Charlotte und das Reitinternat - Wo die Liebe hinfällt

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Feli Fritsch

Charlotte und das Reitinternat –

Wo die Liebe hinfällt

Für meine Schwester Victoria

Über die Autorin

Feli Fritsch wurde im Sommer 1997 in Darmstadt geboren. Sie wuchs in der Nähe von Frankfurt/Main auf, bis sie 2016 nach dem Abitur nach Mainz zog, um dort Buch- und Erziehungswissenschaft zu studieren. Schon als Kind begann Feli, Ideen festzuhalten und kleine Geschichten zu schreiben, die mit den Jahren immer länger wurden. Es entstanden Stück für Stück erste Romane.

Thematisch befassen sich die meisten ihrer Bücher mit Pferden, denn sie hat die Liebe zum Reiten bereits vor der Grundschule entdeckt. Aber auch das Segeln und eine eigene Segeljolle begleiten und inspirieren Feli seit 2013 zu neuen Büchern.

2017 veröffentlichte sie den ersten Band der Jugend-buchreihe „Anja und das Reitinternat“, deren Bücher von Charlottes Mutter erzählt werden. Die Buchreihe um Charlotte selbst führt auch ein Stück weit Anjas Geschichte weiter.

Weitere Infos unter www.feli-fritsch.de.tl

Prolog

„Wo ist denn Charlotte?“, wollte Herr Baumann wissen, als er die Klassenliste durchging. Erstaunt hob er den Blick, aber Charlotte saß nicht auf ihrem Platz neben Emilia.

„Die ist immer noch krank“, erwiderte Emilia, Charlottes beste Freundin, und holte ihr Heft aus der Tasche.

„Sind es immer noch die Salmonellen?“, fragte Herr Baumann erstaunt und mit mitleidiger Miene.

„Ja.“ David nickte.

„Oh je. Dann wünscht ihr mal eine gute Besserung. Sie kämpft ja schon eine ganze Weile damit herum.“ Der Physiklehrer trug Charlottes Abwesenheit ins Kursbuch ein und holte dann seine Unterrichtsvorbereitung aus der Tasche.

„Machen wir“, antwortete Annika.

Seit den Weihnachtsferien schon lag Charlotte nur noch im Bett und kämpfte mit Übelkeit und Bauchschmerzen. Das hatte kurz nach Weihnachten angefangen. Ihren Freunden war es nicht besser ergangen, nur hatten diese das Ganze schneller überwunden.

Irgendwann war Anja mit ihnen zum Arzt gegangen, weil ihr die ganze Krankheitsphase aller Schüler komisch vorgekommen war. Der Arzt hatte ein eindeutiges Ergebnis feststellen können: Salmonellenvergiftung. Während es bei den anderen nach spätestens zwei Wochen wieder weggegangen war, kämpfte Charlotte jetzt schon vier Wochen mit dem Mist herum.

Sie lag im Bett, auf dem Rücken, und starrte ihre Zimmerdecke an. Draußen begann es schon wieder zu schneien, die Pferde standen auf der Winterkoppel, neben Charlottes Bett stand Aprils Körbchen. Ihre Hündin schlief darin und machte erst ein Auge auf, als sich Charlotte zur Seite drehte. Seit Wochen waren sie nicht mehr draußen gewesen. Zum Glück hatte sie ihre Freunde, die sich um Alaska kümmerten, und David. Der ging jeden Tag mit April nach draußen.

„Das ist so unfair“, jammerte Charlotte und wollte mit der Hand nach April greifen. Plötzlich klopfte es an der Tür. Ein erleichtertes Seufzen entwich Charlotte. Endlich passierte etwas.

„Hey“, David kam herein und Charlotte setzte sich auf.

„Na.“ Sie war blass. David nahm sie in den Arm.

„Wie geht es dir?“, wollte er dann wissen.

„Naja. Nicht so“, erwiderte sie.

„Ich hab dir die Hausaufgaben mitgebracht“, David überreichte ihr eine Mappe voller Blätter und Charlotte seufzte. Kranksein während der Schulzeit hatte auch seine Nachteile: Sie musste alles nacharbeiten. Und das war nicht wenig.

„Super, danke“, sie ließ sich wieder in die Kissen sinken.

„Das wird schon. Ach ja. Frau Mayer hat mir deine Redeanalyse mitgegeben. Herzlichen Glückwunsch“, David gab ihr das rote Heft.

„Hast du etwa reingeschaut?“, Charlotte schmunzelte.

„Joa“, er grinste und sie schlug das Heft auf.

„2 plus. Das ist super“, sie umarmte David freudig. „Was hast du?“

„Eine drei.“ Er verzog das Gesicht und Charlotte schaute ihn fragend an. „Reden war noch nie so meins. Und die Rede aus der Klausur war auch irgendwie voll doof“, fand er.

Charlotte lachte. Dann wechselte sie abrupt das Thema. „Ich wüsste zu gerne, woher die Salmonellen kommen. Das ist doch kein Zufall, dass das nach Weihnachten alle hatten“, überlegte sie und legte sich wieder zurück ins Bett.

„Jetzt wirst du erst mal wieder gesund, bevor wir auf Spurensuche gehen“, David streichelte ihr über die Wange und gab ihr kurz einen Kuss. „Du kannst dich nicht direkt von einem ins andere Abenteuer stürzen, Süße.“

„Stimmt“, gab Charlotte nach und erinnerte sich noch an ihren letzten Fall, den sie erst kurz vor den Weihnachtsferien aufgedeckt hatten.

Zwei Mal waren drei Typen in die Stallungen des Internats eingebrochen und hatten Pferde erschreckt, sie mit Wasser abgespritzt, Mäuse im Stall verteilt und Wertsachen geklaut. Zur Weihnachtsfeier der Internatsschüler hatten sie randaliert und jede Menge Sachen kaputt gemacht. Sie hatten Zoey gefangen genommen und versucht, auch Melina Gewalt anzudrohen. Denn es war rausgekommen, dass Zoeys Schwarm Alexander Groß und seine Freunde hinter dem ganzen Geheimnis steckten. Und das alles nur, damit Alex‘ Mannschaft beim Kölner Weihnachtsturnier besser abschneidet. Denn die Mannschaft vom Reitinternat hatte sich in der Qualifikation besser platziert. Inzwischen waren Alex und seine Freunde zu Sozialstrafen und Jugendarrest verurteilt worden. Den Schaden übernahm zum Teil die Versicherung, das Diebesgut war Gott sei Dank wiedergefunden worden. Seit diesem Tag im Dezember waren nicht nur Melina und Lukas endlich ein Paar, sondern auch Zoey und Jonathan, die sich unsterblich ineinander verliebt hatten. Zoey gehörte fortan zu Charlottes Freundeskreis dazu, auch wenn sich das am Anfang etwas komisch angefühlt hatte. Annika hatte sich im Streit von ihrem asozialen Freund Theo getrennt und war über die Trennung hinweg – jedenfalls dachte das jeder. Bonnie hatte von nun an eine Reitbeteiligung an Aragon, den Charlottes Vater Phil im November gekauft hatte. Charlottes Mutter erwartete ein Kind, das Max heißen sollte, und sie kaufte jetzt schon jede Menge Kindersachen. Ja, und zwischen ihr selbst und David lief alles bestens.

„Das war doch erst mal ein bisschen viel Aufregung in den letzten Monaten“, fand David und streichelte April, die sich an seine Füße gelegt hatte.

„Naja. Das Spukhaus ist ja auch schon wieder ein bisschen her“, Charlotte drehte sich auf den Rücken und streckte alle vier Glieder von sich.

„Hast du genug getrunken?“, fragte David dann.

„Du bist schon wie meine Mom“, beschwerte sich seine Freundin und trank einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche. „Zufrieden?“

„Ja, meine Kleine“, David streichelte ihr scherzhaft über den Kopf, dann musste auch Charlotte lachen.

„Wie geht’s den anderen? Ich habe das Gefühl, ich verpasse mein halbes Leben“, sagte sie.

„Elias und Emilia sind frisch verliebt und hängen die ganze Zeit nur aneinander rum. Und Bonnie hat nur noch Augen für Aragon“, erzählte David. „Kiara … Keine Ahnung. Ich glaube, sie vermisst Paul ganz schön. Und Samuel und Annika hängen voll viel zusammen ab.“

„Vielleicht verliebt sie sich ja in ihn. Wäre auf jeden Fall eine bessere Wahl als Theo. Der hat jetzt jedenfalls ‘ne Anzeige wegen Körperverletzung am Hals. Annikas Eltern haben ihn angezeigt“, berichtete Charlotte müde.

„Echt?“, David war ziemlich erstaunt.

„Ja. Mal sehen, was daraus wird. Annika war nicht so glücklich darüber. Aber ich verstehe ihre Eltern. Ich meine, wir haben ja live mitgekriegt, wie der Typ ausgerastet ist“, erinnerte sich Charlotte.

„Vergessen wir den Typen. Wichtig ist doch nur das Hier und Jetzt“, David nahm ihre Hand.

„Was sind das denn für Floskeln, Herr Hübner?“, bemerkte Charlotte lächelnd und warf ihm eine Kusshand zu.

„Nichts“, David lächelte sie verliebt an und Charlotte hätte in seinen Augen versinken können.

***

Charlotte stöhnte laut und blies die Luft bis zum letzten Rest aus ihren Lungen. Das war also dieses Gefühl, von dem Emilia gerade eben berichtet hatte, als sie da gewesen war, um nach ihr zu sehen: Langeweile.

Charlotte hasste Langeweile und jetzt war sie sogar noch hier drinnen gefangen und konnte nicht mal mit Alaska raus ins Gelände oder so. Jegliche Freizeitaktivitäten waren gestrichen. Es nervte sie zunehmend. Sie drehte sich auf den Rücken und starrte die weiße Decke an. Eigentlich hatte sie schon längst nach drüben in ihr neues Zimmer ziehen wollen, aber ihre Eltern hielten streng die Absprache erst zum neuen Halbjahr.

„Mama?“, rief Charlotte laut, April stand auf und blieb schwanzwedelnd vor ihrem Bett stehen.

„Was ist denn, mein Schatz?“, Anja Brückner blieb in der Tür stehen. Sie hatte mit den Salmonellen nicht so viel zu tun gehabt und hielt sich von ihrer Tochter fern, weil sie in ihrem schwangeren Zustand auf keinen Fall in Berührung mit der Vergiftung kommen sollte. Die Risiken waren allen bewusst.

„Mir ist langweilig“, quengelte Charlotte weiter und verrenkte sich den Hals, um ihre Mutter anzusehen.

„Ließ ein Buch oder deine alten Tagebücher. Oder erstelle dir im Internet ein Fotobuch mit Alaska. Das wolltest du doch eh mal machen“, schlug ihre Mutter vor und Charlotte lächelte schwach. An sowas hatte sie zwar nicht gedacht, aber es war eine Idee.

Sie stand auf und kramte in ihrem Regal nach ihren alten Tagebüchern. Eine Zeit lang hatte sie wirklich jeden Tag etwas hineingeschrieben. Sie konnte sich nicht erinnern, das letzte Mal dort hineingeguckt zu haben.

 

Liebes Tagebuch,

heute ist der zweite Tag der Klassenfahrt nach Sylt. Das Einzige, was richtig cool ist, das ist Tom. Denn Sylt ist sooo langweilig. Wir sind total abgelegen im Nix und ich habe null Ahnung, wie ich Tom ansprechen soll. Er spielt abends auch nicht mit uns allen die Gemeinschaftsspiele. Außerdem meine ich, aufgeschnappt zu haben, dass er nächstes Schuljahr die Schule wechselt …

Charlottes Handy brummte. Erst wollte sie es ignorieren, doch dann schaute sie doch nach. David hatte ihr geschrieben, sie solle mal die Tür öffnen.

Stöhnend stand sie auf und öffnete die Tür. Davor stand er, David, und die anderen hatte er auch gleich mitgebracht.

„Was macht ihr denn hier?“, wollte sie wissen und ließ sie in ihr Zimmer.

„Deine Mutter meinte, dir sei langweilig“, David setzte sich auf Charlottes Bett und die anderen verteilten sich im Raum. Emilia pflanzte sich auf Elias‘ Schoß. Schnell lief Charlotte zu ihrem Schreibtisch, als Kiara und Annika darauf zusteuerten.

„Was ist das denn?“, wollte Annika grinsend wissen.

„Mein Tagebuch aus der Siebten“, erklärte sie ihr und schob es zurück in den Schrank. An das Fotobuch mit Alaska und vor allem an die alten Tagebücher würde sie sich einfach später setzen. Denn jetzt hatten ihre Freunde wirklich jede Menge Abwechslung mitgebracht …

Mädchenschnickschnack

„Ich wusste, dass mir Physik mal wieder den Schnitt versaut!“, jammerte Emilia angesäuert, die sich sofort nach der Zeugnisvergabe ihren Taschenrechner geholt hatte, um ihren Notendurchschnitt zu errechnen. „Ohne Physik hätte ich 1,08. Und mit Physik nur 1,3“, sie legte den Taschenrechner weg und schaute ihr Zeugnis wütend an, als sei es an allem schuld.

„Emilia“, ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Das ist nicht nur 1,3. Das ist toll, deine Eltern werden sich freuen“, ich wollte sie vorsichtig aufmuntern, aber bei Emilia kam das gar nicht an.

„Mama und Papa werden sagen, dass ich mehr für Physik tun muss. Und die beiden Zweier in Mathe und Chemie muss ich im nächsten Halbjahr sicherlich auch wieder ausbügeln.“ Meine Freundin verschränkte die Arme und lehnte sich mit gerunzelter Stirn zurück.

„Wenn du jetzt den ganzen Tag so guckst, kriegst du Falten“, erinnerte Zoey die hübsche Emilia, die einen ganzen Schrank voller Faltenvorsorgecremes hatte.

„Ist mir doch egal“, behauptete Emilia, aber wir wussten alle ganz genau, dass es ihr nicht egal war. Ganz und gar nicht egal.

„Mit dem Schnitt kriegst du locker ein Stipendium, auch wenn du gar keines brauchst“, Annika legte ihr Zeugnis weg und nullte Milas Taschenrechner.

„Ich bin auch super zufrieden mit dir, Süße“, Elias schlang von hinten seine Arme um Emilia und küsste sie auf die Wange.

„Siehst du, Mila!“ Ich überflog mein Zeugnis. Außer in Englisch hatte sich eigentlich nicht viel geändert. Dank Davids Hilfe war ich von einer Vier auf eine Zwei gerutscht. Ich war sehr zufrieden mit dem Ergebnis.

„Und?“ David stand plötzlich neben mir und ich rückte, sodass er sich mit der Hälfte seines Hinterns auf meinen Platz quetschen konnte.

„Zwei in Englisch.“ Ich sah ihn grinsend an, dann küsste ich ihn auf die Wange. „Vielen Dank. Ohne dich hätte ich das niemals geschafft.“ Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter.

„Hab ich super gerne gemacht“, David küsste mich kurz, dann legte er einen Arm um mich.

„Aufpassen!“ Annika wedelte mir grinsend vor dem Gesicht herum. „Nicht, dass David sich noch mal ansteckt.“

„So ein Quatsch. Ich bin seit einer Woche wieder gesund, Annika. Der Arzt hat Entwarnung gegeben.“ Ich verdrehte erst die Augen, dann sah ich Annika grinsend an. Meine Freundin zuckte die Schultern.

Dann waren David und ich nicht mehr interessant für sie. „Mädels, was haltet ihr von Shoppen?“, fragte sie dann in die Runde.

„Okay, gut“, erwiderte ich, während Emilia immer noch über ihrem Zeugnis herumbrummelte. Ich ärgerte mich ein wenig über Emilia und ihren übertriebenen Ehrgeiz, sagte aber lieber nichts mehr.

„Und wir Jungs?“, wollte Samuel in diesem Moment wissen und lenkte meine Aufmerksamkeit deshalb wieder auf das Geschehen zurück.

„Ihr kommt danach mit uns Mädels zum Kekse essen auf den Heuboden“, beschloss Annika, denn die Jungs mit zum Shoppen zu nehmen, kam gar nicht in Frage.

„Na, meinetwegen.“ Jetzt sah auch Emilia endlich wieder auf.

Elias massierte ihr leicht die Schultern. „Das wird bestimmt lustig“, sagte er zu ihr. „Und vorher geht ihr ein paar schöne Sachen kaufen“, er sah Emilia aufmunternd an und dann nickte sie schließlich.

„Überredet“, Emilia lächelte wieder.

In diesem Moment unterbrach meine Mutter die Gespräche. Sie wollte mit dem Unterricht weitermachen. „Das alte Halbjahr ist damit abgeschlossen und ein neues beginnt“, Mama setzte sich mühsam auf den Tisch. Sie war im fünften Monat schwanger und die Anstrengung machte ihr im Alltag zu schaffen.

Die Jungs gingen wieder auf ihre Plätze und ich packte mein Zeugnis weg.

„Ende März beginnt mein Mutterschutz, was aber keinen Grund darstellt, jetzt die Leistung herunterzuschrauben. Denn zuvor steht für Ende Februar der Besuchertag für die Viertklässler an, die unser Internat besuchen und mit Reiterspielen bespaßt werden wollen. Dieser Tag dient uns allen als Werbung für unsere Schule und das Internat. Es ist schon seit Jahren so üblich, dass die neunten Klassen diesen Tag mitorganisieren und leiten“, Mama öffnete die Unterlagen. „Ihr werdet in Teams Spiele und Vorführungen planen. Bei den Spielen ist natürlich darauf zu achten, dass auch Reitanfänger diese gut mitspielen können, während die Vorführungen ruhig ein wenig höher gegriffen sein können: Das soll schließlich Eindruck machen.“

Ich warf einen Blick zu David nach hinten, der neben Elias und Samuel saß. Als er hochblickte, erwiderte er meinen Blick und zwinkerte mir zu. Mit einem Lächeln drehte ich mich wieder um zu meiner Mutter – ich wusste, was ich wissen wollte.

Kurz vorm Gong verkündete Mama noch, dass wir uns selbstständig in kleine Gruppen einteilen sollten, um Spiele und Vorführungen zu organisieren. Schon bald würden wir uns mit den anderen Teams und Klassen zusammensetzen.

„Das ist einen Tag nach meinem Geburtstag“, sagte Emilia, als wir aus dem Klassenraum Richtung Ausgang liefen. Wir hatten endlich Schulschluss.

„Stimmt“, erinnerte ich mich.

„Hey!“, rief Kiara. Sie kam vom Klassenraum nebenan angelaufen. Melina war direkt an ihrer Seite.

„Na. Geht ihr auch mit uns Shoppen und danach mit den Jungs hoch auf den Heuboden? Kekssammlung vernichten“, grinste Annika voller Vorfreude. Melina nickte lachend, dann entdeckte sie Lukas, ihren Freund.

„Hey, meine Süße.“ Als er bei uns eintraf, küsste er sie und Melinas halblangen rotblonden Haare flogen nach hinten.

„Hast du auch Lust auf Kekse?“, wollte sie von ihm wissen und Lukas nickte begeistert. „Wir wollen nachher mit den anderen Kekse essen. Ich schreib dir einfach, wann wir uns auf dem Heuboden treffen.“

Wir erreichten den Ausgang und traten in die Kälte. Es hatte wenigstens nicht mehr geschneit. Die Hoffnung auf einen frühen Frühling wuchs. In dem Moment, als ich nach hinten schaute, um die Tür zufallen zu lassen, jubelte Kiara auf, die schnell ihr Handy wegsteckte.

„Was ist denn mit dir los?“, wollte ich erstaunt wissen.

Kiara grinste. „Es trifft sich gut, dass wir in die Stadt gehen. Paul hat ja morgen Geburtstag und kommt mich besuchen. Und jetzt ratet mal, wie er hierherkommt?“ Kiara grinste uns alle an, ihre blonden Haare flogen im Pferdeschwanz um ihre Nase, als sie loshüpfte.

„Keine Ahnung. Seine Mom fährt ihn?“, schlug Emilia ahnungslos vor.

„Falsch. Er fährt seine Mom. Paul hat gerade seinen Führerschein bestanden. Ist das nicht total super?“ Sie fiel mir quiekend um den Hals, dann zog sie Emilia auch noch dazu.

„Wie cool. Dann kann er ja jetzt öfter kommen“, bemerkte Annika und umarmte Kiara freudestrahlend.

„Naja, nicht ganz. Er hat den Führerschein mit siebzehn gemacht und muss jetzt ein Jahr lang mit seinen Eltern fahren.“ Kiara schulterte ihre Tasche, dann verabschiedeten wir uns vorm Internatsgebäude. Ich schlug den Weg zum Haus ein, die anderen gingen mit den Schülermassen hoch zu ihren Zimmern.

Als ich den Schlüssel ins Schloss der Haustür schob, hörte ich April davor schon bellen. Ich schob die Tür auf, mein Hund schmiegte sich schwanzwedelnd an meine Beine.

„Hey, du.“ Ich streichelte sie kurz und schob sie von der Tür weg, damit ich sie schließen konnte. Dann schlüpfte ich aus den Schuhen und begrüßte meinen Hund, der sich ausgiebig freute. In diesem Moment wurde ich hellhörig. Von oben kamen klopfende Geräusche und ich hielt inne. Wer war denn da?

Ich lief die Treppe hoch und warf meinen Schulrucksack achtlos unter den Schreibtisch. Dann zog ich mir die weiche Mütze vom Kopf, wobei meine Haare total zerzausten. Meine Wagen waren ganz rot geworden, fiel mir auf, als ich die Jacke auszog und über meinen Schreibtischstuhl hängte. Der Schal folgte. Dann lief ich nach drüben, von wo die Klopfgeräusche kamen. Ich steuerte immer weiter auf das letzte Zimmer im Gang zu, als ich Papa erkannte. Er saß auf der Erde und war dabei, mein neues Regal aufzubauen.

„Paps“, ich kletterte über die ganzen Einzelteile und hockte mich zu Papa auf die Erde.

„Hey, mein Schatz. Wie war die Schule?“, wollte er wissen und schraubte alles in einer Systematik zusammen, die mir an ihm völlig fremd war.

„Zwei Stunden Physik und dann Zeugnisse. Und das kennst du zu hundert Prozent schon.“ Ich sah meinen Dad prüfend an.

„Woher denn?“ Er zog grinsend die Augenbrauen hoch.

„Paps … Mama quasselt. Natürlich kennst du mein Zeugnis“, ich beugte mich vor und gab ihm den Schraubenschlüssel, den er mir in kaum verständlicher Handbewegung angedeutet hatte.

„Na gut, du hast mich erwischt“, Papa zwinkerte mir zu, dann holte ich mein Handy raus, machte kurz ein Foto und schickte es David.

„Dann weißt du ja sicherlich auch, dass ich mich in Englisch um zwei ganze Noten verbessert habe.“ Ich stand auf und ging auf die Balkontür zu. Ich warf einen Blick über die weitläufigen Koppeln. Von hier aus konnte ich bis zum Wald schauen. Diesen Ausblick würde ich demnächst jeden Tag haben, denn das hier würde mein Zimmer werden. Langsam stieg die Aufregung in mir hoch.

„Ja, das weiß ich. Und ich bin sehr, sehr stolz auf dich, meine Große“, Papa stand auf und legte mir einen Arm um die Schulter. Ich warf einen Blick zu ihm nach oben, bevor meine Augen wieder den Wald suchten. Dort vor der Tür war wie in meinem alten Zimmer auch ein Balkon, den ich durch eine Tür erreichen konnte. Auch wenn ich genauso weit schauen konnte wie in meinem alten Zimmer, war der Ausblick jedes Mal wieder atemberaubend.

Dann fand ich meine Stimme wieder. „Soll ich dir eben helfen?“, bot ich Papa an und dann zeigte er mir, wie man die Bedienungsanleitung richtig las. Wir bauten das Regal zu Ende auf und rückten es an die richtige Stelle. Im Anschluss schleppten Papa und ich auch meinen Kleiderschrank und den Nachttisch durch den Gang in mein neues Zimmer.

„Und ab jetzt ist das dein Reich“, Paps stand an der Tür zum Balkon und sah sehnsuchtsvoll aus dem Fenster. Alte Erinnerungen schienen in ihm hochzukommen.

Ich wollte die Stimmung lockern und warf mich auf mein Bett, das wir schon vor den Weihnachtsferien aufgebaut hatten. „Das wurde aber auch Zeit.“ Ich zwinkerte ihm zu.

„In diesem Zimmer stecken Erinnerungen von mir und deiner Mutter.“ Papa kam gedankenverloren auf mich zu und setzte sich auf die Bettkante.

„Welche Erinnerungen?“, wollte ich wissen und richtete mich ebenfalls auf.

Papa schaute nach draußen auf die Koppeln, sein Blick ging ganz in die Ferne, ins Leere, als wolle er seine Erinnerungen daraus zurückholen. In diesem Moment wurde mir zum ersten Mal klar, dass ich jeden Augenblick meines Lebens genießen sollte – sie gingen viel zu schnell vorüber.

„Geburtstage, Partys, Spieleabende, DVDs, Ausritte und unser erstes Mal“, Papa sah mich erst an, als er zu Ende gesprochen hatte. Ich war ein bisschen erstaunt, dass er so offen war. Ich wusste zwar von der vermeintlichen Schwangerschaft, als Mama sechzehn gewesen war, aber sie hatten nie wirklich so richtig darüber gesprochen.

 

„Wann war das eigentlich genau?“, fragte ich Papa und er schien genau zu wissen, was ich meinte, denn er fragte nicht noch mal nach.

„Das weißt du doch, an Mamas sechzehnten Geburtstag“, antwortete Papa und strich mir über den Kopf und ich ließ ihn gewähren, denn meine Haare waren sowieso zerzaust.

„Schon“, druckste ich herum. „Aber eher abends, morgens … Okay, sorry, dass ich so neugierig bin!“ Ich schämte mich für meine Neugier, schnappte mir ein Kissen und suchte zwanghaft nach einem neuen Thema.

„Mach dir keine Sorgen“, Papa lächelte mich an. „Wir wissen ja, dass du jetzt auch sechzehn bist.“ Er legte mir eine Hand auf den Oberschenkel. „David ist auch sechzehn und so eine Entscheidung kann auch mal ganz plötzlich und spontan kommen. Aber ich will, dass du weißt, dass du immer mit uns reden kannst, wenn du das möchtest.“ Papa sah mich eindringlich an.

Ich nickte. „Papa?“ Ich sah ihn abwartend an.

„Ja, Lotte?“ Er erwiderte meinen Blick.

„Ist das schwer?“, wollte ich wissen.

„Das erste Mal?“, fragte er mich dann.

Ich nickte. „Ja, das meinte ich.“

„Weißt du, Charlotte“, seufzte Papa. „Das alles beginnt nicht mit dem ersten Mal, sondern mit anderen Dingen davor. Küssen ist eine Sache davon“, erklärte mir Papa und in meinem Kopf malte sich ein Bild von dem, was er meinte. „Du musst dir also keine Sorgen machen, dass alles total ungewohnt ist“, beruhigte er mich dann.

„Irgendwie kann ich mir das gar nicht vorstellen“, erwiderte ich und wandte den Blick ab.

„Rede doch mal mit ihm über das alles“, schlug Dad dann vor.

„Mit wem?“ Ich hob erstaunt den Blick.

„Mit David. Er ist bestimmt froh, wenn du den ersten Schritt dazu wagst“, Papa zwinkerte mir zu.

„Du bist so doof!“ Rot werdend warf ich ein Kissen nach ihm. Es traf ihn.

„Was? Wieso denn ich?“ Papa stand auf und warf das Kissen zu mir zurück.

„Das ist doch meine Sache.“ Ich kugelte mich durch das Bett und warf ein weiteres Kissen auf ihn. „Außerdem weiß ich nicht mal, wie David dazu steht.“

„Frag ihn. Außerdem gehört er zu den männlichen Wesen dieser Erde“, Papa warf mir das Kissen wieder zu, ich warf es zurück.

„Was hat das denn damit zu tun?“ Ich stand auf und warf nur so mit den Kissen um mich; Papa lachte laut.

„Wie war das mit dem Testosteron?“, Papa zwinkerte mir zu, im nächsten Moment traf ihn ein Kissen am Kopf und wir lachten beide laut los.

***

„Charly, bist du mal bald fertig?“, quengelte Emilia und rüttelte an meinem Arm.

Wir standen vor einem Regal mit Handtüchern. Die Auswahl war riesig und ich wollte von jeder Farbe mindestens eines haben, wenn das Bad schon mir alleine gehörte. Blaue, rote, grüne und orangene Handtücher sammelten sich bereits in meinem Korb.

„Warte eben. Oder hilf mir, das wäre noch besser.“ Ich sah Emilia nicht an, während ich nach einem lila Handtuch Ausschau hielt, und schließlich machte sie sich stöhnend auf die Suche. Neben mir im Korb hatten sich neben den Handtüchern bereits Seife, Gläser, jede Menge Kosmetik, Shampoo und Haarspülung gesammelt. Emilia war im Badbereich fündig geworden und hatte einen Abzieher für die Duschkabine gefunden, der ebenfalls im Korb landete.

„Ich hab eines in Lila gefunden“, triumphierend hielt Emilia das Handtuch hoch.

„Super“, ich grinste sie an, dann packten wir das Handtuch in den Korb. Wir suchten nach Aufhängern, die wir mit einem Saugnapf befestigen konnten, einen Mülleimer, geflochtene Körbe und sonstigen Mädchenschnickschnack.

Als wir den ganzen Kram aufs Band bei der Verkäuferin legten, trafen wir auch wieder auf Annika, Bonnie, Kiara und Melina. Annika und Kiara hatten in einem anderen Laden nach einem Geschenk für Paul gesucht, Melina und Bonnie hatten sich im Klamottenladen nebenan etwas umgesehen.

„Habt ihr alles?“, fragte Annika in die Runde, als wir die Tüten nahmen und den Ausgang ansteuerten.

„Ich wollte noch nach neuen Klamotten schauen“, fiel Emilia ein und nahm mir eine der Tüten ab.

„Das trifft sich gut; ich brauche noch eine Kette“, Annika legte Emilia einen Arm um die Schulter und die beiden sahen sich grinsend an.

„Und ich brauche noch eine neue Jeans“, fügte Bonnie hinzu.

Melina hatte auch noch einen Wunsch. „Ich wollte in den Reitladen gehen, um für La Luna einen neuen Satz Hufglocken zu besorgen.“

„Dann komme ich mit. Vielleicht finde ich ja noch etwas für Alaska“, ich hakte mich bei Melina unter.

„Du hast doch zum Geburtstag jede Menge gekriegt, oder?“, fragte Annika stirnrunzelnd.

„Für ein Pferd kannst du nie genug haben.“ Ich zuckte die Schultern. „Außerdem kommen La Luna und Alaskas Mutter vom selben Gestüt“, brachte ich noch hervor, aber Annika winkte schon lachend ab.

„Stimmt auch wieder“, gab sie zu.

Dann erinnerte ich mich an eine Nachricht, die mir meine Cousine Hannah mal geschrieben hatte. „Hannah sagt beim Segeln immer: Ein Boot ist wie ein Loch im Wasser, in das du jede Menge Geld kippen kannst, aber das Loch wird niemals voll sein. So ist es beim Reiten auch!“

Alle lachten.

***

„Das war wieder erfolgreich!“ Melina grinste mich an. In ihrer Tasche hatte sie Hufglocken, Gamaschen, einen anderen Stirnriemen, eine Fliegenhaube und Pferdehaargummis. Das waren vier Sachen mehr, als wir geplant hatten, aber das war uns gerade ziemlich egal.

„Stimmt. Mal sehen, wie Alaska die Tiger-Look-Abreitdecke findet“, grinste ich.

Wir trafen lachend auf die anderen, die allesamt mit Taschen bepackt bei Starbucks saßen. Dann gingen wir noch kurz in einen Buchladen, weil das bei uns zum Shoppingritual gehörte, und im Anschluss ging es los Richtung Bushaltestelle. Mit dem Bus fuhren wir zurück zum Internat. Die Stimmung war ausgelassen, als wir das Internatsgelände betraten.

„Charlotte?“ Zoey kam auf mich zugerannt.

„Ja?“ Erstaunt drehte ich mich zu ihr um.

„Wollen du und David vielleicht mit mir und Jojo eine Gruppe für die Reiterspiele bilden?“, fragte sie mich dann.

„Ähm, ich ja, aber ich weiß nicht, was David meint“, erwiderte ich wahrheitsgetreu.

„Jojo hat ihn schon gefragt. Er hat nichts dagegen, wir sollen nur noch dich fragen“, Zoey grinste mich an und dann lächelte ich zurück.

„Dann also Ja.“ Ich schenkte ihr ein Lächeln.

„Cool. Ich freue mich“, sagte Zoey erfreut, dann verabschiedeten wir uns voneinander. Die Mädels und ich machten uns auf den Weg zum Internatsgebäude.

„Dann bilden wir ein Team“, Annika zog Emilia zu sich. „Mit Samuel und Elias.“

„Kiara und ich machen mit Niklas und Jonas zusammen die Gruppenarbeit“, erzählte Melina und zeigte Kiara ihre Shoppingergebnisse.

„Mit wem arbeitest du zusammen, Bonnie?“, fragte ich meine Freundin.

„Mit Jana“, antwortete sie.

„Mit Jana? Aber die ist doch noch gar nicht da, oder?“, wollte Annika erstaunt wissen. Wir alle hatten schon von Jana gehört, denn zu Weihnachten hatte Mama verkündet, dass wir eine neue Schülerin bekamen und sie in unserem Jahrgang war.

„Sie reist morgen an“, klärte ich sie auf.

„Ja, das Team steht schon, weil Herr Haupt glaubt, dass wir wahrscheinlich gut zusammen arbeiten können werden und deswegen ein Team bilden sollen“, Bonnie lächelte.

„Dann kannst du sie ja mal mitbringen zu uns. Vielleicht hat meine Mutter recht und wir werden uns gut mit ihr verstehen“, schlug ich vor und Bonnie nickte. Dann schrieben wir den Jungs, um uns mit ihnen im Heu zu treffen.

***

Im Heu knackte es irgendwo. Bonnie schniefte kurz. Die Tüte, in der sich die Kekse, knisterte laut, als Annika sie weitergab. Davids warme Hand legte sich auf meinen Oberschenkel, als er sich eine Flasche Wasser schnappen wollte. Emilia kuschelte sich an Elias‘ Schulter, der sie verliebt anlächelte.