Buch lesen: «Initiation», Seite 3

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Neue Perspektiven

In der Versuchung Jesu führt auch der Teufel Jesus auf einen hohen Berg und „zeigt ihm in einem Augenblick alle Reiche der Erde“ (Lk 4,5). Ein physischer Berg wurde in jenem Moment zu einem Ort der Offenbarung, zum Gipfel, von dem aus die ganze Erde gesehen wird. Physikalisch ist das nicht möglich, aber geistlich schon.

Dies ist das Kennzeichen des Berges: Dort erhält man den Weitblick, den Überblick und den Einblick in die Welt, die sich vor einem ausbreitet. Diese Art der Offenbarung erlebten und bezeichneten Menschen aller Zeiten und Kulturen als eine „Erleuchtung“.

Wie die Anfechtung Jesu zeigt, bergen große Erleuchtungen jedoch auch ihre speziellen Risiken in sich. Wie das Gesehene interpretiert und welche Konsequenzen daraus gezogen werden, das ist die Frage. Es kann zu einer Versuchung werden und schon manche Menschen haben sich über andere erhoben und aufgrund hoher Offenbarungen eine Menge angemaßt. Wie selbstlos Jesus dieser Versuchung begegnete, sollte für uns alle das Vorbild sein!

Wir kennen das bekannte Beispiel von Mose (2 Mose 24), der auf den Berg Sinai stieg, auf welchen Gott im Feuer und in einer Wolke herniedergekommen war, um dort die Gesetzestafeln zu empfangen. Aber nicht nur das, er empfing auch eine Vision des himmlischen Heiligtums, entsprechend dem er hinterher die Stiftshütte unten im Tal bauen ließ (2 Mose 25,40; Hebr 8,5). Ein wichtiger Hinweis für uns, denn immer geht es darum, das Himmlische, das wir auf dem Berg schauen, hinunter ins Tal (in die Welt) zu bringen, um es dort zu realisieren. Eine Lebensaufgabe!

Wir haben von dem Propheten Elia gehört, wie er vor der eigenmächtigen Königin Isebel in die Wüste floh und an den Berg Gottes, den Horeb kam (1 Kön 19). Die Auseinandersetzung zuvor mit den Baalspriestern, wo das Feuer Gottes vom Himmel gefallen war, hatte ebenfalls auf einem berühmten Berg, dem Karmel, stattgefunden.

Elia war nach der Drohung Isebels, ihn umzubringen, in die Wüste geflohen, wollte nicht mehr leben, konnte nicht mehr weiter und fiel in eine handfeste Depression. Aber dann brachten ihm Engel Brot und Wasser – und in der Kraft dieser Speise vom Himmel ging er 40 Tage lang durch die Wüste bis zum Berg Gottes, dem Horeb. Dort befreite Gott ihn von dem Karmel-Erlebnis, denn Elia definierte sich und sein Leben bereits über diese Episode (1 Kön 19,10). Eine wichtige Berglektion!

Worüber wir uns definieren, das beherrscht unser Leben –das bestimmt uns. Gott löst uns auf seinem Berg von falschen Identifikationen und Identitäten. Er hilft uns loszulassen, bis wir wieder wir selber sind und er uns zeigen kann, was wirklich Sache ist. Dabei geht es nicht nur darum, Schlechtes und Traumatisches loszuwerden, sondern alles – auch das Gute.

Ich las einmal den Spruch: „Mancher will dafür, dass er einen Tag lang gut gewesen ist, sein ganzes Leben hindurch belobigt werden.“ Man kann an etwas Gutes ebenso gebunden sein wie an etwas Negatives. Jesu will aber, dass wir an IHN gebunden sind und nicht bei irgendetwas stehen bleiben und uns daran verlieren.

Die Versuchung, bei etwas Gutem und Großem, bei Erfolgen und Segnungen hängenzubleiben und uns damit zu identifizieren, kann ungleich größer sein als die Versuchung, an negativen Erfahrungen zu kleben, als wären sie unser Leben. Elia musste beides ablegen: sowohl den Sieg als auch die Niederlage.

Damit wir aus der Illusion in die Wirklichkeit gelangen, zieht Gott auch uns Christen heute, genau wie Elia damals, ab und zu aus dem Verkehr und lässt uns erkennen, wie depressiv und müde wir eigentlich geworden sind, wie fremdbestimmt und verloren an allerlei anderes als an Jesus. Und er gewährt uns eine Handvoll Manna und einen Schluck heiliges Wasser vom Himmel, damit wir den Weg durch die Wüste bis zu seinem heiligen Berg gehen können, wo er uns wieder zu uns selbst bringt – und zu sich selbst. Wo er uns abnehmen kann, was wir uns aufgeladen haben und was gar nicht unsere Aufgabe ist, es zu tragen. Wo er uns im Gegenzug wieder daran erinnern kann, was die eigentliche „Last“ ist, die uns mit uns selbst und unserer Bestimmung gegeben ist. Er wird uns zurück in die Wirklichkeit holen, zurück in die Wahrheit, zurück ins Leben. Er wird uns erneuern und daran erinnern, wozu er uns berufen hat, und dann den Weg wieder hinunter ins Tal zurück in die Welt schicken.

Meine Überzeugung ist: Wir brauchen heute wie damals dieses ganze Programm. Immer wieder. Dafür sind uns Geschichten wie die von Elia und Mose überliefert. Sonst verbeißen und verkämpfen wir uns an einer Stelle und bleiben beherrscht von einer einzelnen Situation – ob gut oder ob schlecht –, die uns nicht loslässt und anfängt zu bestimmen, wie wir denken und fühlen und wer wir meinen, dass wir sind. Schließlich bleiben wir erschöpft liegen und kommen aus der Wiederholungsschleife des Traumas nicht wieder heraus.

Der Berg Gottes hat therapeutische Dimensionen.

Auch von Jesus heißt es, dass er sich in die Berge und an einsame Orte zurückzog:

Da nun Jesus erkannte, dass sie kommen und ihn ergreifen wollten, um ihn zum König zu machen, zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein (Joh 6,15).

Jesus wartete nicht, bis der Dienst ihn mürbe machte und aufrieb, so wie Elia. Er ließ sich nicht von den Nöten nötigen oder den Umständen drängen, auch nicht von seinen Freunden oder Feinden lenken. Er ging von vornherein auf den Berg, wo er jenseits der Ansprüche des Dienstes und der Menschen an ihn mit Gott allein sein konnte.

Wenn wir nicht auch solche Rückzugsorte zum Gebet finden und freiwillig in die Einsamkeit gehen, werden wir meiner Meinung nach kein nachhaltiges geistliches Leben führen und keinen effektiven geistlichen Dienst tun können.

Bergpredigt und Verklärung

Eine berühmte Predigt von Jesus nennen wir die Bergpredigt (Mt 5–7), die wohl zu den fundamentalsten und bekanntesten Texten der Weltliteratur zählt. Sie beginnt mit den Seligpreisungen, setzt mit einer revolutionär anderen Deutung der zehn Gebote fort, als die Tradition der Juden sie predigte bzw. auslegte (und die meisten Christen es heute immer noch tun), und endet mit dem berühmten Gleichnis vom Haus, das auf Felsen oder Sand gebaut ist. Am Ende der Bergpredigt heißt es:

Und es geschah, als Jesus seine Worte vollendet hatte, da erstaunten die Volksmengen über seine Lehre, denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten (Mt 7,23).

Der Anfang der Bergpredigt offenbarte den erstaunten Hörern, dass es nicht um Sünden und Beugung unter Gebote geht, sondern um Seligkeit. Dann stellt Jesus das Gesetz in einen Zusammenhang mit dem Herzen, denn es geht nicht um das korrekte, äußerliche Befolgen von Regeln um der Regel willen, sondern um unser Inneres, unser Sein. Sind wir richtig, dann handeln wir auch richtig. Sind wir nicht richtig, dann ist selbst das richtige Handeln verkehrt, nämlich heuchlerisch. Und richtig können wir nur sein, wenn wir mit dem Richtigen verbunden sind. Aus der Verbundenheit mit Gott heraus ist die Richtigkeit eine lebendige und keine gesetzliche Richtigkeit, die in Rechthaberei und Dogmatismus endet. Die Richtigkeit, die durchs Herz geht, beginnt nicht beim anderen, sondern bei einem selbst und will dem anderen so weit entgegenkommen, wie man wünschen würde, dass einem selbst auch entgegengekommen wird. Gott IST barmherzig. So ist es denn auch sein Gericht.

Die Volksmengen waren über diese „Herzens-Predigt“ überrascht. Auf einmal ging es nicht um „Richtig und Falsch“, sondern um ein Leben in Wahrheit und Freiheit. Die alte Botschaft der Gebote kam in einem völlig neuen Gewand daher und erschien darin so ganz anders, als sie es je gehört und verstanden hatten. Für die Pharisäer, die in ihrer Gesetzlichkeit eher Gefängniswärtern glichen als Wegweisern zur Freiheit, war das ganz unerhört.

Für jeden von uns muss der gesetzliche und gefängnisartige Rahmen, den die Religiosität gerne und schnell annimmt, von Zeit zu Zeit aufbrechen, denn das Reich Gottes ist lebendig und der Geist beweglich. Einseitige Auslegungen sind dafür untauglich und wir sind mit göttlichen Worten und deren Interpretation niemals fertig.

Der Geist wendet die Gebote sehr persönlich auf uns an und offenbart uns ihre eigentliche Absicht und Kraft. Tatsächlich halten nicht wir sie, sondern sie uns. In Wahrheit sind wir nicht dadurch gute Christen, dass wir die Gebote halten, sondern dadurch, dass die Worte Gottes uns verwandeln in sein Bild – in der Kraft des Heiligen Geistes.

Die Volksmengen wunderten sich über die Kraft des Heiligen Geistes (die Salbung) auf Jesu andersartiger Predigt bzw. seine Vollmacht. Seine Worte brachten die Kraft, sich auf sie einzulassen und von ihnen in richtige, Gott wohlgefällige Menschen verwandelt zu werden, gleich mit!

Eine höchst beeindruckende Erfahrung mit dem Berg Gottes machten drei seiner Jünger auf dem sogenannten Berg der Verklärung (Mt 17), dem „Tabor“. Eine sagenhafte Geschichte, in der unglaublich viele geistliche Prinzipien stecken.

Auf dem Berg offenbarte sich Jesus den drei Jüngern, die er beiseite genommen und mit denen er aufgestiegen war auf den Gipfel. Das Gesicht Jesu wurde dort oben leuchtend wie die Sonne und seine Kleidung durchscheinend, so hell war das Licht. Für die Jünger war es wahrhaftig ein dramatisches Erleuchtungserlebnis: Erst wurden sie sprachlos, dann ohnmächtig und schließlich „erwachten sie völlig“ und „sahen seine Herrlichkeit“ (Lk 9,32).

Damit nicht genug: Jesus erschienen „in der Herrlichkeit“ (hier wurden die natürlichen Gesetze aufgehoben, Raum und Zeit übersprungen bzw. beweglich) Mose und Elia, die mit ihm „seinen Ausgang, den er in Jerusalem nehmen sollte“, besprachen (Lk 9,31). Dadurch wurde den Jüngern gezeigt, dass Jesus Teil der Heiligen Geschichte war.

Schlussendlich überschattete auch noch die lichte Wolke Gottes, die Schechina1, die Israel durch das Meer und die Wüste begleitet hatte und aus der heraus Gott mit Mose von Angesicht zu Angesicht wie mit einem Freund gesprochen hatte (vgl. 2 Mose 33,9-11), den Bergesgipfel, und eine Stimme sprach: „Dies ist mein geliebter Sohn, den hört!“

Aus diesen wenigen Hinweisen sollte deutlich geworden sein, wie ausgesprochen initiatorisch diese Geschichte ist. Die Jünger wurden nicht belehrt und unterrichtet, sondern „sahen und erlebten“ die großen Zusammenhänge. Sie wurden davon zutiefst beeindruckt, ja physisch überwältigt und zu Boden geworfen. Es war eine ganzheitliche Erfahrung des Heiligen, welches sich ihnen in seiner Herrlichkeit zeigte. Nach diesem Gipfelerlebnis konnten sie nicht mehr die Gleichen sein wie vorher. Sie waren jetzt „Wissende“. Ihre Idee davon, wer Jesus ist und worum es wirklich geht, wurde in einer unaussprechlichen Art und Weise erweitert, ja gesprengt, sodass sie „schwiegen und niemandem davon erzählten“ (Lk 9,36). Wie auch? Die Jünger hatten etwas von dem erlebt, was T. S. Eliot folgendermaßen beschreibt:

An die jenseitige Wirklichkeit zu glauben, heißt nicht, zu erwarten, dass wir, nachdem wir hier auf Erden ein erfolgreiches, sinnvolles und halbwegs tugendhaftes Leben geführt haben, in einer anderen Welt aufwachen werden, die sozusagen der bestmögliche Ersatz (bzw. Fortsetzung) für diese Welt ist; oder dass wir, wenn wir hier ein entbehrungsreiches Dasein gefristet haben, in der künftigen Welt mit all dem entschädigt werden, was uns hier nicht zuteilwurde. Es ist vielmehr die tiefe Überzeugung, dass die jenseitige Wirklichkeit die eigentliche Realität ist – und zwar hier und heute.2

Unio mystica

Weiter oben wurde schon Offenbarung 21,10 zitiert, wo es heißt, dass der Apostel Johannes „im Geist auf einen großen und hohen Berg geführt wurde“. Von dort aus sah er die Heilige Stadt, das Neue Jerusalem, von Gott herabkommen auf die Erde. Es sind dies die letzten Dinge und die große Erfüllung der Heiligen Geschichte in der Bibel. Himmel und Erde werden vereint, Gott und Mensch werden eine gemeinsame Stadt bewohnen und die Zeit der Zertrennungen (Tod und Sünde) ist vorbei.

Und er (Gott) wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen (Offb 21,4).

Das Ende ist der Anfang. Aus den Trümmern der alten Welt der Sünde und des Todes wird die neue Stadt der Gemeinschaft des Lebens in Liebe geboren. Die Zeit der „unio mystica“3, der Hochzeit des Lammes (Jesus) und der Braut (der Gemeinde), ist gekommen und die Einladung geht hinaus:

Und der Geist und die Braut sprechen: „Komm!“ (Offb 22,17).

Jedes einzelne Element dieser „letzten Dinge“, die zugleich die Wiederherstellung der „ersten Dinge“ bedeuten, ist für die Gläubigen von größter Bedeutung, nur dass viele in keinerlei Beziehung dazu stehen. Sie wurden nur darüber informiert, aber nicht in es hineininitiiert. Eine wirkliche Taufe hinein in diese „Dinge“ hat nicht stattgefunden, eine Offenbarung der Stadt wurde nicht empfangen und die Erfahrung einer Berufung, zu kommen und dazuzugehören, nicht gemacht. Die Identifikation mit der Heiligen Geschichte und noch mehr, ein Träger ihrer Herrlichkeit und Zeuge ihrer Realität zu sein, wurde also nicht verwirklicht. So stehen die Gläubigen weiter draußen vor der Tür und führen ein Leben jenseits dieser Realitäten.

Im Gleichnis von dem „großen Hochzeitsmahl“ (vgl. Mt 22,1 f.; Lk 15,15 f.) wird die Tragik veranschaulicht, dass der König zur Hochzeit seines Sohnes ruft, denn „alles ist bereit“, aber ach, die Geladenen lassen sich entschuldigen: Einer hat geheiratet, der andere einen Acker gekauft, den er begutachten muss, noch ein weiterer hat dringende Erledigungen zu machen … Nachdem der König seine Einladung per Eilboten wiederholt, sich aber an der Reaktion seiner „Freunde“ nichts ändert, stellt er schließlich fest: „Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Geladenen sind nicht würdig … viele sind Berufene (gerufen worden), wenige aber Auserwählte (sind eingetreten).“ Eine Tragödie von schicksalhaftem Ausmaß!

Den Geladenen ist offensichtlich weder bewusst, wer sie da ruft, noch worum es geht. Andersherum könnte man formulieren, dass ihnen auch nicht bewusst ist, wer sie sind und welche Würdigung darin liegt, dass der König nach ihnen schickt.

Sie gehen komplett an ihrer Berufung vorbei und ärgern sich sogar über die Boten des Königs, die die Einladung wiederholt zu ihnen bringen, da sie dies als lästige Störung ihrer Alltagsgeschäfte empfinden. So realisieren sie ihre königliche Auserwählung also nicht, und der König schickt seine Boten erneut aus, um „würdigere“ Leute zu finden, damit der Hochzeitssaal voll wird. Was für eine aufrüttelnde Geschichte über das Reich der Himmel!

Gerade heute, wo das Geschäft scheinbar das Ein und Alles ist, dem sich selbstverständlich alles – inklusive Gott, Himmel und Hochzeit – nachzuordnen haben, können wir sehr leicht unsere „Würdigung“ übersehen und unsere Hochzeitseinladung verpassen. Wir haben einfach keine Zeit für so etwas. Das reicht leider bereits völlig aus, um unsere „Erwählung“ zu sabotieren und niemals zu erfahren, was es bedeutet, ein „Freund des Königs“ zu sein. Weder lernen wir das Schloss von innen kennen, noch sehen wir mit eigenen Augen die Herrlichkeit des Königs, noch sitzen wir an seinem Tisch und teilen seine Freude an der Hochzeit seines Sohnes. Wir identifizieren uns mit alledem nicht und fühlen uns auch nicht zugehörig. Im Gleichnis heißt es, dass der König zornig über seine „Freunde“ wurde. Das sollte uns zu denken geben!

Der nicht initiierte Mensch verliert sich ganz an die irdischen Angelegenheiten, die himmlischen sind ihm „ein Buch mit sieben Siegeln“ und „etwas für Religiöse“. So verkauft er seine göttliche Würde und Berufung – sein Erstgeburtsrecht – an sein nichtiges Geschäft, ganz so wie Esau einst sein gewaltiges Erbe für eine Linsensuppe verscherbelte, ohne freilich überhaupt zu merken, was er da tat. Er ist nicht aufgewacht, wie es von den Jüngern auf dem Berg der Verklärung heißt, dass sie „völlig aufwachten“, und ist blind für die größeren Zusammenhänge und die Herrlichkeit.

Wachstum

Wir neigen meines Erachtens leicht dazu, unseren Durchblick zu überschätzen und meinen zu wissen, was Sache ist, obgleich wir erst damit angefangen haben zu begreifen und zu erfahren, wer und was uns da ruft und erwählt. Wir meinen, schon fertig zu sein, ehe wir überhaupt richtig angefangen haben!

Das Konzept von Menschsein, welches unsere Kultur uns liefert, ist ganz auf Äußerlichkeit und Vorläufigkeit gerichtet. Es fördert geradezu unreifes und abhängiges Verhalten. Der unmündige Mensch, der sich aber für mündig hält, eignet sich für die Geschäfte besser als der Mündige, der seine eigene Welt zu erschaffen und zu verantworten in der Lage ist.

Nun ist es dem Menschen gegeben zu wachsen. Er muss damit niemals aufhören. Er kann sich immer weiter entfalten, so wie ein Baum. Es gibt Bäume, die schön in Reih und Glied in einer Monokultur stehen und so überzüchtet sind, dass sie ohne Dünger und Pestizide in der Wildnis (Freiheit) nicht lebensfähig sind. Ein Mensch kann – im Bilde gesprochen – aber auch ein mächtiger Baum des Waldes werden, der eine Welt, eine Biosphäre, für sich selbst bildet, die weit unter der Erde beginnt und bis in den Himmel ragt und in dessen ausladenden Ästen zahllose Tiere wohnen. Wir kennen die berühmte Geschichte vom Adler im Hühnerhof:

Ein Mann fand ein Adlerei und legte es in das Nest einer gewöhnlichen Henne. Der kleine Adler schlüpfte mit den Küken aus und wuchs zusammen mit ihnen auf.

Sein ganzes Leben lang benahm der Adler sich wie die Küken, weil er dachte, er sei ein Küken aus dem Hinterhof. Er kratzte in der Erde nach Würmern und Insekten. Er gluckte und gackerte. Und ab und zu hob er seine Flügel und flog ein Stück, genau wie die Küken. Schließlich hat ein Küken so zu fliegen, stimmt’s?

Jahre vergingen und der Adler wurde alt. Eines Tages sah er einen herrlichen Vogel hoch über sich im wolkenlosen Himmel. Anmutig und hoheitsvoll schwebte er durch die heftigen Windströmungen, fast ohne mit seinen kräftigen goldenen Flügeln zu schlagen. Der alte Adler blickte ehrfürchtig empor.

„Wer ist das?“, fragte er seinen Nachbarn. „Das ist der Adler, der König der Vögel“, sagte der Nachbar. „Aber reg dich nicht auf. Du und ich sind von anderer Art.“

Also dachte der Adler nicht weiter an diesen Vogel. Er starb im Glauben, ein Huhn im Hinterhof zu sein.4

Auch Johannes – immerhin ein Apostel – war vielleicht geneigt zu glauben, er habe die Grenze seiner Möglichkeiten erreicht, hinfort würde er nur noch verwalten und weitergeben, was er in seinem Leben erreicht hatte. Aber es kam ganz anders: Er wurde auf eine Insel verbannt, einen Initiationsort par excellence, und erhielt dort im Geist eine Offenbarung von Jesus. Weiter vorne schilderten wir die Ereignisse auf dem Berg der Verklärung. Johannes war einer der drei Jünger, die Jesus dorthin mitgenommen hatte, und diese sahen, wie er sich vor ihren Augen verwandelte und dass sein Angesicht leuchtete wie die Sonne. Damals war Johannes mit den anderen beiden Jüngern buchstäblich zu Boden gegangen, so überwältigend war die Erfahrung. Er mag völlig zu Recht gedacht haben: Mehr geht nicht! Was könnte eine solche Erfahrung noch toppen?

Aber nun, alt und im Exil auf der Insel Patmos, sieht er Jesus erneut, allerdings „im Geist“ und „im Himmel“, denn Jesus ist auferstanden. (Wobei sich die Grenzen von im Fleisch und im Geist in einer solch intensiven Vision, wie sie die Offenbarung darstellt, verwischen können. Das heißt, es stellt sich demjenigen, der eine solche Erfahrung macht, die Frage, was nun eigentlich „realer“ ist: die irdisch-materielle Dimension oder die himmlisch-geistliche, die er schaut.)

Wieder ist der Anblick von Jesus für Johannes völlig überraschend und überwältigend und die neuerliche Erfahrung mit ihm ganz anders, als er Jesus je zuvor erlebt hat. Und wieder geht er zu Boden …

Dann diktiert Jesus ihm sieben Briefe an die Gemeinden, in deren Mitte er, Jesus, in der Vision steht – „inmitten der sieben Leuchter“. Jede Gemeinde hatte so ihre bestimmten Gründe, Jesus nicht in ihrer Mitte stehen zu lassen und sich um anderes zu drehen, als um ihn. Dies sollte anhand der Briefe benannt und korrigiert werden. Um das den Gemeinden angemessen mitteilen zu können, dafür musste Johannes jedoch zuerst selbst korrigiert werden! Auch für ihn musste Jesus erst wieder in den Mittelpunkt rücken und seine ganze Aufmerksamkeit gewinnen. Das Bild, welches sich Johannes von Jesus gemacht hatte, musste erneut aufgebrochen werden.

Jesus ist immer größer als die Bilder,

die wir uns von ihm machen.

Darum sind die Bilder so gefährlich und das zweite Gebot mahnt uns, uns kein Bild zu machen, weder von dem, was oben im Himmel noch was unten auf der Erde ist (vgl. 2 Mose 20,4). Sehr leicht können wir den echten, auferstandenen und lebendigen Jesus in unsere kleinen Katechismen und frommen Kirchenvorstellungen packen und meinen, wir wären fertig mit ihm. Wir können sogar diese eigenen Bilder für unsere Zwecke benutzen und damit gegen die Bilder anderer Gruppierungen kämpfen. Bild gegen Bild.

Mit dem echten Jesus wäre uns das freilich nicht möglich, weil er sich weder für kirchenpolitische Interessen instrumentalisieren lässt noch solche Arten von Kriegen führt. Er hat ganz andere Dinge zu tun – und würde uns gerne daran beteiligen. Wenn wir nur zu ihm kämen und mit ihm gehen würden! Wenn es uns nur wirklich interessieren würde, was er denkt und tut! Wenn wir nur einmal mit ihm selbst sprechen würden! Tatsächlich wird in den Gemeinden sehr viel über ihn, aber wenig mit ihm gesprochen. Man ist allzu fertig mit Jesus und erwartet von ihm nichts Neues.

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