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Buch lesen: «Der Tee der drei alten Damen», Seite 13

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5

Dann saßen die beiden auf einer Bank in der Promenade des Bastions. Die Abendsonne schien durch die Bäume, warm und geduldig, und beleuchtete die Gruppe der Reformatoren, die, an die lange gelbe Wand gestellt, sehnsüchtig und ewig versteint, auf das Exekutionspeloton zu warten schienen, das nie erschien.

Professor Dominicé legte seinen breitrandigen Hut neben sich, legte die Ellbogen auf die gespreizten Oberschenkel und faltete die Hände. Er nickte ein paarmal mit seinem mächtigen bärtigen Haupt und sagte dann:

»Es freut mich, daß ich dich getroffen habe, Jakob. Ich kenne dich nämlich schon lange. Gleich das erste Mal, als ich dich in meiner Vorlesung sah, habe ich nachgefragt, wer du bist. Dein Gesicht hat mir gefallen. Und du hast mich an jemanden erinnert, an jemanden, den ich gern mochte, und der gestorben ist. Heute ähnelst du ihm noch mehr. Vielleicht ist dein Anzug daran schuld. Er trug auch solche grauen Flanellanzüge, er trug auch seidene Hemden. Er ist an dem Abend von mir fortgegangen, jener, dem du gleichst, und ich habe ihn gewarnt. Ich habe ihm gesagt: ›Crawley, nehmen Sie sich in acht!‹ Aber er hat mich ausgelacht: ›Was denken Sie, Professor‹, hat er gesagt, ›eine unschuldige Einladung zum Tee. Zwei alte Damen! Vielleicht drei alte Damen! Und davor soll ich mich fürchten?‹ Weißt du, Jakob, ich bin ihm nachgegangen. Aber ich bin nicht mehr rüstig. Ich habe ihn aus den Augen verloren. Und dann, als ich zu dem Hause kam, worin ich ihn vermutete, war dort alles dunkel. Da bin ich weiterspaziert, den See entlang. Eine Barke zog dort vorüber, fort und fort, in die Menge der Sterne hinein, die im Wasser tanzten. Und dann lag Crawley auf jener Bank, Place du Molard, ein ungeschickter Polizist war um ihn beschäftigt, und ich erkannte den Jungen nimmer. Erst nachher, auf dem Nachhauseweg, fiel es mir ein: Das war ja Crawley! Tot, Jakob, er war tot. Und ich alter Mann war wieder allein. Wenn du wüßtest, was ich diesem Crawley alles zu verdanken habe! Ich will es dir einmal erzählen. Aber ich sehe, daß du mich etwas fragen willst. Los!«

»Wie war das mit den Fliegen, Professor?«

»Eine Gegenfrage zuerst, Jakob, hast du die Fliegen auch gesehen, bist du, noch besser gesagt, bist du auch gestochen worden?«

»Gesehen habe ich sie schon, aber merkwürdig undeutlich. Ich will sagen, ich hätte sie nicht auseinanderkennen können, nicht sagen, ob es Wespen oder Hummeln oder Bremen waren. Warten Sie, ich möchte es deutlicher sagen. Also, ich glaubte, verschiedene Arten von Summen auseinanderkennen zu können, das dumpfe Gebrumm der Hummeln, das wie fernes Glockenläuten tönt, das helle Weinen der Mücken dazwischen und das Pfurren der Bremen. Aber gesehen habe ich nur ein wirres Durcheinander, es wurde finster im Saal, gestochen bin ich nicht worden.«

»Sehr klar, Jakob, durchaus klar. Frag die andern alle. Gestochen ist keiner worden, das bin ich sicher, obwohl die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen ist, daß einige Leute geschwollene Gesichter bekommen werden, weil sie der festen Überzeugung sind, daß sie gestochen worden sind. Der Überzeugung, verstehst du? Sie haben den Glauben gehabt. Man könnte diese Leute auch Hysteriker nennen. Das ist aber nur ein Schlagwort. Menschen mit großer Einbildungskraft. Diese Menschen (und immer hat es solche, wenn eine Menschenmenge beisammen ist) wirken wie die Relais bei den Telegraphenlinien: sie fangen die Botschaften auf und geben sie verstärkt weiter. Es hat keine Fliegen gegeben, aber es war eine Person im Saal, die so stark das Bild eines Insektenschwarmes gedacht hat, daß sie fähig gewesen ist, es in den Gehirnen der Aufnahmefähigen zu erzeugen, und diese haben es dann weitergegeben und so die ganze Menge mit diesem Bild verseucht. Verstehst du? Ich kann dir versichern, ich habe nichts gesehen, aber gehört habe ich etwas, nämlich ein Gemurmel, das langsam den Klang von Fliegensummen angenommen hat. Und da wußte ich, was los war. Es ist nämlich nicht das erste Mal, daß ich einem solchen Experiment beigewohnt habe. Etwas Ähnliches habe ich vor Jahren erlebt mit einer Frau, mit der ich damals zusammenarbeitete. Aber ich habe nie darüber geschrieben, denn die Kollegen hätten mich ausgelacht.«

»Also eine Art Massensuggestion?« fragte Jakob und war stolz, sich so wissenschaftlich ausdrücken zu können. Aber er sollte enttäuscht werden, denn Professor Dominicé zuckte mit den Achseln.

»Fremdworte nützen in solchen Fällen nur wenig. Daß doch die Menschen immer meinen, eine Tatsache erklärt zu haben, wenn sie nur ein recht fremdartiges Wort dafür gefunden haben!«

Jakob schwieg. Leute gingen vorüber, manche grüßten den Professor mit einer Art demütiger Scheu, aber Dominicé blickte nicht auf. Er hielt den Blick auf den Kies zu seinen Füßen gesenkt, fuhr manchmal zerstreut durch sein weißes, noch sehr dichtes Haar. Plötzlich sagte er:

»Willst du heut abend bei mir bleiben, Jakob? Wir fahren dann zusammen zu deinem Bruder, um halb neun, nicht wahr? Du kannst doch bei mir bleiben? Weißt du, ich bin so allein. Daheim habe ich, glaube ich, noch ein paar Eier, die können wir uns kochen oder braten, aber Brot müssen wir mitnehmen und Käse, wenn du ihn magst. Mir macht Thévenoz Sorge, Jakob, und dann weißt du, der merkwürdige Giftpfeil. Es ist bald nicht mehr geheuer in unserer guten Stadt Genf. Und mir sind die Arme gebunden.«

»Aber Sie wollten doch vor einer großen Versammlung ein Schuldbekenntnis ablegen?« wagte Jakob zu fragen.

»Ich muß dir eine Illusion nehmen, Jakob. Mit dem Alter wird man nicht klüger, merk dir das, manchmal wird man dümmer. Aber was ist dumm? Vielleicht war es doch klug. Aber ich möchte doch wissen, was mit Thévenoz los ist.«

»Soll ich ihn suchen gehen, Professor?« fragte Jakob dienstbereit, obwohl er gar nicht wußte, wer dieser Thévenoz war. Da half ihm der Professor auf die Spur.

»Ich habe selber versucht, ihn im Spital zu erreichen, aber es hieß, er sei seit vier Tagen in den Ferien. Dann habe ich einen Spaziergang zu seiner Wohnung gemacht, aber dort war alles verschlossen.«

»Im Spital?« fragte Jakob, und eine dunkle Erinnerung stieg in ihm auf. »Arbeitet er mit meinem Bruder?«

»Richtig«, sagte Dominicé erlöst. »Dann wird dein Bruder, Wladimir heißt er doch, dann wird dein Bruder Wladimir uns heute abend wohl Auskunft geben können.«

Sie standen auf. Der Professor nahm wieder Jakobs Arm, stützte sich leicht darauf. So wanderten sie zusammen die Corraterie hinab durch die Rues Basses. Vor Dominicés Haus sah sich Jakob mißtrauisch um. An der Ecke stand ein Mann mit einem roten Schnurrbart unter einer stumpfen Nase, der mehr als verdächtig aussah. Als er aber nach einem kurzen Blick sich abwandte, schenkte ihm Jakob auch keine weitere Beachtung und ging mit dem Professor ins Haus.

Der Schlüssel zur Wohnungstür wollte nicht recht fassen, endlich, nach zwei oder drei Versuchen, ging die Türe auf. Im Arbeitszimmer herrschte große Unordnung, Schubladen standen offen, Papiere lagen umher. Dominicé begann zu lachen, es war ein tiefes gurgelndes Lachen, aber es klang befreit.

»Gefunden haben sie nichts, die Dummköpfe!« rief er fröhlich. Dann wurde er plötzlich ernst. Jakob hörte ihn murmeln: »Die Flasche, wo ist die Flasche?« Der Professor stöberte in der Küche nach, kopfschüttelnd kehrte er zurück. »Wenigstens«, sagte er, »wenigstens sind die Eier nicht zerbrochen. Komm, Jakob, wir wollen kochen gehen.« Sie teilten sich in die Arbeit, Jakob übernahm die Eier, der Professor den Tee. Dann saßen sie nebeneinander im Arbeitszimmer, Jakob strich Butterbrote, belegte sie mit Käse, der Professor kaute. Pünktlich um acht Uhr ging Jakob zum Telephon, bestellte ein Taxi, wandte sich dann an den Professor: »Ich habe noch jemanden eingeladen, für heute abend«, sagte er, »aber Sie müssen nicht erschrecken, Sie kennen die Frau.«

»Wer ist es?« fragte der Professor.

»Baranoffs Sekretärin.«

»Mein Gott«, sagte der Professor. Sonst nichts. Dann folgte er folgsam seinem jungen Freunde.

Als die beiden aus der Haustür traten, sah sich Jakob noch einmal mißtrauisch um. Der Mann mit dem Schnurrbart unter einer stumpfen Nase war verschwunden. Kommissar Pillevuit hatte Wort gehalten, aber Jakob konnte das nicht wissen.

Achtes Kapitel 

1

Als O'Key an diesem Abend ganz zufällig einen abgehetzten Ronny traf, mußte er zugeben, daß er ein wenig renommiert hatte mit seiner Behauptung, die Airedalesprache zu verstehen. Die Begegnung fand statt gegen viertel vor sieben Uhr auf der Straße, die von Vandœuvres über Sionnet nach Jussy führt. O'Key hatte die Universität verlassen, im Palais de Justice sein Motorrad geholt. Es blieben ihm noch mehr als zwei Stunden vor der Versammlung des »Kriegsrates« in der Villa des Mimosas, und er wollte die Zeit benützen, sich das Haus jenes George Whistler anzusehen, bei dem am Morgen eingebrochen worden war. Er sah es in der Ferne, am Ende einer langen Allee, verdunkelt von hohen Tannen, die es umgaben, und er überlegte gerade, ob er dem Maharaja einen Besuch abstatten sollte, als er durch ein lautes Gebell abgelenkt wurde.

Quer über ein Feld, in dem der Klee ziemlich hoch stand, sprang etwas gegen die Straße zu. Es glich einem braun und schwarz gesprenkelten Fisch, der in einem grünen Meer Freudentänze aufführt. Aber dann war es Ronny, der rund um das Motorrad kläffend tanzte, mit seinen Pfoten auf O'Keys Overall einen Trommelwirbel schlug, kurz, sich ganz verrückt gebärdete. O'Key wußte nicht, war es Freude, war es Angst, die den Hund so außer Rand und Band brachte. Er versuchte zu fragen, wo denn die Meisterin sei, ob sie etwa mit ihrem Wagen hier herausgefahren sei? Ronny wuffte, erzählte eine lange Geschichte… und da war es, daß O'Key bedauerte, die Airedalesprache nicht besser studiert zu haben.

Besonders aber war es ein Gedanke, der O'Key davon abhielt, sich um Madge Lemoyne zu kümmern. Ihn plagte nämlich plötzlich der Verdacht, daß Madge sich mit ihrem früheren Freunde, mit Dr. Thévenoz, hätte treffen können. Das würde einiges erklären: ihr merkwürdig überhebliches Wesen heute morgen, als er ihr von seinen Sorgen gesprochen hatte, ihr kühler Abschied, als sie sich zu dem sterbenden Nydecker begeben hatte, und dann: was hatte Madge die letzten Tage getan? Thévenoz hatte doch Ferien genommen? Hatten sie sich getroffen? O'Key war unruhig. Er merkte wohl, daß Ronny ihn irgendwohin führen wollte, ihn sanft an der Hose packte und versuchte, ihn mit sich zu ziehen. Aber O'Key hatte keine Lust, hinter Madge her zu spionieren. Mochte sie tun, was sie für richtig fand. Er nahm den Hund, setzte ihn hinten auf den Soziussitz, saß auf, gab Gas, Ronny begriff augenblicklich, was von ihm verlangt wurde, und legte seine Vorderpfoten auf die Schultern des Mannes und seine Schnauze kitzelte O'Key am Ohr. So fuhren die beiden weiter nach Jussy, kehrten über Presinge zurück. Und dort, ein wenig außerhalb des Dorfes, ereignete sich ein kleiner Zwischenfall, der O'Key immerhin zu denken gab.

Sie fuhren an einem alten Hause vorbei, einem Landhaus in schönen Proportionen, wie sie zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts gebaut wurden; das Haus schien unbewohnt, die Fensterläden waren geschlossen, der Garten verwildert und ungepflegt. Als sie daran vorbeifuhren, wurde Ronny auf dem Hintersitz aufgeregt. Er bellte laut in O'Keys Ohr, kratzte mit seinen Pfoten auf den Schultern des Fahrers, nahm dann plötzlich einen Satz und sprang ab, im Fahren. Er überkugelte sich im Straßenschmutz (der Regenguß vom Nachmittag war noch nicht aufgetrocknet) und blieb dann stehen, um das geschlossene Haus gründlich und verärgert anzubellen. Er mochte wollen oder nicht, O'Key mußte halten, absteigen und dem Hunde folgen.

Er schritt ums Haus, gefolgt von Ronny, der ihm manchmal vorauslief, auf dem Boden schnupperte, leise klagend, dann wieder einen geschlossenen Laden lange anstarrte. O'Key rüttelte an der Klinke der Hintertür, aber sie war verschlossen. Das Haus lag tot da.

Da entschloß er sich endlich, weiterzufahren. Ronny schien sich beruhigt zu haben, denn er sprang ohne weiteres auf den Hintersitz und machte es sich dort wieder bequem. Als O'Key noch einmal zurücksah, fiel ihm plötzlich etwas auf, so daß er abstoppte, um seine Beobachtung zu kontrollieren. Er war, ohne sich dessen zu achten, von Jussy aus über Juvigny gefahren, hatte somit fast einen Kreis beschrieben. Und was er in der Ferne sah, vielleicht dreihundert Meter hinter dem verschlossenen Haus, war die Hinterfront des Landsitzes de la Rive, in dem jener George Whistler wohnen sollte.

»Wem gehört denn dieses verschlossene Haus?« fragte er einen vorübergehenden Arbeiter.

»Das gehört zum Gut der de la Rive«, antwortete der Mann.

»Und es wohnt jetzt niemand drin?« wollte O'Key noch wissen.

»Ja, wissen Sie«, sagte der Mann und benützte die Gelegenheit, sich eine Zigarette zu drehen, »vermietet ist es schon, das Haus. Aber die Leute kommen nur manchmal heraus. Besonders am Abend. Dann merkt man aber nicht viel von ihnen. Sie müssen viel Gäste haben, es kommen allerlei Herrschaften, in Autos, auf Rädern, zu Fuß. Aber die Läden bleiben geschlossen. Manchmal hört man ein wenig Musik, eine Geige und ein Harmonium. Auch Grammophon hört man. Und am nächsten Tag ist das Haus wieder still und leer. Wir haben uns schon oft gewundert. Aber die Leute bleiben für sich, da geht uns das Ganze wohl nicht viel an. Wissen Sie, wir hier auf dem Dorfe, wir klatschen schon gerne, aber…«

»Danke«, sagte O'Key und gab wieder Gas. Im Fahren schüttelte er den Kopf. Gab der Maharaja in dem kleinen Haus intime Feste? Oder hatte das Haus mit den Bewohnern des De la Rive-Gutes nichts zu tun? Warum hatte Ronny ihn auf das Haus aufmerksam gemacht? War Madge darin gewesen? Wenn sie jetzt noch dort war, so hätte Ronny sicher aufgeregter getan und sich nicht so schnell beruhigt.

›Ah, bah‹, dachte O'Key, ›ich werde sie heute abend fragen, was sie in Presinge zu tun hatte. Vielleicht antwortet sie mir. Möglich, daß sie Ronny abgeschoben hat, weil sie mit Thévenoz allein sein wollte. Ronny konnte Thévenoz nicht ausstehen, hat sie mir einmal erzählt. Ja, Ronny ist ein Hund mit Menschenkenntnis.‹ Und er gab der Hundeschnauze neben seinem Ohr kleine zärtliche Kopfstöße, und Ronny quittierte sie mit einem leisen, begeisterten Quietschen. Die beiden verstanden sich gut.

2

Isaak Rosène, der Advokat, war blond. Er saß im großen Speisezimmer seiner Villa, leicht zurückgelehnt, ein weißes Seidentuch hing aus der Brusttasche seines dunkelblauen Rockes, er duftete sanft nach Lavendelwasser und englischen Zigaretten und stach eigentlich ziemlich von seinem Bruder Wladimir ab, dem Arzt, der neben ihm saß, zusammengesunken, in einem grauen Konfektionskleid, die Unterarme auf dem Tisch verschränkt.

»Maman Angèle«, sagte Isaak, nahm den randlosen Kneifer vom Nasensattel und ließ ihn am Bügel um den kleinen Finger kreisen, »wir bekommen Besuch. Du mußt dann auch dabei sein. Macht recht viel schwarzen Kaffee, sag André, er soll die Schnäpse herausstellen, oder nein, warte, schick mir André lieber herein, ich will selber mit ihm sprechen.«

Maman Angèle war klein und trug ein schwarzes, rauschendes Seidenkleid. Wenn sie kochen mußte, zog sie darüber eine große weiße Ärmelschürze, die ihr Wladimir einmal geschenkt hatte. Sie brummte ein wenig, ging aber schließlich doch den Chauffeur und Kammerdiener André holen. Diesem gab dann Isaak seine Aufträge.

»Ja, stell dir vor«, wandte er sich dann an seinen Bruder, »ich bin wie aus den Wolken gefallen. Zuerst bittet mich Jakob, ich solle mich doch des Professors annehmen, und dann telephoniert mir irgendein englischer Journalist in der gleichen Sache, und da habe ich mir gedacht, ich bringe all diese Leute bei mir zusammen, da kann man dann in Ruhe darüber reden. Übrigens, erinnerst du dich noch jener Erpressungsgeschichte, vor – wart einmal, vor fünf, nein sechs Jahren, in der diese Frau de Morsier eine so merkwürdige Rolle gespielt hat?«

»Mhm«, nickte Wladimir und zog an einer dicken Zigarre, die er wie ein amerikanischer Börsenmann im Mundwinkel hielt.

»Es würde mich gar nicht wundern«, sagte Isaak, »wenn wieder diese Frau auftauchen würde. Ich habe noch zur Sicherheit Martinet angeläutet, heut nachmittag. Der hat sich natürlich wieder in die dunklen Wolken seiner Rhetorik gehüllt, aber so viel hab ich doch begriffen, daß der Professor ziemlich kompromittiert ist, daß aber die Behörde nicht wünscht, daß er in diese Mordsachen hineingezogen wird. Zwei Mordsachen, nicht wahr, Wladimir? Und du warst bei beiden handelnder oder sagen wir lieber behandelnder Zuschauer.«

»Mhm«, sagte Wladimir.

»Was hast du heute abend? Kannst du deinen Mund nicht auftun? Meinst du, ich hätte in unserer Familie die Redefähigkeit allein gepachtet? Ja oder nein? Warst du dabei?«

»Mhm«, dann räusperte sich Wladimir und bequemte sich zu einer Antwort. »Eigentlich weiß Thévenoz besser Bescheid, ich bin ja nur ein kleiner Assistenzarzt, während Thévenoz die Aufsicht hat. Ich hab eigentlich wenig mit den Sachen zu tun gehabt.«

»Ein englischer Sekretär ist vergiftet worden? Nicht wahr? Und ist euch unter den Händen gestorben, als es ihm schon besser ging? Und dann hat ein Apotheker daran glauben müssen, der ohnehin diverse dunkle Sachen auf dem Gewissen hatte? Ist es nicht so? Warum hast du nicht Thévenoz mitgebracht, wenn der doch besser Bescheid weiß als du?«

»Thévenoz ist verschwunden. Er ist vor vier Tagen in die Ferien und ich muß seine Abteilung betreuen«, sagte Wladimir. Er zog eine Grimasse. »Ich hab ein paarmal versucht, ihn zu erreichen, telephonisch natürlich, aber er ist nicht in seiner Wohnung. Vielleicht ist er verreist. Soll ich meines Arztes Hüter sein?«

»Bitte, keine Parodien«, sagte Isaak streng.

Es klopfte. André öffnete die Tür und ließ O'Key ein. Isaak stand auf und ging ihm entgegen.

»Es freut mich«, sagte er, »Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie sind mir heut nachmittag noch warm empfohlen worden. Hoffentlich kommen wir zusammen zu einer günstigen Entscheidung.«

O'Key verbeugte sich, nahm Platz, nachdem er auch Wladimir die Hand geschüttelt hatte.

»Ich dachte«, sagte Isaak, »Sie würden den Professor mitbringen?«

»Das hat Ihr junger Bruder übernommen«, antwortete O'Key. »Wir waren heute beide in der letzten Vorlesung unseres Professors, und ich habe Jakob gebeten, sich des alten Herrn anzunehmen. Ich denke, er wird ihn bald herbringen. Übrigens hat es merkwürdige Zwischenfälle gegeben in dieser Vorlesung.

»Welche?«

»Fliegenschwärme«, sagte O'Key, »Fliegenschwärme und eine klingende Münze und einen höchst modern konstruierten Giftpfeil.« Und er erzählte kurz die Vorkommnisse.

»Na«, meinte der Advokat, »wir werden heute mindestens zwei Giftkenner bei uns begrüßen können. Mein Bruder hier«, er wies auf Wladimir, der dabei errötete wie ein belobter Schuljunge, »interessiert sich nämlich auch gewaltig für Gifte. Er hat sich in einem einsamen Gartenhaus ein Laboratorium eingerichtet und kocht und braut dort Giftpflanzen. Auch einen Garten hat er sich angelegt. Erzähl mal dem Herrn da, was du alles kultivierst.«

Aber Wladimir brummte nur verlegen etwas von »kleinen Versuchen« und »nicht allzugroße Bedeutung«.

»Tu doch nicht so bescheiden«, sagte Isaak, »er ist nämlich schüchtern wie ein kleines Mädchen, wenn man auf sein Steckenpferd zu sprechen kommt. Du hast mir doch einmal von einem Hexenrezept vorgeschwärmt und mir geklagt, du hättest niemanden, an dem du es ausprobieren könntest.«

»Ach, red' doch nicht so viel«, protestierte Wladimir ärgerlich, »das war doch nur ein Witz. Gewissermaßen ein psychologischer Witz.«

»Na, wenn du nicht reden willst…«, sagte der Advokat, »dann laß es bleiben.« O'Key blickte eine Weile schweigend auf den kleinen, rundlichen Assistenzarzt, schüttelte dann, in Gedanken versunken, den Kopf. ›Das ist eben immer so‹, dachte er bei sich, ›in derartigen Affären tauchen von Zeit zu Zeit scheinbar neue Spuren auf, die zu nichts führen. Dieser fette Mann da? Der ist nur verlegen, weil ihn der Bruder wie einen Schulbuben lobt. Komische Leute, diese beiden.‹

Da klopfte es wieder, und herein schritt Professor Dominicé in seinem langen grauen Gehrock, die Plastronkrawatte mit einer Perle verziert. Zwei Gestalten waren hinter ihm sichtbar, die an der Türe stehen blieben, während Dominicé mit raschen Schritten das Zimmer durchquerte. Die drei am abgeräumten Speisetisch standen auf.

»Sehr erfreut, Sie zu sehen, mein lieber Journalist, Sie haben uns heut nachmittag ein wenig plötzlich verlassen, aber das schadet nichts. Sie scheinen so besorgt um mein Wohlergehen zu sein, daß ich mich eigentlich bei Ihnen entschuldigen sollte. Einmal habe ich Ihnen nicht gerade sanftmütig geantwortet. Wissen Sie noch?«

O'Key nickte schweigend, während er dem Professor die Hand schüttelte. Dann machte er sich los und ging auf Natascha zu. »Haben Sie sich auf unsere Seite geschlagen, Fräulein Kuligin?« Und er lächelte sie an. »Was macht Zweiundsiebzig?«

»Was?« fragte Jakob, und vor Erstaunen blieb ihm der Mund offen, was einen törichten Eindruck machte, »was, ihr kennt euch?«

»Natürlich kennen wir uns«, sagte Natascha ungeduldig, und sie gab O'Key die Hand. »Wir haben oft miteinander zu tun gehabt.« O'Key lachte. »Zu tun gehabt ist hübsch gesagt«, meinte er. Da unterbrach der Professor die Begrüßung.

»Ich wollte meinen Augen nicht trauen«, sagte er, »als mein junger Freund Jakob mich zwang, Fräulein Kuligin abzuholen. Aber als sie dann zu uns in den Wagen stieg, haben wir Frieden geschlossen. Nicht wahr? Fräulein Kuligin hat einmal bei meiner Folterung als Folterknecht assistiert. Aber ihr gutes Herz ist mit ihr durchgegangen und sie hat sich dann fast wie eine Krankenschwester benommen. Nicht wahr, Mademoiselle?«

Natascha hatte ihre Sicherheit wiedererlangt, da hörte man des Advokaten Stimme aus dem Hintergrund:

»Du bist unhöflich, Jakob, du solltest mich wenigstens deiner Freundin vorstellen. Wer oder was ist sie?«

Jakob wurde rot, aber Natascha befreite ihn aus seiner Verlegenheit. Sie schritt auf den Advokaten zu und sagte mit einem Lächeln, das sehr angenehm wirkte:

»Ich hoffe, Ihr politischer Horizont ist nicht zu eng, und Sie werden eine Kommunistin bei sich begrüßen können.«

Isaak lächelte ebenfalls, schüttelte die dargebotene Hand und erwiderte:

»Wenn Sie auf seiten unseres Professors stehen, sind Sie mir natürlich willkommen. Übrigens sind politische Ansichten wohl nicht so wichtig. Hauptsache ist, daß man sich auf einer menschlichen Basis verständigen kann.«

»Ist Fräulein Lemoyne noch nicht gekommen?« erkundigte sich O'Key, und seine Stimme klang sorgenvoll.

»Nein«, sagte der Advokat, lud mit einer Handbewegung die anderen zum Sitzen ein und nahm selbst oben am Tisch Platz. Man merkte, daß er schon oft Sitzungen präsidiert hatte, und war schweigend damit einverstanden, daß er den Rat leitete.

»Fräulein Lemoyne wäre uns nützlich gewesen«, sagte O'Key noch, aber der Advokat zuckte nur bedauernd die Schultern:

»Dann werden wir uns ohne sie behelfen müssen, aber vielleicht kommt sie noch«, fügte er tröstend hinzu.

Es kratzte an der Türe, ein Winseln ertönte, Ronny begehrte Einlaß. Aber bevor noch einer der Anwesenden aufgestanden war, um den Hund einzulassen, ging die Türe auf, Maman Angèle erschien auf der Schwelle, und neben ihr drängte sich Ronny durch. Gesittet, wie es seine Art war, wenn er sich in Gesellschaft befand, schritt er auf den Professor zu, ließ sich die Pfote schütteln und legte sich zu den Füßen des alten Herrn. Um die anderen Anwesenden kümmerte er sich nicht.

»Professor«, begann der Advokat, »Sie sind in Gefahr, das wissen Sie. Abgesehen von der Verhaftung, die ein tatendurstiger Staatsanwalt gegen Sie durchsetzen will, sind Sie, wie mir scheint, noch von anderen Feinden bedroht. Das scheint mir wenigstens aus dem Bericht hervorzugehen, den Herr O'Key uns vor Ihrem Erscheinen abgelegt hat. Wäre es da nicht gescheiter, Sie würden uns ganz einfach und sachlich etwas von jenen Leuten mitteilen, die, ob mit Recht oder mit Unrecht, Sie aus dem Wege schaffen möchten.«

Dominicé schwieg. Er hatte die Blicke auf seine gefalteten Hände gesenkt, die auf der Tischplatte lagen, und blieb reglos in dieser Stellung sitzen, als sei er erstarrt.

Isaak bohrte weiter. Der Professor müsse doch zugeben, fuhr er fort, daß die ganze Situation unhaltbar geworden sei. Er, Isaak, sei überzeugt, daß sich der Professor nichts habe zuschulden kommen lassen, nichts, was mit dem Ehrbegriff unvereinbar sei, daß es sicher, wenn der Professor nur sprechen und erklären wolle, einen Ausweg aus der Situation geben müsse. Aber es sei nichts zu machen, solange sich der Professor in Schweigen hülle. Dann wartete der Advokat wieder eine geraume Weile. O'Key, der dem Professor gegenübersaß, schien es plötzlich, als beobachte Dominicé hinter den gesenkten Lidern den Assistenzarzt Wladimir Rosenstock, der neben ihm saß, zwischen ihm, dem Professor, und dem Advokaten. Aber es war vielleicht nur eine Täuschung.

»Darf ich Fragen stellen?« fragte Isaak plötzlich scharf. »Wir kommen sonst nicht weiter.«

»Bitte«, sagte der Professor.

»Ich habe auf einem Umweg erfahren, daß Sie eine Zeitlang in sehr unsicheren finanziellen Verhältnissen gewesen sind, daß man diese Tatsache benützt hat, um einen Druck auf Sie auszuüben, daß es Ihnen aber gelungen ist, diesen Druck, diese Erpressung, wenn Sie lieber wollen, abzuschütteln; nun möchte ich gerne wissen, wer Ihnen die Möglichkeit gegeben hat, sich von Ihren Verpflichtungen zu befreien.«

»Gut«, sagte der Professor und hob den Blick, ließ ihn einen Augenblick auf Natascha ruhen, lächelte ihr zu und drohte ihr mit dem Finger. »Fräulein Kuligina hat also nicht dicht gehalten. Sehen Sie, ich habe es mir ja immer gedacht, Sie haben im Grunde gar kein Talent zur Spionin. Eine Spionin sollte kein Erbarmen kennen, besonders wenn Sie aus Überzeugung handelt. Dies alles sage ich nur«, wandte sich der Professor an Isaak, »weil ich kein Freund des unbestimmten ›man‹ bin. ›Man‹ ist in diesem Falle ein gewisser Baranoff, der mir in einem denkwürdigen Gespräch nahegelegt hat, für ihn zu arbeiten: er meinte damit, wie Sie vielleicht schon wissen, ich solle den Sekretär von Sir Bose, der sich für meine Arbeiten interessierte, so beschäftigen, daß er seine Diktate einem harmlosen Menschen, einem gewissen Nydecker, zum Abschreiben übergeben würde. Ich muß gestehen, daß ich bezweifelte, daß sich dies bewerkstelligen lassen würde. Aber merkwürdigerweise ging es. Crawley wurde also mein Sekretär, und ich wurde dafür bezahlt. Ganz begriffen habe ich diese Sache nie, und Crawley sprach auch nur selten von dieser Sache.«

»Ich hatte eine große Arbeit unternommen, über den Einfluß der Gifte auf die Veränderung der menschlichen Seele, und hatte darum keine Zeit, mich mit Politik zu beschäftigen. Hauptsache war, daß ich nun in Ruhe arbeiten konnte, ohne Sorgen, meine Schulden hatte ich bezahlt, was wollte ich mehr. Dies ging eine Zeit so fort, bis ich eines schönen Tages einen Besuch erhielt.«

Der Professor machte eine Pause und sah die Anwesenden der Reihe nach an. O'Key hörte mit starrem Gesicht zu, Natascha schien sich zu langweilen, sie saß neben dem jungen Jakob Rosenstock. Wladimir, der Assistenzarzt, saugte stumm an seiner ausgegangenen Zigarre und hatte seine Augen unter den schweren Lidern verborgen.

»Bis ich eines schönen Tages einen Besuch erhielt. Das war acht Tage vor Crawleys Tod. Da läutete es, meine Haushälterin war, wie gewohnt in der letzten Zeit, nicht da und ich ging öffnen. Ein junger Mann stand vor mir, seine Gesichtshaut war sehr weiß, das fiel am meisten auf, die Züge waren regelmäßig. Ich bat ihn, näherzutreten. Er nahm mir gegenüber Platz, es war tiefer Nachmittag, aber obwohl es draußen noch hell war, hatte ich doch die Läden geschlossen. Sie kennen ja meine Gewohnheiten…«, er sah abwechselnd O'Key und Natascha an. Die beiden nickten. »Er nahm mir gegenüber Platz, ich saß im Schatten und sein Gesicht war hell beleuchtet von meiner Schreibtischlampe.«

Im Nebenzimmer schrillte eine Klingel. Der Advokat verzog verärgert das Gesicht, da stand schon Wladimir auf, ging mit seinen merkwürdig schleifenden Schritten auf die Türe des Nebenzimmers zu, indem er sagte: »Es ist wahrscheinlich für mich. Ich hab einen schweren Fall, im Spital, Lungenembolie, eigentlich hätte ich gar nicht kommen dürfen, aber…«, da unterbrach ihn ein erneutes Schrillen, er schloß die Türe hinter sich, O'Key versuchte, die gedämpften Worte des Arztes zu erhaschen, aber es waren nur einsilbige Ausrufe. Dann hörte er das klickende Einhängen des Hörers, Wladimir kehrte zurück , irgend etwas fiel O'Key an ihm auf, etwas ganz Nebensächliches, er hätte selbst nicht sagen können, was es war, er hatte auch keine Zeit dazu, denn Wladimir entschuldigte sich höflich: Er könne leider nicht länger verweilen, übrigens sei seine Anwesenheit ja nicht von großer Wichtigkeit, er müsse nun doch ins Spital. Er schüttelte Hände und verschwand schleifend. Ronny knurrte ihm nach.

»Ja, wo war ich?« fragte der Professor. »Bei meinem Besuch, nicht wahr? Er stellte sich vor als George Whistler. Wie soll ich ihn beschreiben? Ich habe schon gesagt, daß seine Gesichtshaut sehr weiß aussah, nicht bleich etwa, nein, weiß – wissen Sie, auf einer Reise in Marokko habe ich einmal den Scheich eines Berberstammes kennengelernt, der hatte die gleiche Hautfarbe. Und das war merkwürdig, denn der Mann brachte doch den ganzen Tag an der Sonne zu und war weiß geblieben. Übrigens hatte dieser Whistler, wie ich ihn damals nannte, auch sonderbar blasse Augen, aber dazu standen die Haare im Widerspruch, die waren bläulich schwarz. Merkwürdige Kombination. Es mußte etwas mit der Pigmentierung bei diesem Manne nicht in Ordnung sein.«