Buch lesen: «Rettungskreuzer Ikarus 11 - 20: Verschollen im Nexoversum (und 9 weitere Romane)», Seite 10

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Obwohl Jason mit dieser Entgegnung nicht ganz zufrieden war, ließ er das Thema einstweilen fallen. Shilla war durcheinander und es gab keinen Grund, dass er ihr noch mehr zusetzte. Allerdings würde er sie nicht aus den Augen lassen. Irgendetwas von dem, was sie gesagt hatte, gefiel ihm nicht, doch er kam nicht darauf, was ihn störte.

Mist, dachte Jason. Wieder hatte sich keine Gelegenheit ergeben, reinen Tisch zu machen. Seit sie sich im Nexoversum befanden, hatte er mit ihr reden wollen, über sie, über sich … über sie beide. Doch immer war etwas dazwischengekommen, war der Augenblick ungünstig gewesen, und Jason gestand sich ein, dass er insgeheim sogar dankbar gewesen war, dass er aufs Neuerliche eine Ausflucht gefunden hatte, das Gespräch aufzuschieben. Niemandem hatte er je anvertraut, was ihm vor Jahren zugestoßen war und ihn zu dem geformt hatte, der er heute war … Es waren Erinnerungen, die er tief in sich vergraben hatte, die er nicht mehr an die Oberfläche seines Bewusstseins hatte dringen lassen wollen. Vielleicht würde Shilla entsetzt vor ihm zurückschrecken … Davor, gestand er sich ein, fürchtete er sich am meisten.

Bedauernd blickte Jason sie von der Seite an. Shilla beobachtete die Anzeigen auf ihrem Monitor und bemerkte es nicht. Ihre sonstige Sensitivität für ihn war … verschwunden. Die Vizianerin drohte ihm zu entgleiten und er war völlig machtlos.

Was hatte sie vorhin gesagt? Plötzlich wusste Jason, was ihn an ihren Worten irritiert hatte: »Oder soll ich irgendeinem armen Teufel das Gedächtnis aussaugen?« Das Gedächtnis aussaugen.

Nie hatte Shilla solche Worte verwendet. Auch ihre Fähigkeiten hatte sie stets behutsam und diskret eingesetzt, wenn es sich nicht hatte vermeiden lassen.

Es schwang etwas Düsteres und Bedrohliches in diesem Satz.

Jason hatte schon Menschen gesehen, denen das Gedächtnis ausgesaugt worden war. In seinen Gedanken tauchten die Gesichter von Frauen und Männern auf, die Opfer von inhumanen Experimenten skrupelloser Wissenschaftler geworden waren. Folter, Psychodrogen, Gehirnlobotomie und was sich die sadistischen Forscher sonst noch hatten einfallen lassen – fast jeder der Gemarterten war nach der Behandlung zu einem Idioten geworden. Abadoon war die Hölle gewesen … Und Joran …

Jason verdrängte die furchtbaren Bilder aus seinem Geist. Würde er die Vergangenheit nie hinter sich lassen können? Würde er erst Ruhe finden, wenn Joran und seine Handlanger für ihre Verbrechen bestraft worden waren? Wenn die tödlichen Lager auf Abadoon dem Erdboden gleichgemacht worden waren?

Das Gedächtnis aussaugen. Konnte Shilla das? Konnte die Telepathin … war sie wirklich zu etwas Derartigem fähig?

Eine Gänsehaut überzog plötzlich Jasons Haut.


Commander Charkh saß regungslos in seinem Sessel. Die langen Beine hatte er bequem gefaltet. Allein zwei Punktaugen richteten sich als Zeichen für seine Aufmerksamkeit auf Sessha.

Die hochgewachsene Hashura erstattete Meldung. »Sir, Crii-Logan sandte das vereinbarte Signal. Unser Mann besitzt alle relevanten Informationen.«

»Danke.« Der Arachnoid entspannte sich, indem er die Beine noch etwas näher an seinen Körper heranzog. Im Moment gab es für ihn nichts zu tun.

Als sich Sessha nicht entfernte, fragte er leicht indigniert: »Ist noch etwas, Nummer zwei?«

Prompt ertappte er sich dabei, seine Vorderbeine reiben zu wollen. Es gelang ihm einfach nicht, in der Nähe eines Weibchens eine vage Nervosität zu unterdrücken, selbst dann nicht, wenn es einer anderen Spezies angehörte, für ihn keinerlei anatomische Reize besaß und völlig ungefährlich war. Natürlich schätzte Charkh seinen Zweiten Offizier und jedes andere weibliche Crewmitglied sowohl als Person wie auch als wertvollen Mitarbeiter. Aber mussten sie ausgerechnet Weibchen sein? Er bemühte sich, seine Unruhe vor Sessha zu verbergen.

Die Nähe des Angeli-Weibchens hätte ihn sogar fast in Angststarre fallen lassen … Kein Zweifel, die Besucherin war eine Angeli, denn sie verfügte über die legendäre Macht, in Köpfe zu schauen, Furcht in die Herzen zu pflanzen und zu lenken. Zum Glück war die Bevollmächtigte nicht mehr an Bord. Aber noch wichtiger war, dass sie nichts bemerkt hatte, obwohl sicher jeder von ihr der Prüfung unterzogen worden war.

Sessha biss sich auf die volle, blassrosa Unterlippe. »Was meinen Sie, Sir? Sind die beiden wirklich …?«

»Wir werden es bald wissen«, entgegnete Charkh absichtlich knapp, um eine Diskussion zu unterbinden. Spekulationen waren ohnehin fruchtlos. Bald würden sie Fakten haben – und handeln können.

Der Lakai war sympathisch gewesen, ein interessanter Mann, gerissen und zweifellos gefährlich, machte man ihn sich zum Feind. Er schien aber auch … sonderbar. Vielleicht hatte er dieses wichtige Amt noch nicht lange inne oder er war … was? Und was war dann die Angeli?

Was auch immer die Wahrheit sein mochte, hoffentlich trübte Sesshas Interesse an dem Lakaien dann nicht ihr Urteilsvermögen. Dass die Humanoiden aber auch ständig paarungsbereit sein mussten …

Endlich ging das Weibchen auf seinen Posten. Der Arachnoid atmete erleichtert auf und begann, von seiner weit entfernten Heimatwelt zu träumen. Dort herrschte das ganze Jahr über dasselbe trockenheiße Klima, nach dem er sich zunehmend sehnte, seit seine Gelenke aufgrund der Feuchtigkeit an Bord der Sentok knacksten. Es war eine schöne, friedliche Welt, die dem Nexus nicht viel zu bieten hatte, sodass man seine Bewohner weitgehend unbehelligt ließ. Jeder ging seiner Beschäftigung nach, einmal im Jahr paarte man sich mit einem Weibchen … Er zitterte und rieb seine Vorderextremitäten. Hatten die Humanoiden ihn etwa angesteckt? Er verdrängte die unwillkommenen Fantasien an paarungswillige Weibchen seiner Art.

Die nächsten Stunden mochten die Ruhe vor dem Sturm sein und er wollte sie nicht in Angststarre verbringen …


Auf Reputus wurden Jason und Shilla überschwänglich von einer Abordnung der Administration empfangen. Zur Überraschung des Händlers, der sich Gedanken über die Dauer ihres Aufenthalts und die Bezahlung gemacht hatte, erklärte man, die Celestine bevorzugt zu behandeln, und natürlich fielen dafür keinerlei Kosten an, denn es war für den ganzen Planeten eine große Ehre, dass eine Edle Bevollmächtigte ihren Fuß auf seine Oberfläche gesetzt hatte.

Das Begrüßungskomitee buckelte devot, was insbesondere bei den Nichthumanoiden in merkwürdige Verrenkungen ausartete. Sie alle drängten sich um Jason und Shilla, einige versuchten sogar, das Gewand der Bevollmächtigen heimlich zu berühren, was zur Folge hatte, dass sich die Vizianerin noch dichter an Jason drängte, was ihm unter anderen Umständen weiche Knie beschert hätte. Gesäuselte Komplimente und Beteuerungen, den Gästen jeglichen Wunsch erfüllen zu wollen, begleiteten die enervierende Zeremonie.

Sie benahmen sich, als wären sie high, bemerkte Jason, berauscht von Shillas unwiderstehlichen Pheromonen … Verrückt!

»Gewiss«, dachte er sarkastisch, »werden sie sich hüten, einen anderen Gedanken als das übliche Die Bevollmächtigte muss zufrieden sein an die Oberfläche kommen zu lassen. Langsam begreife ich, dass diese einstudierte Litanei mehr als eine Höflichkeitsfloskel ist. Sie scheint den Leuten zu helfen, ihre wahren Gedanken vor Telepathen zu verbergen. Die Angst vor den Angeli muss immens sein, wenn niemand auch nur für einen Moment seinen Schutz vernachlässigt. Dabei haben deine mysteriösen Verwandten sicher Besseres zu tun, als jedem Bürger des Nexoversums ins Gehirnskästchen zu schauen.«

»Du hast recht«, stimmte Shilla ihm zu. »Einmal abgesehen davon, dass die Muster fremdartig und schwer zu interpretieren sind, kann ich wirklich nichts anderes auffangen als Gleichmütigkeit und das Bedürfnis, uns zufriedenzustellen – wie ich es auch auf der Sentok wahrnahm. Es gibt keine negativen Emotionen, niemand stellt unsere Identität infrage. Die Gedanken sind zu … einheitlich, um echt zu sein. Es müsste doch wenigstens ein paar kritische Meinungen geben, aber nichts, jeder strahlt dieselbe Freundlichkeit und Unterwürfigkeit aus.«

Jason konnte ein dünnes Lächeln nicht unterdrücken. »Jedenfalls zeigt uns das, dass die Völker mit der Herrschaft des Nexus weniger glücklich sind, als sie vorgeben, und zum Widerstand bereit sind. Immerhin haben sie eine Möglichkeit gefunden, ihre wahren Empfindungen vor Telepathen geheim zu halten.«

Mit einem Fahrzeug brachte man die Gäste in ein nahes Hotel, das von den Besatzungen der Schiffe genutzt wurde, die sich längere Zeit auf Reputus aufhielten.

Unterwegs stellte Jason fest, dass der Planet tatsächlich so trostlos war, wie er vom Orbit aus und auf den Fotos gewirkt hatte. Wohin Jason auch blickte, überall gab es nur Zweckbauten und kein bisschen Grün. Die Luft war zwar atembar, jedoch lagen die Werte für einige Schadstoffe jenseits der Toleranzgrenze, wie eine Analyse ergeben hatte. Die veralteten Wiederaufbereitungsanlagen schafften es nicht, alle giftigen Substanzen herauszufiltern.

Ein Stück vom Raumhafen entfernt mischten sich hässliche, graue Wohngebäude und Freizeitanlagen zwischen die Fabriken. Es waren ausnahmslos quaderförmige Hochhäuser mit genormten Fenstern und Eingängen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, hier und da individuelle Zierden anzubringen oder Farbakzente zu setzen. Ob es in den privaten Heimen auch so trist aussah – oder verbargen die nüchternen Wände kleine Oasen der Behaglichkeit?

Je näher man dem Stadtbereich kam, umso häufiger waren Arbeiter und Spaziergänger auf den Straßen zu sehen. Der humanoide Typus schien den größten Prozentsatz der Bevölkerung zu stellen, aber zwischen ihnen bewegten sich viele andere Wesen, die es aus welchen Gründen auch immer hierher verschlagen hatte. Wer die gebürtigen Reputaner waren, falls es überhaupt eine höher entwickelte einheimische Spezies vor der Urbarmachung des Planeten gegeben hatte, ließ sich nicht erraten.

»Hier möchte ich nicht meinen nächsten Urlaub verbringen«, dachte Jason. »Wie halten die Leute diesen Dreck und die trostlose Umgebung nur aus?«

»Sie sind nichts anderes gewöhnt«, hörte er Shilla. »Was man nicht kennt, vermisst man nicht. Vermutlich sind die Zustände auf den anderen Welten nicht viel besser. Was hat der Nexus bloß davon, die Gesundheit seiner Völker zu ruinieren? Sind die Leute krank, arbeiten sie weniger effizient.«

»Aber sie haben andere Sorgen, als eine Rebellion vorzubereiten. Nicht nur fehlt ihnen das notwendige Wissen über die Unterdrücker und ihren Aufenthaltsort, sie haben keine gleichwertige Technik, um sich im Fall einer Auseinandersetzung auch nur schützen zu können. Sie verbrauchen ihre Kraft damit, ihre geheimen Gedanken zu verbergen und in einer ungesunden Umwelt zu überleben.«

»Was für ein teuflisches Kalkül! Selbst die Hölle kann kein schlimmerer Ort sein.« Unwillkürlich schauderte Shilla.

Jason schnaubte. »Solche Mittel werden nicht nur im Nexoversum angewandt … Was glaubst du, wie der Kaiser sein Multimperium zusammenhält? Vielleicht sind seine Maßnahmen nicht ganz so drastisch, aber sie basieren auf demselben Prinzip. Ich selber war auf einer Welt …« Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen, den fragenden Blick Shillas ignorierend.

Um sich abzulenken, erkundigte er sich bei ihren Begleitern nach den Begebenheiten auf Reputus, erfuhr aber nicht viel mehr, als er bereits aus der Datenbank der Sentok erfahren hatte oder mit eigenen Augen sehen konnte.

»Sieh nur«, hörte er Shilla, »überall patrouillieren Uniformierte. Das ist bestimmt kein Ehrengeleit für uns und für eine einfach lokale Polizeitruppe erscheinen sie mir zu gut bewaffnet.«

Jason gab die Frage weiter.

Die kakifarbenen Uniformen trugen die Angehörigen der Sicherheit, wurden sie aufgeklärt, deren Aufgabe es war – natürlich! –, für Sicherheit zu sorgen. Bei dieser Antwort sträubte sich Jasons Bart. Äußerlich ruhig bleibend, innerlich jedoch lästerlich fluchend, verlangte er zu erfahren, wer denn auf dieser wunderschönen Welt die Ruhe stören mochte. Am liebsten hätte er sich die Finger in die Ohren gesteckt, als der sattsam bekannte Sermon folgte, dass Reputus eine treue Welt des Nexoversums sei und garantiert kein Anlass bestand, an der Loyalität der Bewohner zu zweifeln. Die Präsenz der Sicherheit wäre nichts Außergewöhnliches und diene lediglich dem Schutz der Bevölkerung für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich Rebellen von anderen Planeten unter sie zu mischen versuchten. Auf Reputus gab es keine Rebellen, ganz gewiss nicht, die Sicherheit sorgte für Ordnung. Hoffentlich war die Edle Bevollmächtigte zufrieden?

»Der Nexus hat seine Augen und Ohren überall«, stellte Jason fest. »Es gibt offenbar doch die eine oder andere versprengte Gruppe Unzufriedener. Es ist nur fraglich, ob hier jemand lange genug auf freiem Fuß bleibt, um einen Widerstand zu organisieren und die Aktionen der einzelnen Untergrundorganisationen zu koordinieren. Vielleicht können uns die Rebellen helfen?«

»Wie?« Shilla schien nicht überzeugt. »Mit uralter Technologie, wie wir sie in der Sentok gesehen haben? Oder wie sie auch auf Reputus gebräuchlich ist? Nein, Jason, wir müssen den Nexus oder zumindest seine unmittelbaren Handlanger ausfindig machen. Nur sie haben, was wir brauchen. Wir müssen nach Imasen.«

Schon wieder Imasen, dachte Jason besorgt. Was zieht sie dorthin?

Das Hotel unterschied sich äußerlich überhaupt nicht von den anderen Bauten. Hätten nicht die qualmenden Schlote gefehlt, hätte es durchaus eine Fabrik sein können. Die Zimmer boten Jason und Shilla einen erstaunlichen Komfort, der den der Gästekabinen auf der Sentok weit übertraf. Bestimmt waren die Räume für normale Besucher schlichter.

Nun blieb ihnen nichts anderes übrig, als auszuharren, bis die Reparaturen abgeschlossen waren. Kurz überlegte Jason, ob er um eine Besichtigungstour bitten sollte, verwarf den Gedanken jedoch sofort. Es war zu riskant, sich draußen umzusehen, den Kontakt zu den Einheimischen zu suchen und entlarvt zu werden, nachdem sie so weit gekommen waren.

Shilla beschloss, die Datenbanken auf Reputus nach weiteren Informationen durchzusehen, während Jason die undankbare Aufgabe zufiel, den aufdringlichen Zimmerdiener – oder war es ein Mädchen? Jason musste zweimal hinsehen und war sich immer noch nicht völlig sicher – abzuwimmeln, dessen Obhut sie nach ihrer Ankunft im Hotel anvertraut worden waren.

Dieser überschlug sich fast in seinem Bestreben, den erlauchten Gästen gefällig zu sein. Falls sie Auskünfte wünschten, neue Kleidung benötigten, an einer Besichtigung der Industrieanlagen Interesse hätten oder doch eher an der Vergnügungszone …

»Ich stehe Euch zur Verfügung, Herrlicher Lakai«, erklärte der junge Mann, »in jeglicher Hinsicht.« Vertraulich berührte er Jasons Arm. Dann blinzelte eines seiner mandelförmigen Augen – zweideutig, viel zu zweideutig, wie Jason fand. »Ihr braucht nur nach Taisho zu rufen. Ich bin immer …«

»Die Bevollmächtigte und ich sind zufrieden«, versicherte Jason hastig. »Wir hatten eine anstrengende Reise und wünschen im Moment nur Ruhe.« Endlich hatte er ihn – oder doch sie? – zur Tür hinausgedrängt und hieb auf den Schließmechanismus, bevor der Hotelangestellte weitere Angebote unterbreiten konnte.

»Chikuso!«, zischte es von draußen, und der Kommunikator weigerte sich zu übersetzen …

Nun war Jason überzeugt, dass es ein Er war.

Es verschaffte ihm eine gewisse boshafte Befriedigung – ja, der Herrliche Lakai war sehr zufrieden! – zu sehen, dass ein Fetzen des papageienbunten Gewandes zwischen Tür und Rahmen eingeklemmt worden war. Sollte der Kerl ruhig etwas zappeln, bis er freikam!

»Es scheint, als hättest du einen Verehrer gefunden«, stellte Shilla mit gutmütigem Spott fest. »Bestimmt verspricht er sich eine Verbesserung seiner Situation, wenn er dein Wohlwollen erlangt. Er ist doch ganz niedlich, findest du nicht?«

»Shilla …!« Jasons Gesicht nahm die Farbe seines Haares an. »Ich mache mir nichts aus Männern …«


Nachdem Shilla festgestellt hatte, dass keine relevanten Informationen vorhanden waren, die sie nicht schon im Computer der Sentok gefunden hatte, gab sie ihre Bemühungen auf. Der Virus, den sie in das Netzwerk eingeschleust hatte, würde automatisch alle Daten, die sie und Jason betrafen, aufspüren, modifizieren und sich anschließend selbst vernichten.

Als sie sich in ihren Schlafraum zurückzog, begab sich Jason in sein eigenes kleineres Zimmer. Er war dankbar für die Verbindungstür, die es ihm ersparte, dem lästigen Zimmerdiener begegnen zu müssen, der zweifellos im Korridor lauerte, falls man seiner bedurfte.

Nachdem sich Jason gewundert hatte, weshalb über einen Lautsprecher, der oberhalb der Toilette angebracht war, eine sanfte Stimme erklärte, das man nicht zu lange verweilen durfte und nach der Benutzung immer den Deckel schließen musste – natürlich ließ er ihn absichtlich offen –, duschte er, legte sich in das viel zu weiche Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Er träumte, dass die Celestine von einer gigantischen Spinne, die aus der Toilette gekrabbelt war, mit einem dichten Netz umwoben wurde. Das Monstrum hatte verblüffende Ähnlichkeit mit Commander Charkh. Vergeblich versuchte Jason, sein Schiff, das plötzlich auf Spielzeuggröße geschrumpft war, von den klebrigen Fäden zu befreien. Die Verzweiflung drohte ihn zu übermannen: Wie sollte er jemals wieder nach Hause gelangen ohne seine Celestine? Und wo war überhaupt Shilla? Die Vizianerin saß mit einem Mal auf der Spinne. Ihr violettes Haar hatte sich in peitschengleiche Tentakel verwandelt, die sich in körperlose Köpfe bohrten und sich von diesen nicht eher zurückzogen, bis diese sich in gesichtslose Ovale verwandelt hatten. »Shilla!« Jason rief wiederholt ihren Namen, aber sie drehte sich kein einziges Mal um, als sie auf der Spinne davonritt. Hoffnungslos und einsam blieb er zurück, während sich Shilla und ihr Reittier auflösten. Auch das Schiff verschwand. »Ich stehe Euch zur Verfügung, in jeglicher Hinsicht.« Ein bunter Schal flatterte vorbei. Dann schlangen sich zwei starke Arme um seinen Körper. »Komm schon, Süßer!« Jason riss sich los und begann zu rennen …

Keuchend erwachte er.

Jason brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Schließlich fiel ihm ein, dass er sich in einem Hotelzimmer befand und nicht in seiner Kabine an Bord der Celestine. Er blickte auf die schmucklose Tür, hinter der Shilla ruhte.

Schlief sie wirklich? War alles in Ordnung? Er konnte sich nicht an die Einzelheiten seines Traums erinnern, aber er wusste noch, dass darin etwas mit Shilla passiert war. Scheißtraum, dachte er. Die Ereignisse der vergangenen Tage und die Sorge um den Zustand der Vizianerin hatten auch bei ihm ihre Spuren hinterlassen; er war gereizt und nervös.

Seiner Intuition folgend, schlug Jason die leichte Decke zurück und schlüpfte in die Hose, die er zuvor mit den übrigen Kleidungsstücken achtlos hatte auf den Boden fallen lassen. Lautlos öffnete er die Tür und glitt in die benachbarte Suite. Dämmriges Licht wies ihm den Weg durch die Zimmerflucht. Er schlich in die abgedunkelte Kammer und blieb neben dem breiten Bett stehen. Wenn Shilla jetzt erwachte, würde sie ihn zweifellos verspotten, aber das war Jason lieber, als aufgrund idiotischer Anstandsregeln etwas zu übersehen – beruhte es auch nur auf einer dunklen Ahnung – und Shilla zu verlieren.

Plötzlich wurde er sich bewusst, wie heftig sein Herz klopfte. Mit angehaltenem Atem beugte er sich herab.

Shilla ruhte zwischen edlen Kissen. Gespenstisch hell hob sich ihre zartblaue Haut von den dunkleren Stoffen ab. Strahlenförmig umflossen die seidigen Locken das aparte Gesicht der Vizianerin. Spitze Ohren ragten aus der üppigen Flut langer Haare. Das gleichmäßige Heben und Senken ihrer unbedeckten Brüste verriet Jason, dass sie tief und fest schlief – und ganz sicher keine Albträume hatte.

Der exotische Duft nach Vanille, Sandelholz und Patchouli, der Shilla umgab, umnebelte seine Sinne. Die erotisierende Wirkung ihrer Pheromone schien intensiver als sonst … Oder bildete er sich das nur ein? Er konnte nicht anders, als sie anzustarren. Als er merkte, dass sein Mund offen stand und ihm gleich ein Speichelfaden übers Kinn fließen würde, schloss er ihn und kam sich wie ein Trottel vor. Zögernd streckte er seine Rechte nach Shilla aus, um ihre Wange zu berühren.

Obwohl sie Monate zusammen in der Celestine auf engstem Raum verbracht hatten, war er ihr nie so nahe gewesen. Sie hatte ihn niemals aufgefordert, das Bett mit ihr zu teilen, und selbst wenn, dann wäre er der Einladung nicht nachgekommen. Seit jenem verhängnisvollen Aufenthalt auf Elysium, als er das Pech gehabt hatte, an das falsche Mädchen zu geraten, das ihm ein unangenehmes Andenken hinterlassen hatte, unter dessen Spätfolgen er immer noch litt, war er nicht mehr …

Scheiße!

Violette, fast schwarze Augen öffneten sich.

Er trat einen schnellen Schritt zurück und richtete sich auf. Seine Wangen brannten heiß. Unter ihrem durchdringenden Blick fühlte er sich wie ein ungezogener Junge, der verbotenerweise Kraki-Gelee genascht hatte.

»Jason. Was ist los?«

Wie viel von seinen Gedanken hatte sie gelesen? »Nichts … Ich wollte nur … wollte … äh …«

»Du hast dir Sorgen gemacht?«

Er nickte hastig. Sein Mund war trocken wie eine Sandwüste. Kam das auch von ihren überwältigenden Pheromonen? Die dunklen Spitzen ihrer Brüste hatten ihn zweifellos hypnotisiert. Es gelang ihm nicht, seine Augen von ihnen zu lösen. Er schluckte krampfhaft.

Shilla richtete sich etwas auf, wobei die Decke noch ein Stück tiefer rutschte. Ein hungriger Ausdruck begleitete ihr Lächeln, das die feucht schimmernden Lippen leicht teilte. »Das ist … nett von dir.«

Jason grinste verlegen und, wie er vermutete, blöde.

Ehe er reagieren konnte, schossen Shillas Hände nach vorn, bekamen seinen Hosenbund zu fassen und zogen ihn mit erstaunlicher Kraft näher. Er stolperte vorwärts und fiel über die Vizianerin. Warme Arme legten sich um ihn. Zarte Finger streichelten seinen Nacken, spielten mit seinem Haar und ließen ihn wohlig schaudern.

»Shilla …«, stammelte er, »was …?«

Der leidenschaftliche Kuss erstickte jedes weitere Wort.

Jason konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das war exakt, wovon er seit einer Ewigkeit träumte, aber er hatte nicht erwartet, dass seine geheimen Wünsche ausgerechnet hier und jetzt unmittelbar vor ihrer Erfüllung stehen würden – und obendrein zu einem Zeitpunkt, an dem sein Leiden noch nicht kuriert war. Was sollte er nur tun? Shilla würde enttäuscht sein …

Seine Hände entzogen sich der Kontrolle durch sein Gehirn und machten sich selbstständig.

Flüchtig blitzte der vage Gedanke auf, dass dieses Verhalten ungewöhnlich für Shilla war. Mit keinem Wort, mit keiner Geste hatte sie je angedeutet, dass sie Interesse an ihm hatte. Wieso ausgerechnet jetzt? Vielleicht sollte Jason besser …

Spielerisch biss sie ihm in die Unterlippe und begann, an dieser zu saugen, dann erforschte ihre flinke Zunge seinen Mund. Leidenschaft schwemmte jegliche Bedenken aus Jasons Verstand und er antwortete ihr mit demselben Verlangen, als der gesteigerte Pheromonausstoß eine heilende Konzentration erreichte …

Seine Küsse hinterließen eine feuchte Spur entlang ihres Kinns, er leckte an ihrem Hals und knabberte sanft an ihrer Schulter. Nicht nur duftete sie köstlich, sie schmeckte sogar lecker. Jason fegte die Decke zur Seite und fingerte am Verschluss seiner Hose. Musste das Mistding ausgerechnet in einem solchen Moment klemmen?

Er beschloss, jeden Zentimeter des herrlichen Körpers, der voller Versprechungen unter ihm wartete, abzulecken und dann …

Genauso überraschend, wie Shilla ihn umarmt hatte, stieß sie ihn plötzlich von sich. »Sie kommen!«

Völlig verwirrt blieb Jason einen Moment auf dem Rücken liegen und beobachtete verständnislos, wie sich Shilla hastig ankleidete.

Was war los? Warum …? Ihre Worte ergaben nicht den geringsten Sinn. Was hatte sie überhaupt gesagt?

Dann begriff er.


»Scheiße!«

Ausgerechnet jetzt! Dabei hätte es so schön werden können …

Fluchend eilte Jason in sein Zimmer, streifte sich Hemd, Jacke und Stiefel über, prüfte flüchtig das Vorhandensein aller darin verborgenen Gegenstände. Sicher würde er das eine oder andere davon gleich brauchen. Von den handlichen Mikrobomben in der Knopfleiste ging ein beruhigendes Gefühl aus.

»Wie viel Zeit haben wir?«, fragte er stumm.

»Nicht mehr viel«, empfing er die Antwort. »Sie befinden sich noch in den Aufzügen, haben aber gleich unsere Etage erreicht. Leider habe ich sie nicht früher bemerkt. Es sind zahlreiche Gäste im Hotel … die vielen fremdartigen Muster … es ist nicht leicht, etwas herauszufiltern.«

»Was wollen sie?«

»Uns möglichst unversehrt festnehmen und verhören.«

»Was hat uns verraten?«

»Das konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Die Soldaten der Sicherheit sind einfache Befehlsempfänger, die nichts Konkretes wissen. Sie sind völlig konsterniert, dass jemand die Dreistigkeit besitzt, sich als Bevollmächtige und Lakai auszugeben.«

»Wie viele?«

»Etwa zwanzig, vielleicht ein paar mehr. Sie nähern sich getrennt. Die eine Hälfte will sich an deiner, die andere an meiner Tür postieren. Sie sind überzeugt, leichtes Spiel zu haben, da sie uns ahnungslos wähnen.« Shilla erschien in Jasons Zimmer.

»Gibt es einen weiteren Ausgang aus dieser Suite?«

»Negativ. Was ist mit dem Versorgungsschacht hinter dem Speisenautomaten? Oder der Belüftung?«

»Es dauert zu lang, die Schächte freizulegen. Wenn wir Pech haben, sind sie zu eng für uns. Außerdem, wenn unsere Häscher herausfinden, dass wir diesen Fluchtweg gewählt haben, brauchen sie nur ein Gas in das System einzuleiten und zu warten, bis uns die Luft ausgeht.« Mit einem grimmigen Lächeln entsicherte Jason seinen Strahler. »Wir werden sie draußen überraschen. Gegen zehn Angreifer haben wir es leichter, als wenn sich beide Gruppen vereinen. Wir müssen sie überrumpeln, bevor sie uns ins Kreuzfeuer nehmen können.«

Als er die Tür aufstieß, bemerkte er, dass Shilla ebenfalls eine kleine Waffe in der Rechten hielt, die sie auf Betäubung einstellte.

»Riskant«, kommentierte er. »Wir wissen nicht, mit welchen Spezies wir konfrontiert werden. Manche vertragen mehr als die normale Dosis.«

»Und manche weniger«, erinnerte ihn Shilla. »Ich werde nicht töten, wenn es sich vermeiden lässt.«

Ehe sich Jason rechtfertigen konnte, dass auch er niemanden kaltblütig niederschießen wollte, jedoch einem Stunner von Soldaten, die sich hinter einer Deckung verschanzt hatten, nicht derselbe Respekt gezollt wurde wie einem Strahler, wieselte der Kammerdiener um die Ecke. Den hatte Jason völlig vergessen.

»Edle Bevollmächtigte, Herrlicher Lakai«, schmachtete Taisho Jason an und krümmte mehrmals ehrerbietig seinen Rücken, »kann ich Euch …«

Jasons Faust krachte gegen das Kinn des aufdringlichen Kerls, der schwer zu Boden ging. »Gute Nacht, Süßer

Seine Augen suchten den Flur nach einem Fluchtweg ab.

»Dort drüben.« Shilla wies auf ein Schott.

Jason stieß es auf, fand sich jedoch in einer Abstellkammer wieder. Bei der nächsten Tür hatten sie mehr Glück. Für den Fall, dass die Aufzüge versagten, gab es eine Nottreppe, die jedoch für andere Wesen konstruiert schien oder für langbeinigere Humanoide. Die Höhe der Stufen entsprach nicht der vertrauten Norm. Das würde ihr Fluchttempo etwas verlangsamen. Die nach oben führenden Stufen hingegen waren niedriger. War eine Evakuierung der Bevollmächtigten notwendig, erreichte sie schneller das Dach als die Ebene des Foyers und konnte mit einem Fluggefährt abgeholt werden. Diese Alternative hatten die Flüchtlinge jedoch nicht.

»Also nach unten!«, sagte Jason.

»Fünf Mann befinden sich im Treppenhaus … einige Etagen unter uns. Offenbar wurde nicht bedacht, um wie viel rascher die Aufzüge nach oben fahren. Wenn wir Glück haben, können wir ein oder zwei Stockwerke tiefer einen Lift rufen und einer direkten Auseinandersetzung ausweichen.«

Schweigend folgte ihr Jason, da er keinen besseren Vorschlag hatte.

Die Aufzugtüren glitten zur Seite, und mehrere Bewaffnete sprangen in geduckter Haltung in den Korridor. Sie entdeckten die beiden sogleich und Jason brauchte keinen Kommunikator, um zu verstehen, dass sie aufgefordert wurden, sich zu ergeben. Bevor sich das Schott surrend hinter ihm schloss, ließ er eine kleine Thermalbombe aus seinem Ärmelfutter rutschen und warf sie durch den enger werdenden Spalt. Die folgende Explosion setzte hohe Temperaturen auf engstem Raum frei, die genügten, um das Material der Tür anzuschmelzen und mit dem Rahmen zu verschweißen. Das würde die Verfolger hoffentlich eine Weile aufhalten.

Sie flogen förmlich die Stufen hinab. Von unten drangen die Geräusche schneller Schritte und atemloser Stimmen herauf, wurden immer lauter. Den erregten Worten zufolge hatte man die Gesuchten bereits bemerkt.

Shilla, immer noch zwei Schritte vor Jason, stieß das Schott zum nächsten Flur auf, blieb abrupt stehen, machte auf dem Absatz kehrt und drängte Jason weiter.

»Sie fahren zu dieser Etage runter.«

Jason war nun vor ihr. »Was ist mit dem nächsten Stockwerk?«

»Dort will uns die zweite Gruppe erwarten.«

Die Gegner zogen den Ring um sie immer enger.

»Wir haben also kein Glück …« Jasons Linke glitt in seine Beintasche und zog zwei Atemfilter heraus, ohne dass er sein Tempo verlangsamte. Eines der kleinen Geräte reichte er Shilla, das andere platzierte er über Nase und Mund. Aus der Jacke nestelte er einen zylindrischen Gegenstand. »Wo sind die Übrigen?«

»Noch drei Etagen unter uns.«

Bei der nächsten Kehre verharrten sie. Als die ersten Schatten auftauchten, drückte Jason den Auslöser und warf.