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Buch lesen: «Der Tee der drei alten Damen», Seite 16

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3

O'Key lag im Bett und hatte sich vorgenommen, sogleich einzuschlafen. Er drehte sich gegen die Wand, schloß die Augen, rollte sich zusammen, steckte die zusammengelegten Hände zwischen die Schenkel und atmete tief. In der Ferne schlug eine Turmuhr. Das Fenster stand offen, aber die Luft im Zimmer war dick und behinderte das Atmen. O'Key wälzte sich auf die rechte Seite. Vor seinen geschlossenen Augen entstanden Bilder, vorüberhuschende Bilder: der Missionar mit dem wie aus Holz geschnitzten braunen Gesicht, der im Hause der Witwe Pochon verschwunden war. Er hörte sich zum Colonel sagen: »Ich glaube, es wird langsam klarer!« Das war renommiert, das war unanständig aufgeschnitten. O'Key seufzte und fühlte, wie er im Dunkeln rot wurde. Dann sprang das Bild auf seinen Lidern ins Dunkle, ein neues entstand. Er sah Madges Zimmer, sah den kleinen Nydecker an der Hand des gelben Oberwärters aus der Türe gehen, er sah Madges Verzweiflung nach der Mitteilung am Telephon. Abblenden. Neues Bild. Und dieses Bild war verzweifelt deutlich, obwohl oder besser, weil er es nie gesehen hatte. Er sah Madge in einem dunklen Zimmer, der junge Pochon, der aussah, wie seine Mutter aussehen würde, wenn sie eine Entfettungskur durchgemacht hätte. Jules Pochon hielt ein Bündel Drähte in der Hand, er hielt Madges Arm in der Linken, er stach zu, beschmierte die Stelle mit einem scharfen Öl… Madges Gesicht war leblos und bleich…

Mit einem Ruck warf O'Key die Decken zurück, stand auf, kleidete sich eiligst an. Da kam durchs Fenster das vielstimmige Schlagen der Turmuhren; sie schlugen die Stunde: O'Key zählte. Es war drei Uhr morgens.

Um drei Uhr morgens war kein Taxi aufzutreiben. Bis zur Villa des Mimosas war es weit. O'Key rechnete. Zu Fuß brauchte er etwa dreiviertel Stunden. Er beschloß, einen Dauerlauf zu probieren, und legte los. Seine langen Beine kamen ihm zustatten.

Als er am Hotel an der Route de Chêne vorbeitrabte, lag es still da. Aus der Ferne kam ein Surren näher. O'Key hoffte, das Surren kündige ein Taxi an. Aber es war ein Privatauto. Wieder, wie schon einmal in dieser Nacht, drückte sich O'Key in einen Hausgang. Der Morgen war nicht weit. Grau und glänzend war der Himmel, wie das Fell eines Apfelschimmels.

Aus dem Auto stieg – wahrhaftig, Kommissar Pillevuit entstieg dem Auto! Zwei Männer begleiteten ihn. Den einen kannte O'Key, es war Herr Dériaz, der so lange das Haus des Professors bewacht hatte; die verbeulten Hosenknie, die fettige Krawatte verrieten ihn. Einen Augenblick zögerte O'Key. Sollte er Pillevuit anrufen? O'Key beherrschte sich. Kommissar Pillevuit war ›Im Dienst‹ – ›dans l'exercice de ses fonctions‹ – besser, man ließ ihn in Frieden. Pillevuit läutete nicht, er probierte die Klinke der Haustür, das Tor ging auf. Pillevuit verschwand mit seinen Trabanten. O'Key setzte seinen Dauerlauf fort.

Still lag die Villa des Mimosas inmitten ihrer hohen Laubbäume. O'Key ging um das Haus, auf der Suche nach seinem Motorrad. So kam er auf die Hinterseite des Hauses. Inmitten des parkähnlichen Gartens war ein Stück Land freigelassen, als Garten angelegt. Stauden wuchsen da, vor jeder Staude steckte eine breite, gelbe Etikette im Boden. O'Key beugte sich nieder, um das Geschriebene darauf zu entziffern. Es waren merkwürdige, unbekannte Zeichen. O'Key schüttelte den Kopf. Wer war auf die ausgefallene Idee gekommen, Pflanzen in Geheimschrift anzuschreiben? Ein paar Stauden waren immerhin an den Blättern zu erkennen. Verschiedene Sorten von Akonit, von Eisenhut – ah, und da war Bilsenkraut. Dann kamen ausländische Pflanzen mit dicken, fettigen Blättern. Am Ende des Gartens, dort, wo schon wieder der Park mit seinen Bäumen begann, stand ein einstöckiges Haus, ein grauer Zementwürfel mit Flachdach. Keine Fenster. Als O'Key näher trat, bemerkte er, daß die einzige Öffnung des Baues eine Türe war, eine eiserne Türe. Zwei Yale-Schlösser sicherten sie.

»Jaja«, sagte O'Key ziemlich laut, so als hätte er hier eine Bestätigung seiner Vermutungen gefunden. Dann ging er zu der Villa zurück. Dort lehnte sein Motorrad. André hatte gut gearbeitet. Die Pneus waren hell. Sachte stieß O'Key das Rad vor sich her, saß auf, als er die Straße erreicht hatte. Der Motor benahm sich wie eine Schnellfeuerkanone. O'Key fuhr davon.

Etwa hundert Meter vor der Anstalt Bel-Air hielt O'Key an und führte sein Motorrad in ein Gebüsch. Dann ging er vorsichtig weiter, im Schutze einer Hecke, orientierte sich, ging um die Umfassungsmauer herum, kam auf ein freies Feld. Endlich erblickte er den Pavillon, in dem Madge wohnte. Leise schlich er näher, legte die Unterarme auf den Fenstersims – das Fenster war offen. Und während er noch überlegte, ob er rufen solle oder ohne weiteres eindringen, bewegten sich die Vorhänge, zwei braune Pfoten teilten sie, eine struppige Schnauze erschien, und Ronny wuffte leise.

»Hello, Ronny«, murmelte O'Key, »wieder zurück? Was macht die Meisterin?«

Ronny grunzte friedlich und nickte, legte die Schnauze auf O'Keys verschränkte Hände und blickte ruhig in die Augen des Freundes. »Kann man eintreten, Ronny?« fragte O'Key. Ronny verstand sehr gut. Er schenkte dem frischen Morgen noch einen sehnsüchtigen Blick (O'Key verstand den Hund gut, der wäre gerne auf einen Morgenausflug ausgerückt, aber er mußte die Meisterin bewachen, es war genug, daß er sie einmal verloren hatte), dann machte er Platz, und das Schütteln seines Hundehauptes sah aus wie eine Einladung zum Nähertreten. O'Key zog die Schuhe aus, stellte sie sanft auf den Boden des Zimmers, schwang sich auf den Sims und betrat vorsichtig das Zimmer.

Fräulein Dr. med. Madge Lemoyne sah gar nicht wie eine Ärztin aus. Sie lag da wie ein betrübtes kleines Mädchen, das sich in den Schlaf geweint hat. Ihre Wange lag auf den gefalteten Händen, die Decke hing schief vom niederen Bett herab, langsam rutschte sie auf den Boden. Auf den Zehenspitzen trat O'Key näher, sehr vorsichtig packte er die rutschende Decke und legte sie über die Schlafende. Dann, immer noch mit größter Vorsicht, packte er den Klubsessel, stellte ihn neben das Bett, ließ sich sachte hineingleiten und starrte dann auf die Schlafende.

Er vergaß alles. Er sah nur das Gesicht, das nicht schön war, aber das ihm gefiel. Seine Hand hob sich (er selbst wußte nichts davon), legte sich auf die kurzen Haare, die sich weich anfühlten, trotzdem sie wirr um den kleinen Kopf standen. Und er glättete sachte die Haare. Madge schlief weiter. Aber sie fühlte doch die Anwesenheit eines freundlich Gesinnten, denn ihre Lippen, die weinerlich verzogen waren, entspannten sich, öffneten sich ein wenig. Die Zähne zeigten sich breit, sehr weiß; Madge lächelte im Schlaf. Dann begann der Mund sich zu bewegen, er schien ein Wort bilden zu wollen. O'Key beugte sich vor und hörte deutlich: »Simp, dear Simp.«

Herzklopfen braucht nicht immer eine bedrückende, krankhafte Äußerung unserer Physis zu sein. Wenigstens stellte O'Key dies jetzt mit Erstaunen fest. Es war ihm selten passiert, an Herzklopfen zu leiden. Aber nun trommelte es dröhnend in seiner Brust, er fürchtete, es könne so laut tönen, daß die Schläferin von dem Geräusch erwachen würde. Darum beugte er sich vor und küßte Madge auf die Schläfe. Die Haut war weich, ein paar kurze Härchen kitzelten ihn an der Nase, er fuhr zurück, weil er spürte, daß sich ein Niesen meldete. Und obwohl er das Niesen unterdrückte, so gut er konnte, entstand doch ein so heftiger Knall, daß Madge die Augen aufschlug und sich erstaunt umsah. Es war kein Schrecken in ihrem Gesicht, und das, fand O'Key, war allerhand, nach allem, was sie wohl durchgemacht hatte. ›Sie hat meine Anwesenheit gespürt!‹ dachte er stolz. (Es ist merkwürdig, daß wir gerade auf solche unscheinbare Dinge stolz sind, zum Beispiel, daß Leute, die wir gerne haben, unsere Anwesenheit merken.)

»Ich hab gewußt, daß du kommen wirst, Simp«, sagte Madge leise. »Du bist zum Fenster hereingekrochen?« Sie lachte zufrieden, und O'Key war glücklich über das Lachen. »Setz dich daher, Simp«, sie klopfte mit der Hand auf den Bettrand. »So. Ich rutsche gegen die Wand. Hier hast du ein Kissen, da kannst du deinen Kopf dranlehnen. Und das kleine Kissen da leg ich auf deine Knie. Und du hältst mich fest und dann schlaf ich weiter.«

O'Key brachte seine langen Beine auf dem Bett unter. Er nahm einen Zipfel der Decke, um ihn über seine Füße zu breiten (es kam ein frischer Wind vom Fenster).

»Wie spät ist es, Simp?« fragte Madge, verschlafen, wie ein Kind. »Halb vier? Heut schlaf ich aus. Ich geh nicht zum Rapport. Ist Ronny da?« Ronny meldete sich, auch er durfte auf dem Bett Platz nehmen; er rollte sich zusammen, grunzte, schlief ein. Madge seufzte tief auf. Sie nahm O'Keys eine Hand, legte sie sich unter die Wange, die andere Hand legte sich von selbst auf Madges Kopf. »Gott, bin ich müde«, gähnte sie und streckte die Arme. Da fielen die Ärmel ihres Pyjamas zurück. In der linken Ellbogenbeuge war ein großer roter Fleck, der aussah wie eine beginnende Entzündung. Madge schien O'Keys Blick zu fühlen. Sie lächelte.

»Das hab ich schwer verdient«, sagte sie leise, »und das ist mein Orden. Ich bin sehr stolz darauf.«

»Aber«, sagte O'Key vorwurfsvoll, »warum hast du mir nichts gesagt, ich hätte dich begleiten können, du wärst doch nicht ohne Schutz gewesen.«

»Ach«, sagte Madge, »du warst so oft in Gefahr, du hast so viel erlebt. Ich hab dir nur zeigen wollen, daß auch ich tapfer bin.«

»Gute, kleine Frau«, sagte O'Key mit etwas heiserer Stimme.

»Sag, Simp, bist du auch oft auf den Bäumen gesessen, wie du klein warst? Weißt du, ich hab damals einen kleinen Freund gehabt, der sah aus wie du. Und den hab ich so gern gehabt wie…«

»Ja«, sagte O'Key schnell, er haßte Liebeserklärungen, »ja, ich bin immer auf die Bäume geklettert und dann dort hocken geblieben. Mein Onkel hat immer behauptet, ich sei ein Affe.«

»Vielleicht bist du einer«, sagte Madge müde. »Aber jetzt will ich schlafen. Weißt du«, und ein kleines Zittern war in ihrer Stimme, »weißt du, daß der arme Thévenoz wahrscheinlich tot ist?«

»Ich hab ihn sterben sehen…« sagte O'Key. »Der Professor war auch dabei.«

»Der arme Thévenoz, er war auch ein tapferer Kerl«, zwischen den geschlossenen Lidern sickerten Wassertropfen hervor. Madge suchte unter den Kissen verzweifelt nach ihrem Taschentuch, dann schneuzte sie sich geräuschvoll. Sie lag dann eine Weile ruhig, plötzlich sagte sie mit leiser Stimme:

»Du, Simp, ist das Meer schön? Ich mein' das Mittelmeer?«

»Ja, das ist schön. Besonders in der Nacht, wenn man mit den Fischern hinausfährt.«

»Nimmst du mich mit, wenn du dorthin zurückfährst?«

»Doch, ich werd dich schon mitnehmen.«

»Dann ist's ja gut. Du, wie kommt das, daß wir französisch zusammen reden… ?«

»Ach«, sagte O'Key, »weil es im Englischen kein ›Du‹ gibt.«

4

Baranoff, der Agent der Dritten Internationale, Nummer 72, erwachte durch ein Pochen an der Tür und war erstaunt, sich angekleidet in seinem Lehnstuhl sitzen zu finden. Durch die vorgezogenen Gardinen sickerte spärlich graues Licht. In diesem Licht nahm Baranoff (immer noch auf der zweiten Silbe betont) auf dem Tisch eine Flasche und zwei leere Gläser wahr. Auf der Etikette dieser Flasche las er, unter zwei Zeilen in Kleinschrift, die er nicht zu entziffern vermochte, groß das Wort ›Anisette‹. Mechanisch griff er in seine Tasche, zündete dann eine Zigarette mit Kartonmundstück an, aber während das Zündholz noch matt im Dämmerlicht leuchtete, wiederholte sich das Pochen an der Tür.

»Herein!« quäkte Baranoff.

»Wenn Sie nicht sofort öffnen, drücken wir die Türe ein«, sagte draußen drohend eine Stimme.

»Nanu!« meinte Baranoff gemütlich, plötzlich war er hell wach, die Situation war ihm nicht unbekannt. »Wer ist denn da?« Übrigens wußte er die Antwort genau.

»Polizei!« erwiderte die gleiche drohende Stimme.

»Sofort, sofort!« Die nun folgende Erinnerung, die wir ausführlich wiedergeben müssen, dauerte in Baranoffs Kopfe nicht länger als drei Sekunden, die dazu benützt wurden, den Zimmerschlüssel zu suchen. Und während er ihn suchte, sah er folgendes:

Am vorhergehenden Abend ißt er bei einem Italiener zu Nacht, ausgezeichnete Ravioli und Pepperonisalat, dazu trinkt er samtenen Barbera, vertilgt dann ein Stück Gorgonzola, genehmigt noch eine Flasche Barbera und steigt dann, gegen zehn Uhr, in ein Taxi, um heimzufahren. Er ist in glücklicher Stimmung, obwohl er eigentlich hätte erbost sein sollen, weil seine Sekretärin ihn im Stich gelassen hat. Das Taxi rumpelt, Baranoff hat sich in die abgeschabten Kissen zurückgelehnt und raucht eine Zigarre. Plötzlich, an einer Straßenecke, erspäht er einen Bekannten. Ein mageres Bürschchen, mit eingefallenem Brustkasten, und was hält das Bürschchen unter dem Arm? Eine Mappe. Das Bürschchen ist in ein Gespräch mit zwei Herren vertieft. Der eine der Herren hat jene bekannte rote Gesichtsfarbe, an die es unnötig ist, noch einmal zu erinnern, der andere ist hager, braun, mit einem Gesicht, wie aus Holz geschnitzt. Baranoff läßt zehn Meter hinter der Gruppe halten und beobachtet sie durch das Rückfenster. Die Herren scheinen das Auto erspäht zu haben, denn sie verabschieden sich von dem unheimlich mageren Jüngling, verabschieden sich kurz, ohne ihm die Hand zu geben. Das Bürschchen schlendert in der Richtung des haltenden Autos weiter. Und wie es neben der Türe des Taxis die Schritte verlangsamt, reißt Baranoff diese Türe auf, packt das Bürschchen an der Hand: »Du kommst mit mir!« faucht er bösartig. Das Bürschchen erschrickt und läßt sich ohne Widerstand in den Wagen pferchen. Dort schweigt es.

Vor dem Hotel an der Route de Chêne zahlt Baranoff das Taxi (gut, daß er noch genügend Kleingeld in der Westentasche hat, er darf den Jüngling nicht loslassen) und schleppt Jules Pochon, den Sohn der Haushälterin Professor Dominicés, mit sich die Stufen hinauf in sein Zimmer.

»Wo wollten Sie denn hin, mein Junge?« frägt Baranoff, nachdem er die Tür verschlossen hat, mit übler Herzlichkeit. Der Junge schweigt. Da nimmt ihm Baranoff die Mappe aus der Hand, legt sie auf den Tisch. »Woher hast du sie? Das ist doch Crawleys Mappe?«

Der Junge schweigt.

»Du willst mir nicht sagen, woher du sie hast? Aha, Sir Avindranath Eric Bose will Solo spielen? Das gibt's nicht. Warum hat er mir nicht mitgeteilt, daß die Mappe gefunden worden ist? Du willst nicht reden? Warte!«

Zuerst probiert es Baranoff mit Kognak und Selterswasser. Der Junge schweigt. Dann stopft er dem Jungen ein Taschentuch in den Mund, bindet ein anderes darüber (Herr Baranoff ist, auch wenn er sich in zivilisierten Ländern aufhält, in der Wahl seiner Mittel nicht sehr heikel), versucht es mit Fingerausrenken, mit Daumenumbiegen – der Junge schweigt. Zwar stehen einige Schweißtropfen auf seiner Stirn, aber immerhin weniger als auf der des Herrn Baranoff. »Woher hast du die Mappe?« frägt er immer wieder. Endlich gibt der Junge Zeichen, er wolle antworten. Herr Baranoff, Towarisch Baranoff sollten wir lieber sagen, zieht ein Schießeisen aus der Tasche, mit Schalldämpfer natürlich (man muß modern sein!): »Wenn du brüllst, schieß ich dich nieder. Du kennst mich doch. Du weißt, daß es mir Ernst ist. Erinnerst du dich noch der Prügel, die ich dir bei Eltester verabfolgt habe?«

Der Junge wird bleich, sein Gesicht drückt Haß aus. Dann sagt er leise:

»Die Mappe hab ich im Jardin Anglais gefunden. Ein Journalist hat mir zuvorkommen wollen, aber ich war schneller.«

»Aha«, sagt Baranoff, der stolz ist, O'Key aus dem Felde geschlagen zu haben. Er öffnet die Mappe, zieht die Papiere heraus. Alles bekannte Sachen. Halt, da ist ein gelbes Kuvert. Ein Vertragsentwurf mit der Sowjetdelegation über die Petroleumquellen. So froh ist Agent 72 über die Entdeckung dieses Dokumentes, daß er während des Lesens seine Lieblings-Melodienfolge pfeift: Wolgaschlepper – Valentine – Internationale. »Das kenn ich ja gar nicht, höchst wichtig, das muß versorgt werden. Aber vorerst, damit du dich von deinem Schrecken erholst und weil dir Kognak doch nicht schmeckt, hier…« Baranoff stellt eine Flasche Anisette auf den Tisch, füllt zwei Gläser. »Trink nur!« sagt er gnädig. »Ich will schnell das Dokument versorgen.« Er zieht unter seinem Bett eine Stahlkassette hervor, zieht aus der Hosentasche einen Schlüsselbund, der mit einer stählernen Kette am Hosenträger befestigt ist, schließt auf, versorgt das Kuvert. Dann dreht er sich um. Der Junge steht noch immer vor seinem vollen Glas. »Trink doch«, ermuntert Baranoff. Er stößt mit dem Jungen an, leert das Glas auf einen Zug. ›Merkwürdig‹, denkt er, ›wie stark diese Flasche nach Anis schmeckt. Aber gut ist es. Ich werde den Lieferanten fragen, ob er noch mehr derartige Flaschen auf Lager hat.‹ Ein bitterer Nachgeschmack, der nicht unangenehm ist, bleibt auf seiner Zunge, an seinem Gaumen haften. Dann setzt sich Baranoff in den Lehnstuhl und beginnt den Jungen auszufragen. Was die Mutter treibe. Ob Sir Bose, der Landespfleger, nicht auch die Mappe begehrt habe? Der Junge mault nur, seine Antworten sind wirklich nicht zu verstehen, dunkel kommt es Baranoff vor, als warte der Junge auf etwas. Worauf? Die Augen werden so schwer. Es ist viel Staub zwischen den Lidern und den Augäpfeln. Baranoff blinzelt. Er blinzelt stärker. Das Letzte, an das er sich erinnert, sind die farblosen Augen des Jungen, die lauernd auf ihn gerichtet sind. ›Albinoaugen‹, denkt Baranoff noch und sagt mit teigiger Zunge: »Die Mappe kannst du wieder mitnehmen.«

Diese Erinnerungen, nicht ganz so logisch geordnet, zogen durch Baranoffs Kopf, während er den Zimmerschlüssel suchte. »Ich find den Zimmerschlüssel nicht«, schrie er erbost. »Ich bin eingeschlossen. Holen Sie den Passepartout vom Wirt.«

Draußen entstand Geflüster.

»Gut!« hörte er wieder die Stimme. Dann Trappen. Baranoff ging im Zimmer auf und ab. Er roch an dem einen Glas, das noch auf dem Tisch stand. Der Anisgeruch war verteufelt stark. Er kostete den Tropfen, der noch auf dem Grund des Glases war.

»Somnifen! Natürlich! Was war ich doch für ein Schafskopf.« Darauf fluchte er auf Russisch, es klang wie ›Yoptoyoumatj‹, dann zog Agent 72 umständlich seinen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete seine Kassette: Das gelbe Kuvert, das er hineingelegt hatte, war verschwunden. Als er aber aufs Bett blickte, sah er, recht sichtbar auf das glatte Kopfkissen hingelegt – die Mappe.

Towarisch Baranoff war ein Philosoph. Er zuckte die Achseln. Verstecken hatte keinen Sinn. Übrigens klapperte schon ein Schlüssel im Schloß, die Tür ging auf, und mit wehendem Fahnenbart überschritt Pillevuit die Schwelle. Er sah sogleich die Mappe auf dem Bett, stürzte sich auf sie, blätterte die Dokumente durch, die sie enthielt.

»Im Namen des Gesetzes…«, sagte Kommissar Pillevuit.

»Machen Sie keine Geschichten!« unterbrach ihn Baranoff. »Ich weiß, wenn ich ein Spiel verloren habe. Ich komme schon mit.«

Die Zelle im Stadtgefängnis St. Antoine war hoch. Auch das Fenster war so hoch angebracht, daß man nicht ins Freie sehen konnte. Wie spät war es? Man hatte ihm seine Uhr genommen. So wartete Baranoff geduldig, bis die Kathedrale von St. Pierre die Stunde schlug. Zuerst fühlte sich das öde Glockenspiel verpflichtet, eine Melodie zu wimmern. Dann gab es vier tiefe Schläge. Zu früh, um nach dem Wärter zu klingeln. Baranoff wartete, er saß halb, halb lag er auf seiner Pritsche. Es war ungemütlich, ihn fröstelte im kühlen Morgen. Baranoff machte Bilanz: Sich an die Sowjetdelegation wenden? Unmöglich. Sie würde ihn desavouieren. Dumme Sache. Er war mit einer Mappe gefaßt worden, die einem Ermordeten gehörte. Was machte Natascha? Hatte Natascha ihn verraten? Nein! Dazu war die Frau zu dumm. Und jetzt? Adieu, Burgund, gutes Essen, Wein. Man mußte schauen, einen guten Advokaten aufzutreiben, der eine Entlassung gegen Kaution ermöglichen könnte. Er kannte niemanden. Als um sechs Uhr der Riegel knallte und ein alter Aufseher mit einem weißen Spitzbart die Gamelle mit Kaffee hereinschob, markierte Baranoff eine Ohnmacht.

Der Aufseher schien menschlich zu fühlen, er öffnete die Türe, kam näher, stützte den Towarisch Baranoff und ließ ihn das heiße Gesöff trinken, das sie hier Kaffee nannten. Baranoff stöhnte. Mit ersterbender Stimme verlangte er Papier und Feder. Er wolle an einen Advokaten schreiben. Ob der Herr Oberaufseher (Baranoff war nicht zum erstenmal in einem Gefängnis, er kannte die Eitelkeit der Menschen, die unter dem Gefängnispersonal noch größer ist als draußen), ob der Herr Oberaufseher ihm nicht einen guten Advokaten angeben könne?

Da sagte der alte Mann:

»Ich hab einen Sohn, der bei einem berühmten Advokaten Chauffeur ist. Ein guter Advokat, geschickt, ein wenig teuer…«

»Geld spielt keine Rolle«, sagte Towarisch Baranoff großartig. »Wenn er nur tüchtig ist…«

»Er hat schon viele Politische verteidigt…«, sagte der alte Mann.

»Wie heißt er denn? Und darf ich überhaupt schreiben?«

»Oh«, der alte Mann stellte die Gamelle ab, »Herr Untersuchungsrichter Despine ist nicht so. Natürlich gehen die Briefe durch die Zensur. Aber an Ihren Advokaten dürfen Sie natürlich schreiben.«

»Na, wie heißt denn der große Advokat?« fragte Baranoff ungeduldig.

»Wie er heißt?« wiederholte der alte Mann gedehnt. »Früher hieß er Isaak Rosenstock. Jetzt nennt er sich Rosène.«

»Und… hat… einen… Bruder… der Arzt ist?,« fragte Baranoff stockend.

»Ja, ich glaube… Was ist denn los?«

Baranoff fühlte einen leisen Schwindel, er legte sich aufs Bett zurück, schloß die Augen. Plötzlich reckte er sich auf.

»Ja«, sagte er energisch. »Maître Isaak Rosène wird gerade der sein, den ich brauchen kann. Wollen Sie den Brief in einer halben Stunde holen kommen?«

»Das ist zu früh«, der alte Wärter sprach gemütlich. »Vor neun Uhr ist Herr Despine nie hier, manchmal wird es auch halb zehn.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Baranoff würdevoll. »Aber, da ich mich selbst verköstigen darf, wünsche ich ein anständiges Frühstück: Butter, Käse, Konfitüre, zwei weiche Eier, ein Stück gebratenen Speck und eine halbe Flasche Macon. Verstanden?«

»Ich werde Ihnen Butter und Konfitüre bringen«, antwortete der Alte gemütlich. »Den Rest müssen Sie sich denken. Es ist ungesund, am Morgen so viel zu essen.«

Die Tür fiel zu. Baranoff fluchte…