Buch lesen: «Tod auf Mallorca», Seite 4

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Ich lauschte, ob sich nicht jemand irgendwo in der Baracke versteckte. Nichts. Sie war nicht da. Ich würde wiederkommen müssen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Eilig verließ ich das Gebäude und nahm denselben Weg zurück, wie ich hergefunden hatte. Aber ich kam nur bis zur Biegung. – Dort stand ein schneeweißer Bullterrier. Ein junges, kräftiges Tier. Mit einem Nietenhalsband. Ohne Maulkorb. Er schnüffelte etwa fünfzehn Meter entfernt von mir herum, hob den Kopf, reckte die Nase in den Wind, entdeckte mich, sah mich neugierig an und hatte noch nicht entschieden, so glaubte ich an seiner Haltung ablesen zu können, mich zu zerfleischen oder mich als Gast in seinem Revier zu begrüßen. Letzteres war mir deutlich lieber.

Ich griff in meine Hosentasche und versuchte die Chorizo ganz langsam herauszuziehen. Gleichzeitig redete ich beschwörend auf ihn ein.

„Hallo, mein Bester. Ja, sei schön brav, jetzt gibt’s was Leckeres für dich. Was ganz Leckeres.“

Der Bullterrier hatte den Braten schon gerochen, ehe ich ihn aufgetischt hatte. Er kam, freudig mit seinem kaum vorhandenen Schwanz wedelnd, näher. Ich hatte Mühe, die Chorizo schnell genug aus dem Papier zu wickeln und ihm die Wurst hinzuwerfen, aber es gelang, ehe er mich erreichte. Er roch kurz an ihr und begann sie dann mit seinen kräftigen Kiefern zu zermalmen. Es knackte laut, dann hatte der Terrier mit einem einzigen Biss die Wurst in zwei Teile durchtrennt. Jetzt galt es für mich. „Adieu, Hundchen“, sagte ich und ging zuerst langsam, dann immer schneller von ihm fort. Der Hund folgte nicht, bemerkte ich durch einen Blick zurück; er war fasziniert von dieser Wurst.

Um die nächste Hausecke gebogen, begann ich zu laufen, ich sprintete.

Auf der langen rettenden Geraden zum Loch im Zaun – genau auf der Kreuzung zur letzten Quergasse –, fand meine Flucht ihr jähes Ende. Dort stand sie. Nicht die Rothaarige, sondern eine kleine, stämmige Frau, gekleidet in die hellblaue Uniform des Sicherheitsdienstes. Sie trug ein Pistolenhalfter um ihre breiten Hüften, in den Händen hielt sie einen Kunststoffstab an dessen Ende ein abgewetzter Tennisball steckte.

„Tijuana“, rief sie, „Tijuana, dónde estás? Ven!“

Aber anstatt ihres Diensthundes, sah sie mich vor sich. Wie ich aus vollem Lauf abbremste, dass der Staub nur so aufwirbelte. Sie sah, wie ich stehen blieb. Sie griff zum Halfter und zog ihre Pistole heraus. Ihre Hand zitterte leicht, während ich wie angewurzelt vor ihr stand und sie sich langsam, die Waffe vorhaltend, auf mich zu bewegte.

„Quien eres?“, schrie sie mich an. „Qué quieres? Vete!“

Ich verstand nicht. Und sie sah es.

„No trespassing. Go out!“, versuchte sie es erneut. „Betreten verboten. Gehen Sie!“

Ich hob abwehrend die Hände. Und nickte zum Zeichen, dass ich ihre Anweisung befolgen wollte.

Sie deutete mir mit ihrer Pistole den Weg hinaus. Ich setzte mich in Bewegung, es war beinahe vorbei und ich würde glimpflich davonkommen, doch ihr Bullterrier Tijuana machte mir einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Den Rest meiner Chorizo zwischen den Zähnen, kam er zwischen den Baracken hervor und lief zu mir hin, sprang fordernd an mir hoch. Die Frau schaute von mir zu Tijuana, zu seinem Maul und wieder zurück zu mir.

„Stopp!“, sagte sie kehlig. Ich blieb stehen, was mir mit dem um Wurst bettelnden Tijuana am Bein ziemlich leicht viel.

„Deutsch?“

„Ja“, sagte ich.

„Warum bist du hier?“

„Ich wollte eigentlich zur Bucht, suchte nach einer Abkürzung, und da bin ich hier gelandet.“

„Eine Abkürzung“, sagte die Frau gedehnt und entsicherte ihre Waffe.

„Und du hast dann Wurst mitgebracht, die du meinem Hund gibst.“

„Ja“, stotterte ich, „meine Wegzehrung. Ich liebe Chorizo.“

„Du bist gekommen, um herumzuspionieren. Was wolltest du hier?“

Ich schwieg und suchte nach einer Antwort, während mir Tijuana inzwischen die Hand leckte.

„Tijuana“, brüllte die Frau, „ven!“

Tijuana bellte beleidigt, dann trottete er zu seinem Frauchen zurück und schaute sie an, als wäre ihm gerade eine Laus über die Leber gelaufen. Er legte sich neben ihrem rechten Bein nieder und blickte sie erwartungsvoll an.

„Ich ...“, begann ich.

„Du wolltest zu Atma!“

Die Frau blinzelte mich an. Ich nickte.

„Du wolltest zu Atma ...“, wiederholte sie. „Was wolltest du von ihr?“

Ich war überrascht. Die Frau kannte die Rothaarige (die wohl Atma hieß, was das kleine Rätsel löste) und wusste von ihr. Ich räusperte mich.

„Ja. Ich wollte zu Atma. Sie hat mich um Hilfe gebeten.“

Die Frau schaute mich misstrauisch an.

„Was für Hilfe?“

„Das weiß ich selbst nicht so genau.“

Sie zögerte. Ihr Blick tastete mich ab. Sie nickte, nahm die Waffe herunter.

„Es geht mich nichts an. Ich weiß von nichts. Komm später wieder.“

Ich konnte es kaum glauben. Die Frau duldete die Rothaarige wohl auf dem Gelände. Sie schien meine Gedanken zu erraten.

„Wir sind alle Menschen, nicht wahr. Jetzt verschwinde. Ich habe dich nicht gesehen. Adios!“

Ich ging. Aber ich würde wiederkommen, um mit Atma zu sprechen. Soviel war klar. Wahrscheinlich mit einem ganzen Beutel voll von Chorizo.

4

Als ich zurück in Andratx war, wartete Peggy bestens gelaunt mit Neuigkeiten auf. Sie hatte nicht nur die Tapas längst vorbereitet. Sie war shoppen gewesen, hatte sich ein neues schwarzes Kopftuch gekauft, und damit gleich ihr Haar zurückgebunden. Sie sah klasse aus. Aber all das zeigte und erzählte sie mir nur nebenbei. (Irgendwie ging sie sehr freundschaftlich mit mir um, sehr vertraut, obwohl ich doch nur eine Nacht auf ihrem Sofa verbracht hatte und sie mich nur wenige Stunden kannte.) Mit der Nase stieß sie mich auf die Online-Meldung einer deutschen Mallorca-Zeitung. Ich schaute mir den Artikel auf ihrem Laptop an. Es ging um den Toten aus dem Hafenbecken. Ich filterte die Sätze nach neuen Informationen und war nach genauem Durchlesen doch einen ganzen Schritt weitergekommen. Man hatte den Mann identifizieren können. Er hieß Xaver Henner Müller. Er war dreiundsechzig Jahre alt gewesen, ein ehemaliger Schuhfabrikant aus Köln. Die Polizei sprach bei der Todesursache von einem Selbstmord, hervorgerufen durch eine schwere Tablettenvergiftung. Bei der Obduktion habe man zudem festgestellt, dass Müller an Lungenkrebs erkrankt gewesen sei.

Dieser seichte, sensationslose Polizeibericht war sogar der Gazette zuwider gewesen und machte noch keine echte Meldung aus. Man reicherte die Nachricht ein wenig an, und plötzlich, siehe da, gab es tatsächlich etwas Spannendes, was bei diesem Leichenfund von Interesse war. Sie schrieben nämlich, dass Müller vor längerer Zeit versucht hatte, eine Schuhfabrik in Inca zu betreiben. Der Unternehmer war damit aber kläglich gescheitert und hatte sich ruiniert. Er verlor dadurch seine Finca in Pollenca und sein Appartement in Magaluf. Da er aber die Insel so sehr liebte und niemals mehr nach Deutschland zurückkehren wollte, lebte er fortan auf seinem Boot Santo Domingo und schipperte an der mallorquinischen Küste von Hafen zu Hafen. Laut Aussage der Hafenmeisterei hatte das Boot seit längerer Zeit im Hafen von Soller gelegen, war aber nun verschwunden. Niemand wusste wo das Boot abgeblieben war. So folgte der Zeitungsbericht schließlich der Polizeiversion, dass Müller mit dem Boot ausgelaufen und dann unglücklich oder absichtlich von Bord gestürzt und ertrunken sein musste.

Es schien alles plausibel. Es gab keinen Haken an der Sache. Man würde das Boot irgendwann herrenlos auf See finden und damit hatte es sich. Es war kein Mord, kein Raubmord oder was man sich alles an Kapitalverbrechen sonst noch ausmalen wollte. Hatte Atma vielleicht nur gesponnen? War sie wirklich nicht ganz bei Trost?

Peggy machte nicht den Versuch, mir auszureden nochmal zur Terrapolis rauszufahren, aber ich bemerkte doch, dass sie dachte, es erübrige sich, während sie den Laptop zusammenklappte und ihn in der Schreibtischschublade verstaute.

Dennoch: Ich folgte meinem Instinkt, vielleicht vielmehr meinem Schuldkomplex und so hatte ich mich am frühen Abend wieder auf den Weg dorthin gemacht. Diesmal sogar vorsorglich mit zwei Chorizos im Gepäck. Um Peggy an ihrem Tapas Abend nicht zu kränken, hatte ich ihr versprochen, spätestens bis dreiundzwanzig Uhr wieder zurück zu sein.

In der Nähe des Schlagbaums angekommen, musste ich bemerken, dass eine Wachablösung stattgefunden hatte. Weder von diesem mir zuvor begegneten Sicherheitsmann, noch von der Wachfrau oder ihrem Bullterrier Tijuana war etwas zu sehen. Also begann das Spielchen von vorn. Ich ging so unauffällig wie möglich am Schlagbaum vorbei, die Straße entlang, suchte das Loch im Zaun auf, kroch hindurch und pirschte mich durch das Labyrinth von Baracken zum Gebäude Nummer 8 vor. Es klappte alles wie am Schnürchen. Ich betrat die Behausung, lehnte die Tür ein wenig an und rief nach ihr.

„Atma?“

Keine Antwort.

Ich rief nochmals. „Hallo? Atma?“

Keine Antwort. Ich durchsuchte jeden Winkel der Baracke. Sie war nicht da. Es folgte der unvermeidliche Blick auf meine Armbanduhr. Sie zeigte beinahe zwanzig Uhr dreißig. Was sollte ich tun? Atma konnte die Nacht woanders verbringen, sie war nicht verlässlich. Vielleicht würde sie nie wieder hierherkommen. Ihr konnte etwas zugestoßen sein. Ich würde niemals davon erfahren, denn wahrscheinlich kümmerte sich niemand um sie, achtete darauf, was sie tat und wen sie traf. Sie war hier stillschweigend geduldet, damit hatte es sich aber gewiss auch schon.

Ich kämpfte mit mir, aber ich verweilte schließlich in der Baracke und setzte mir eine Frist. Wenn sie bis zweiundzwanzig Uhr dreißig nicht zurück war, würde ich gehen.

Ich hockte mich auf eine der Matratzen und nahm mir die Bücher vor, die auf dem Boden lagen. Es war eigentlich zu dunkel im Raum um in ihnen zu lesen. Ich zündete eine Kerze an. Die Romane sagten mir nichts. Schnulzen, keine Bestseller. Unter den Büchern befand sich eine Bibel. Ich schlug den Buchdeckel auf und sah es sofort. Die erste Seite fehlte. Ich holte Atmas Skizzennotiz hervor und legte das Blatt an den eingebundenen ausgefransten Seitenrest in der Bibel an. Es passte exakt hinein.

Ich hatte begonnen in der Bibel zu lesen, hatte die Seiten durchgeblättert, ob Atma durch kleine Knicke Lesezeichen eingefügt hatte, aber ich wurde nicht fündig. Ich las ein wenig in der Bergpredigt. Darüber muss ich eingenickt sein.

Ich kam zu mir, als der Lichtstrahl einer Taschenlampe mir ins Gesicht stach und mich abrupt aus dem Schlaf riss. Ich blinzelte. Das grelle Weiß schmerzte in den Augen.

„Sie haben ein Gewissen“, hörte ich die Rothaarige sagen. Sie richtete die Lampe auf den Boden.

Nachdem das milchige Weiß vor meinen Augen verebbt war, konnte ich sehen, wie sie langsam näher kam. Sie schaute mich an, sah die Bibel in meinem Schoß liegen.

Dann ging sie hinüber zur anderen Matratze, ließ sich dort nieder, zündete zwei Kerzen an (meine war erloschen), stellte sie auf dem Estrich ab, so dass wir einander im schemenhaften Licht der Flammen ansehen konnten. Es war gespenstisch. Wir saßen eine Weile stumm da, unsere Silhouetten tanzten im flackernden Schein an den Wänden, ehe ich das Gespräch begann. (Ich hatte zu meiner Armbanduhr geblickt, hatte gesehen, dass es fast dreiundzwanzig Uhr war, und in diesem Moment wusste, ich würde mein Versprechen Peggy gegenüber nicht halten können.)

„Atma, wo waren Sie so lange?“

„Ich heiße nicht nur Atma. Ich heiße Alma. Nennen Sie mich Alma.“

„Sie heißen Alma Atma?“

„Ja. So heiße ich.“

„Und wie heißen Sie wirklich?“

„Ich heiße, wie ich heiße.“

Sie machte einen ganz aufgeräumten Eindruck. Meine Vermutung, es handele sich bei ihr um eine verwirrte Spinnerin, musste ich wohl revidieren.

Alma kicherte plötzlich. Sie griff unter ihre Matratze und holte eine kleine Flasche Weinbrand hervor. Sie nahm einen kräftigen Schluck und hielt mir die Flasche hin.

„Wollen Sie?“

Ich mochte Alma nicht zurückweisen, nahm die Flasche, wischte kurz über ihre Öffnung, setzte sie an die Lippen und trank einen winzigen Schluck von der braunen Flüssigkeit. Furchtbarer Fusel. Alma musterte mich.

„Hab gehört, Sie waren schon mal da. Ich hab Arbeit gesucht. Hat eine Weile gedauert. Und dann auch noch so ein Ding.“

„Was meinen Sie?“

„Richard. Rentner. Der Whisky war nicht schlecht, die Jacht auch nicht. Er hatte sogar Geschmack, was die Malerei anging. Hopper. Natürlich nicht echt. Oder auch Literatur. Allende. Aber sein bestes Stück war so groß wie eine Weintraube. Eine Weintraube zwischen zwei Haselnüssen.“

Sie kicherte wieder. „Große Jacht. Aber nur zwanzig Mäuse im Portemonnaie. So eine Pfeife. Ein vertaner Abend.“

Ich wollte Peggy nicht verärgern, ich wollte nur wissen, warum ich helfen sollte. Wenn Alma sich als Obdachlose durchs Leben schlug und ins Rentenalter gekommenen Urlaubern eine Handentspannung zukommen ließ – vielleicht sogar mehr – dabei konnte ich ihr weiß Gott nicht helfen.

„Alma, verzeihen Sie mir, ich habe noch eine Verabredung und es schien mir sehr dringlich, Ihr Anliegen am Hafen. Ich würde gern mit Ihnen plaudern, aber mir ist die Zeit heute ein wenig davongelaufen. Mein Nickerchen hat sein Übriges dazu getan. Was ist es denn, wobei Sie so dringend Hilfe benötigen? Und was hat das mit dem toten Mann im Hafenbecken zu tun?“

Alma zog die Nase hoch. „Keine Zeit. Stimmt. Ganz genau. Den Xaver Henner, den kenn ich. Kannte ich. Man hat ihn umgebracht. Bin ich mir sicher. Er war bei so einem Nervenarzt. Weil er merkte, dass seine Uhr, ich meine seine innere, nicht mehr rund lief. Er kam im Kopf einfach nicht mehr klar. Und da ist er hin, zu so einem deutschen Psychiater, der hat seine Praxis in Palma, hat er mir erzählt. Der Xaver. Und dann war er weg. Verschwunden. Hab ihn nicht mehr gesehen, bis er da wie ein Stück Treibholz herumtrieb. Die haben ihn plattgemacht.“

„Wer ist die?“

„Der Psychoheini. Oder die Pillendreher.“

Es juckte mich am Kopf. Ich kratzte dort. Das war mir doch ein bisschen zu sehr aus der Luft gegriffen.

„Die Zeitungen berichten anderes. Selbstmord, krebskrank.“

Alma winkte ab. „Die Zeitungen. Angepasste Hosenschisser. Die haben alle Dreck am Stecken. Erbärmlich.“

„Und deswegen waren Sie bei dem Kongress?“

Alma nahm die Weinbrand-Flasche von mir entgegen und trank wieder einen großen Schluck. „Ah. Das wärmt. Diesen Ärschen muss man Dampf machen. Paroli bieten.“

Ich runzelte die Stirn. „Aber ... wie soll ich da helfen? Ich bin einer von den Ärschen. Ich war da eingeladen. Ein Gast.“

Alma lächelte. „Unsere Blicke haben sich getroffen. Ich suche schon so lange nach einem guten Menschen. Einem guten Menschen, der hilft. Ich habe in Ihren Augen gesehen, dass Sie es sind. Dass Sie helfen können. Dass Sie nicht sind wie die anderen. Dass Sie diese Mischpoke von innen heraus zerstören. Ich dachte, ich hätte Sie verloren. Die Kerle haben mir Prügel angedroht, da an der Kongresshalle. Wahrscheinlich hätten sie mich totgeschlagen, wenn es hart auf hart gekommen wäre. Ich musste mich beugen. Oh, wie ich das hasse. Ich werde mich nie daran gewöhnen können. An diese Spielregeln, die das Leben mir aufzwängen will. Aber am Hafen, da hat der Zufall uns zusammengeführt und da war die Zeit für meine Botschaft gekommen. Meine Botschaft, die ich schon so lange mit mir herumtrug.“

„Sie meinen den Zettel. Den Sie mir in die Jacke gesteckt haben.“

Sie nickte. Ich senkte meinen Blick, dann sah ich wieder zu ihr hin. „Das war ein Kongress. Der ist vorbei. Da gibt es nichts mehr aufzumischen oder gegen irgendwas zu rebellieren. Und ich habe auch mit diesen Leuten gar nichts mehr zu tun. Ich will auch gar nichts mehr mit ihnen zu tun haben.“

Almas Züge verhärteten sich, sie duzte mich plötzlich. „Alles hängt zusammen. Du wirst schon sehen. Alles. Aber deshalb habe ich dich nicht gefragt. Nicht um Xaver Henners Mörder dranzukriegen.“

„Warum denn?“

„Meine Tochter. Sie ist fort. Wie vom Erdboden verschluckt.“

Treffer. Ihre Tochter. Ein Reizwort. Meine toten Töchter. Und meine Mia, von der ich getrennt lebe. Ich hatte keine Chance. Sie hatte mich geködert.

„Wie alt ist Ihre Tochter?“

„Ines? Dreiundzwanzig.“

„Sie ist alt genug. Sie kann gehen, wohin sie will.“

„Sie wollte nicht gehen. Sie ist verschwunden.“

Wieder so ein Reizwort für mich. Verschwunden. Vor Jahren hatte ich in meiner Praxis einen Klienten gehabt, dessen Freundin, eine ehemalige Erotikdarstellerin und Popsängerin, verschwunden war. Der Fall hatte mich ziemlich mitgenommen, als ich versuchte, meinen Klienten aus seiner psychischen Krise zu befreien. Ich hatte um meine Existenz fürchten müssen und war nur knapp einer Katastrophe entgangen.

„Na gut. Dann erzählen Sie. Alles was Sie wissen.“

Alma war – im Gegensatz zu dem bisherigen Verlauf des Gesprächs – von nun an ziemlich geradlinig in ihren Aussagen. Sie beschrieb mir in allen Einzelheiten, was sich zugetragen hatte.

Ich fasse ihren Bericht hier zusammen, so wie er sich in meinem Gedächtnis festgesetzt hat: Ines hatte, nachdem die Modeboutique ihrer Mutter pleitegegangen war, ihr Kunstgeschichte-Studium in Hamburg aufgegeben und war mit Alma nach Mallorca gezogen. Sie hoffte, sie könnte als Fremdenführerin arbeiten, aber das klappte nicht so wie gewünscht. Die Mutter verlor ihre Arbeit in einem Tierheim. So standen beide auf der Straße und wohnten – bereits nunmehr seit über zwei Jahren –, in dieser Geisterstadt, getrieben von der Hoffnung, wieder eine Chance für ihr Leben zu bekommen. Ines hatte immer daran geglaubt, dass es diese Chance auf ein neues Leben für sie gab. Sie wollte wieder zurück aufs Festland. Sie hatte darauf gespart, aber immer wieder war ihr Vorsatz wie weggewischt gewesen, wenn es darum ging, Mallorca für immer zu verlassen und sich damit auch von ihrer Mutter zu trennen. Da fehlte der Wille, der Insel den Rücken zu kehren. Man habe sich immer wieder gestritten, erzählte Alma. Ines habe es angeekelt, dass ihre Mutter sich an die „alten Säcke“ heranschmeißen musste, um zu überleben; die Tochter hatte sich hin und wieder mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Nach einem schlimmen Streit zwischen Mutter und Tochter habe Ines gesagt, sie werde woanders übernachten und sei danach nicht wieder in die Terrapolis zurückgekommen. Das war inzwischen ein halbes Jahr her. Alma hatte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Sie war bei der Polizei gewesen; sie hatte ihr letztes Geld zusammengekratzt und hatte Plakate drucken lassen und diese in allen größeren Orten aufgehängt. Niemand hatte Ines gesehen oder wusste, wo sie sich aufhielt.

Nachdem Alma mit ihrer Schilderung zu Ende gekommen war, brach die ganze Verzweiflung aus ihr heraus.

„Meine liebste Tochter“, sagte sie, „sie ist nicht gegangen. Ihr muss etwas zugestoßen sein. Und wenn sie tot ist, dann will ich es wissen, ich muss es erfahren. Meine kleine Ines.“

Sie weinte. – Ich musste meine Tränen unterdrücken.

„Was hat die Polizei denn gesagt?“, erkundigte ich mich.

„Nichts. Die korrupten Schweine. Es war hirnrissig, zu ihnen zu gehen. Wenn etwas Schlimmes mit Ines wäre, würde ich es nie erfahren.“

„Warum nicht?“

„Weil die hier unter einer Decke stecken. Alle wie sie da sind.“

Das war mir zu paranoid. „Die Polizei sucht nicht nach Ines?“

„Nein.“

„Und ich soll nach Ines suchen? Sie ist volljährig und kann tun und lassen was sie will, sie ist nicht unzurechnungsfähig oder braucht Hilfe, sie ist gesund. Warum soll man nach ihr suchen?“

Alma schaute auf. „Du bist ein guter Mensch. Ein Mensch, dem man vertrauen kann. Du wirst helfen. Es muss ihr etwas zugestoßen sein.“

„Aber, was macht Sie denn so sicher, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte? Vielleicht meldet sie sich bald ...“

Alma schaute mich mitleidig an.

„Du bist so ahnungslos. Sie hätte sich gemeldet. Wir hätten uns schon lange wieder versöhnt.“

„Und wenn sie diesmal eine Chance gefunden hat, aufs Festland zurückzukehren? Wenn sie gar nicht mehr auf der Insel ist?“

Alma begann vor Aufregung zu zittern. „Sie ist auf der Insel. So glaub mir doch.“

Ich dachte einen Moment nach, dann war ich mir sicher, was ich tun wollte.

„Also gut“, sagte ich. „Ich werde sie suchen. Gibt es einen Hinweis?“

Alma erklärte mir, dass Ines vorgehabt hätte, zu einem gewissen Pepe zu gehen, der ihr angeblich einen Job als Kellnerin in Palma verschaffen wollte. Ob sie für Pepe gearbeitet habe, wisse sie nicht. Alma habe das Restaurant, wo dieser Pepe mal gearbeitet hätte, aufgesucht, aber er sei nicht mehr dort aufgetaucht.

Als ich mich von ihr verabschiedete, drückte Alma mich so fest, dass ich kaum mehr atmen konnte. Ich spürte, wie sehr ihr Dank mir guttat. Wenn auch sie verschwitzt war, ausgezehrt und am ganzen Leib zitterte, es war, als ob ich seit langer Zeit wieder aufrichtige Nähe und Verbundenheit zu spüren bekam. Dieses Gefühl ging mir durch Mark und Bein.

Auf dem Rückweg hatte Alma mir den Weg mit ihrer Taschenlampe geleuchtet (keine Wache war diesmal weit und breit zu sehen – ich hatte Alma die Chorizos überlassen und ihr all mein Geld gegeben, das ich bei mir trug), sie war bis zum Loch im Zaun mit mir gegangen, hatte mein Gesicht gestreichelt. Und ich hatte es geschehen lassen. War ich von Sinnen, dass ich mich mit einer Frau wie Alma abgab? Dass ich nun ein verknittertes Foto von Ines in meiner Hosentasche trug. Der hübschen jungen Frau, die ganz nach ihrer Mutter kam.

Peggy hatte besorgt geschaut, als ich in ihrer Bar auftauchte. Tapas waren lange aus. Man trank Bier und Tequila. Es war brechend voll, dennoch nahm sich Peggy Zeit. Sie sagte nur, ich solle tun, was ich für richtig halte. Ich habe noch zwei doppelte Whiskys getrunken, dann bin ich hinüber ins Hotel gegangen. Ich konnte lange nicht einschlafen.

Am nächsten Morgen durchforstete ich das Internet nach Meldungen. In der Tat gab es keine einzige Nachricht darüber, dass eine junge Frau namens Ines Atma (Alma hatte mir Ines’ entwerteten Studentenausweis gezeigt, Atma war tatsächlich ihr Nachname.) vermisst werde.

Ich machte mich auf nach Palma. Zur Polizeidienststelle. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dem diensthabenden Ordnungshüter mit höflicher Korrektheit zu begegnen, aber als ich zwanzig Minuten an seinem Tresen verbrachte, ohne dass er mir überhaupt Beachtung schenkte, sondern stattdessen ein Formular studierte, als ob er es auswendig lernen müsste, war ich bereits erzürnt.

Ich hatte ihm auf Deutsch gesagt, dass dies kein Notfall sei, ich aber dringend Hilfe bräuchte. Er hatte die Hände gehoben und signalisiert, Ruhe zu bewahren. Dann hatte er das Formular irgendwann endlich zur Seite gelegt und war hinter seinem Sekretär hervorgekommen.

Er hatte sich mit einer Hand an der Theke festgehalten und mit der anderen Hand über die spiegelglatte Oberfläche des Tresens geputzt, als ob er dort vorhandenen Staub wegwischen würde. Dann hatte er aufgeschaut und mich provozierend angestarrt.

„Hablamos Espanol!“, sagte er.

„Ich nicht“, sagte ich.

Er grinste. Dann sprach er plötzlich deutsch mit mir.

„Wie sagt man, kleiner Scherzklecks, was?“

„Scherzkeks“, erwiderte ich. „Das bin ich keineswegs. Albert Wallmann ist mein Name. Ich bin wegen einer jungen Frau hier, um die ich mich sorge. Ines Atma. Sie ist seit sechs Monaten unauffindbar, wie mir ihre Mutter sagte.“

Der Polizist schaute plötzlich an mir vorbei, als ob ich Luft für ihn wäre. „Wie heißt sie?

„Ines Atma.“

„Moment.“ Er ging zurück zu seinem Schreibtisch, schaute auf seinen Computerbildschirm, tippte etwas auf der Tastatur ein. Nach einer vielleicht halben Minute des Suchens kam er zurück.

„Ist nicht gemeldet.“

„Was heißt das?“, sagte ich. „Wohnsitz oder Vermisstenanzeige?“

„Beides“, sagte der Polizist.

Mir reichte es, aber ich nahm mich zusammen. „Die Mutter ist bei Ihnen gewesen und hat sie als vermisst gemeldet. Aber wie ich höre, gibt es keine Vermisstenanzeige. Wie kommt das?“

Er räusperte sich. „Wissen Sie, Herr Wallmann, dies ist Mallorca. Vermisste sind vielleicht mal eine Weile vermisst, tauchen aber immer wieder auf. Man will auch mal ungestört sein. Sie verstehen ...“

„In diesem Falle macht sich die Mutter aber Sorgen, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen sein könnte.“

Ich unterstrich die Dringlichkeit meines Anliegens und erzählte ihm in groben Zügen die Geschichte, die Alma mir erzählt hatte.

Er hörte aufmerksam zu, dann sagte er: „Es gibt keinen Anlass zur Vermisstenanzeige. Das werden auch meine Kollegen der Mutter gesagt haben. Wo wohnt sie überhaupt und warum haben Sie die Mutter nicht mitgebracht? Wie ich höre, stehen Sie in keiner Beziehung zu der unauffindbaren Frau.“

„Das ist doch unerheblich, ob ich ein persönliches Verhältnis zu dieser Ines habe. Sie ist seit sechs Monaten verschwunden!“

„Und? Herr Wallmann, ich kann nichts für Sie tun. Und jetzt entschuldigen Sie mich.“

Der Polizist trat vom Tresen zurück und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Ich schluckte meinen Ärger herunter, ich vernichtete ihn mit meinem Blick. Grußlos verließ ich die Station.

Im Grunde hatte ich es mir ausrechnen können. Warum sollten Sie mir mehr Glauben schenken als Alma Atma?

Die Polizei konnte ich, wenn überhaupt, nur auf den Plan rufen, wenn ich nachwies, dass Ines’ Leben in Gefahr war. Und diesen Nachweis konnte ich leider nicht erbringen.

Ich fuhr weiter. Zum Palma Strand. Ich fragte mich durch, ging von Lokal zu Lokal, erklärte, dass ich einen gewissen Pepe suche, der meiner Nichte Ines einen Job versprochen hatte. Da Ines wieder bei ihm arbeiten wolle, aber im Moment verhindert sei, frage ich für sie an. Klang ein bisschen komisch, aber den meisten, denen ich begegnete, war das egal. Ich bekam nach langer Fragerei heraus, dass Pepe wohl jetzt im Restaurant „Laterne leuchtet“ auf der Strandpromenade arbeite. Der junge Mann, der mir das sagte, ein Barkeeper, war froh, dass ich mich wieder davonmachte und zuerst glaubte ich, er hätte mir eine Lüge aufgetischt, um mich loszuwerden. Aber dem war nicht so.

Pepe, ein breiter Spanier mit langem, lockigem Haar, war gerade dabei, die Tische vor dem Restaurant mit einem kleinen Handbesen abzufegen, als ich ihn auf Ines ansprach.

„Die war hier“, sagte er, „ich erinnere mich dunkel. Ist aber lange her.“

„Wie lange?“

„Kann ich nicht mehr sagen. Mehrere Monate auf jeden Fall. Sie hat gefragt, ich habe ihr gesagt, ich hätte vielleicht mal irgendwann was für sie. Ich habe ihr unser Kassensystem erklärt. Aber sie hat es einfach nicht kapiert. Die war mit den Nerven runter. Und da habe ich ihr gesagt, sie soll erst mal wieder fit werden und dann könne sie es vielleicht mal probieren.“

„Hat sie Drogen genommen?“, fragte ich.

„Nein, die war einfach fertig. Konnte sich nicht konzentrieren, behielt nichts, sorry, das kann ich nicht brauchen.“

Ich ließ Pepes Worte in mir nachklingen. Ich wollte spüren, ob er mich nicht anlog. Ich glaubte ihm. Ich verabschiedete mich höflich und ging. Kam aber nochmal zu ihm zurück. „Eine Idee, wo sie was finden könnte?“, fragte ich. Pepe schaute mich ärgerlich an, als stehle ich ihm seine Zeit. „Go-Go vielleicht. Denk doch mal selber nach.“

Das reichte. Ich wendete mich wortlos um, angesichts der einfühlsamen Art, die er mir angedeihen ließ.

Cora, so hieß die einzige Tänzerin, die mit dem Namen Ines etwas anfangen konnte. Ich hatte alle Etablissements abgeklappert, war auf Widerstände gestoßen, auf Abwehr, wahrscheinlich auch auf Verleugnung. Aber diese Cora, deren Telefonnummer ich von einem deutschen Wirt bekommen hatte, machte mir jedoch wenig Hoffnung. An der Stange oder auf dem Würfel sei die Ines eine Niete gewesen. Sie sei dann verschwunden, aber so vor ungefähr einem halben Jahr habe sie Ines zuletzt in einem Supermarkt angetroffen. Dort hätte sie um Essen gebettelt. Sie nannte mir den Namen des Ladens, es handelte sich um einen der größten Supermärkte von Palma, wie ich später entdecken durfte, und meinte, vielleicht käme Ines ja an diesen Ort zurück oder habe ganz in der Nähe Unterschlupf gefunden.

Ich bin dorthin kutschiert und habe den Kassiererinnen das Bild von Ines gezeigt. Sie konnten sich tatsächlich an Ines erinnern, hatten ihr auch regelmäßig Brot, Obst oder Gemüse zugesteckt, das nicht mehr verkäuflich war. Aber wo sie hauste, konnte mir niemand sagen. Einen kleinen Hinweis hatten sie dennoch für mich. Eine der Kassiererinnen, ich glaube, sie hieß Gabriela, zeigte mir an der Informationstafel einen Aushang für ein Jobangebot. Promotion für Discos. Sie behauptete gesehen zu haben, wie Ines sich die Rufnummer notierte. Sie habe sich von ihr einen Kugelschreiber dafür ausgeliehen.

Ich holte mir aus der Kühltheke ein kaltes Bier, dankte, speicherte mir die Nummer auf dem Aushang in mein Handy ein, schaute mir die Büroadresse und den Namen der Agentur an, die dort angegeben war. Roccos Ad. Ich zahlte und ging.

Roccos Ad war ein viermal vier Meter großes Werbebüro in einer Einkaufsmeile von Palma. Und einen Rocco gab es gar nicht. Die Agentur war eine One-Man-Show und der Mann, der die Agentur verkörperte, hieß Marius und war afrikanischer Herkunft. Marius machte auf cool. Dreadlocks, Ray Ban, weites Hemd, Shorts, Sandalen. Goldkette, goldene Ringe, goldene Armbanduhr. Dass er mit mir ins Gespräch kam und offen mit mir redete, mag daran gelegen haben, dass ich mit meinem Bart und den langen Haaren eher wie ein verkaterter Grufti aussah, denn als Polizist oder Privatdetektiv durchging.

Marius erzählte mir, als ich ihm klarmachte, wie dringlich es sei, dass Ines mal probeweise Flyer für ihn verteilt hätte. Sie habe dann sogar in seinem Appartement ein paar Nächte verbracht. Dann hätte man sich gestritten und sie sei einfach abgehauen.

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