Erlebnis jedoch, eine Zeitung sein eigen zu nennen, war ihm bisher fremd geblieben. Es war Zeit, daß er es kennen lernte. Es war Zeit, daß er Macht, Einfluß und Wissen frisch von der Quelle zu kosten bekam. Von seiner eigenen Quelle.

Von solchen Gedanken erfüllt, hatte sich Mr. Parham zu seinem ersten Mittagessen im Marmion House begeben.

Er entdeckte, daß in diesem Marmion House ein sehr reges Leben herrschte. Sir Bussy hatte das Gebäude errichten lassen. Achtunddreißig Handelsgesellschaften hatten ihre Büros darin, und in dem breiten Torweg des Victoria-Street-Einganges geriet Mr. Parham in eine Schar eilfertiger Büroangestellter und Stenographen, die zum Essen weggingen. Ein vollgepfropfter Fahrstuhl setzte in jedem Stockwerk eine Anzahl von Passagieren ab; schließlich fuhr Mr. Parham mit dem Liftjungen allein nach dem Obergeschoß hinauf.

Es sollte nicht das nette kleine Tête-à-Tête werden, das Mr. Parham seit seinem telephonischen Anruf am Morgen erwartet hatte. In einem großen Eßzimmer mit einem langen Tische fand er Sir Bussy, umgeben von einer recht beträchtlichen Anzahl von Leuten, die ihn beim ersten Anblick Schmarotzer der schlimmsten Sorte dünkten. Später sollte er erfahren, daß zumindest etliche unter ihnen ganz achtbare Menschen waren und in dieser oder jener der achtunddreißig Handelsgesellschaften arbeiteten, die Sir Bussy ins Leben gerufen hatte; der erste Eindruck aber war ein anderer. Es war dazu Sir Bussys Linker eine Stenographin mit ernster, wachsamer Miene, die Mr. Parham für ihre Stellung viel zu würdevoll im Gehaben, dabei viel zu hübsch und zu gut gekleidet schien; ferner waren da zwei junge Damen mit überaus familiären Manieren, die Sir Bussy »lieber Bussy« nannten und Mr. Parham anstarrten, als ob er ein Ausländer wäre. Bei näherer Bekanntschaft erfuhr Mr. Parham, daß diese beiden jungen Mädchen Sir Bussys angeheiratete Lieblingsnichten waren – er hatte keine eigenen Kinder –; im Augenblicke aber dachte Mr. Parham das Allerschlimmste von ihnen. Sie waren geschminkt. Dann war da ein unendlich dicker und fröhlicher Mann in einem hellen Anzug, der eine einschmeichelnde Stimme hatte und Mr. Parham ganz unvermittelt fragte, ob seiner Meinung nach nicht etwas mit Westernhanger geschehen sollte, worauf er sich in ein unverständliches Wortgeplänkel mit einer der beiden Nichten einließ, während Mr. Parham darüber nachdachte, wer oder was Westernhanger wohl sein mochte. Überdies war da ein nachdenklicher kleiner Mann mit außerordentlich hoher Stirn: Sir Titus Knowles aus der Harley-Street, wie Mr. Parham erfuhr. Während des Essens wurde kein ernstes Gespräch geführt, man tauschte nur belanglose Bemerkungen aus. Ein ruhiger Mann, der zwischen Mr. Parham und Sir Bussy saß, fragte Mr. Parham, ob er nicht die meisten Gebäude der City abscheulich finde.

»Denken Sie einmal an New York«, sagte er.

Mr. Parham überlegte. »New York ist anders.«

Der ruhige Mann meinte nach einer Pause des Nachdenkens, das sei wohl wahr, trotzdem aber …

Sir Bussy hatte Mr. Parham mit dem ihm eigenen, flüchtig in seinem Gesichte aufleuchtenden Schimmer von Liebenswürdigkeit begrüßt und ihm gesagt, er möge sich irgendwo hinsetzen. Und nach einem dunklen Geschäker quer über den Tisch hin mit einem der hübschen geschminkten Mädchen über die Frage, ob sie in London »echtes Tennis« spielen könne, war der Gastgeber in nachdenkliches Stillschweigen versunken. Einmal sagte er aus keinem ersichtlichen Grunde »Nu!«

Das Mittagessen hatte nichts von der ruhigen Gemessenheit, die eine Tischgesellschaft im West-End auszuzeichnen pflegt. Drei oder vier junge Männer in weißen Leinenjacken bedienten flink, aber ohne irgendwelche Würde. Es gab Nierenragout und Roast-Beef, Sellerie in reichlichen Mengen nach amerikanischer Art, und auf einem Buffet standen verschiedene Sorten kalten Fleisches, ferner Obsttörtchen und Wein in Flaschen. Mehrere Glaskrüge auf dem Tisch enthielten eine Art Bowle. Mr. Parham dachte, einem schlichten Gelehrten und Gentleman gezieme es, die Weine des Plutokraten zu verachten und gewöhnliches Bier aus einem Deckelkruge zu trinken. Als das Mahl vorüber war, verschwand mehr als die Hälfte der Teilnehmer, darunter auch die hübsche Sekretärin, deren Gesicht Mr. Parham zu interessieren begonnen hatte; die übrigen folgten Sir Bussy in einen großen, niedrigen Raum, wo Zigarren und Zigaretten, sowie Kaffee und Liköre herumgereicht wurden.