Wolfgang K. geht nicht mehr fremd

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Wolfgang K. geht nicht mehr fremd
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Dieter Winkler

Wolfgang K. geht nicht mehr fremd

oder

Warum ein sozialistisches Lehrbuch in der sozialistischen DDR nicht fertig wird

Roman

IMPRESSSUM

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Copyright: © 2019 by Dieter Winkler, Kapellenweg 6c, 13159 Berlin

Korrektur und Layout: Korrlay – Iris van Beek, Berlin

Cover-Foto: Ulrich Schweizer, Berlin

Druck und Verlag: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Autors.

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Vorwort

In diesem Buch habe ich Geschichten und Dialoge, an denen ich selbst beteiligt war, von denen ich gehört oder die ich in Stunden der Erinnerung an den ehemaligen zweiten deutschen Staat erfunden habe, auf einige mir mehr oder minder sympathische, aber durchweg fiktive Personen aufgeteilt und in der Sprache eines noch nicht vollendeten DDR-Bürokraten zu Papier gebracht.

Natürlich mangelt es meinem ebenfalls ziemlich fiktiven Autor nicht selten an den richtigen Worten und der nötigen Stimmung, um seine Geschichten und Dialoge in das heute gängige Bild von der DDR einzureihen. So bleibt bei ihm die Stasi nur im Ungefähren. Aber in der realen DDR war deren Geheimdienst zwar kein Geheimnis, aber ein Geheimdienst, um den der normale Bürger gern einen weit gefassten Bogen machte. Was dieser Geheimdienst auch von Normalbürgern wusste, wusste der Normalbürger damals nicht.

Vor allem in dem seinem Ende langsam entgegenschleichenden SED-Staat – ab dem Biermann-Hinauswurf 1976 –, dessen sichtlich älter und müder werdende Herren einschließlich ihrer intellektuellen Dienerschaft immer weniger die Bereitschaft und Fähigkeit erkennen ließen, über den Sinn und die Effektivität ihres Tuns selbstkritisch nachzudenken, wurde von den Beherrschten über diesen Staat immer respektloser nicht nur gedacht, sondern in informellen Kreisen auch geredet. Zu respektlosem Handeln konnten sich die Freizeitkritiker des Staates infolge der Erfahrungen von 1953, 1956 und 1968 jedoch lange nicht aufraffen.

Als langjähriger Autor, aber nie Schriftsteller, habe ich mit der folgenden Textsammlung nicht versucht, an dem Urteil „Trivialliteratur“ vorbeizuschrammen. Trivialliteratur konnte für mich schon zu Zeiten meines durchaus seriösen Literaturstudiums in der DDR mehr an Alltagswahrheit über eine Gesellschaft vorzeigen als eine ästhetisch hochgezüchtete „Widerspiegelung“ gesellschaftlicher Realität mit einem politischen Verschönerungsauftrag.

Iris van Beek hat das Ganze mit großer Neugier und der Sache angemessener Professionalität wohlwollend durchgesehen und ihm auch die passende Form gegeben. Ulrich Schweizer stellte ein geeignetes Cover-Foto zur Verfügung, meine Freunde Gerd Koch und Claus Wolf gaben mir hilfreiche Hinweise zum Text. Ich danke ihnen wie allen anderen Förderern des Projektes.

Dieter Winkler im Sommer 2019

P.S.: Manchmal irrt sich mein fiktiver Autor auch. Nicht nur, dass ihm seine Gewährsleute zu unterschiedlichen Zeiten die gleiche Geschichte in etwas unterschiedlichen Fassungen mitgeteilt haben und er seine Informanten nicht durchgängig einer strengen Quellenkritik unterworfen hat; er ist auch in seinen eigenen Erinnerungen nicht immer gleich präzise.

Roman

„Ein Tagebuch, meine Damen und Herren, mag für Sie etwas höchst Altmodisches sein. Dabei haben so manche unserer Altvorderen per Verfertigen eines Tagebuchs ihre Beobachtungs- und Schreibkünste zu einer höheren Qualität geführt.“ Mit diesen Worten hatte Prof. M., zweifellos der Konservativste unter unseren nach eigenen Äußerungen durchgängig dem historischen Fortschritt ergebenen akademischen Lehrern – nicht zum ersten Male – unter uns, seinem Auditorium, ein belustigtes Schmunzeln hervorgerufen.

Ich habe mich entschlossen, die Anregung des alten Herrn mit jugendlicher Energie aufzunehmen. Morgen beginne ich meine neue Tätigkeit. Ich will mir selbst und eventuellen Nachfahren von dieser Tätigkeit berichten.

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Mein erster Arbeitstag im Institut.

Da ich nicht im Staatsapparat arbeiten wollte, etwa als Referent in der Abt. Kultur eines Rates des Kreises irgendwo in Nordbrandenburg, war die Stelle in diesem Kulturinstitut trotz ihrer äußerst mäßigen Bezahlung das Beste für mich. Sie hat zudem einen ausgesprochenen Vorzug: Ich darf Westkontakte haben. Wenn die mir z. Zt. auch völlig fehlen.

Mein Arbeitsantritt wurde im Institut offensichtlich nicht allzu ernst genommen. Bei der Referentin, bei der ich mich zu melden hatte, musste ich in deren Vorzimmer erst einmal einundeinehalbe Stunde warten. Die Dame telefonierte. Dann hatte sie nur eine wirklich wichtige Information für mich: Mein Arbeitsplatz würde sich nicht im Hauptgebäude des Instituts befinden, sondern in der Außenstelle. Dafür wäre ich aber dem dort residierenden Bereichsleiter, dem Ständigen Stellvertreter des Institutsdirektors, direkt unterstellt. Von diesem Bereichsleiter würde ich auch alles weitere erfahren.

Nachdem die Referentin mir den Weg in die Außenstelle, eine Etage in einem Wohngebäude noch aus Kaiser Wilhelm I. Zeiten, reichlich einen Kilometer vom Hauptsitz des Instituts entfernt, gründlich erläutert hatte, und ich da auch richtig angekommen war, durfte ich dem Fortgang meiner Einstellung dort weiter beiwohnen, allerdings nur passiv; denn ich durfte zuschauen, wie die zwei Kollegen, mit denen ich künftig im gleichen Zimmer sitzen soll, einen alten Schreibtisch aus dem Keller in das nunmehr gemeinsame Zimmer wuchteten. Der Schreibtisch wird die größere Hälfte meines künftigen Arbeitsplatzes ausmachen, die kleinere Hälfte, ein Stuhl, soll, wie ich zu hören bekam, der Fahrer des Institutsdirektors irgendwann ab morgen früh aus dem Lager des Hauptgebäudes heranfahren.

Da der Bereichsleiter seit drei Wochen auf Dienstreise ist, ließ mich dessen Sekretärin leihweise bis zum Feierabend dessen Arbeitsplatz besetzen. Sie gab mir zudem Texte des Bereichsleiters zu lesen, damit ich mich schon auf dessen ein wenig barocke Denk- und Schreibweise einstellen könne. Am Ende dieses meine Arbeitsfreude sehr mäßigenden ersten Arbeitstages hatte ich nur noch darauf zu achten, am Instituts-Wirkungsort meines künftigen Chefs keine Sachen von mir liegen zu lassen. Damit der Bereichsleiter bei seiner Rückkunft nicht auf die Idee käme, während seiner Abwesenheit wäre an seinem Stuhl gesägt worden und ein Nachfolger bereits da. Die Sekretärin, die mich zu Feierabend wieder aus dem Zimmer des Bereichsleiters entfernte, meinte, diesbezüglich sei unser aller Vorgesetzter ein wenig ängstlich veranlagt.

Die Außenstelle bietet, beinahe hätte ich das vergessen, noch einen beträchtlichen Vorzug: Bis auf die Sekretärin des Chefs raucht niemand. Und die Sekretärin, seit einer Krebsbehandlung vor sechs Jahren, auch nur noch mit schlechtem Gewissen. Das heißt: selten.

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Wolfgang K., einer der beiden Kollegen in meinem neuen Dienstzimmer, hat an der Wand hinter seinem Schreibtisch einen Picasso hängen. Einen Kunstdruck natürlich. Aber nicht die Friedenstaube. Sondern ein Stück Kubismus.

Der Kunstdruck ist Privateigentum, kein Institutsbesitz. Wolfgang hat ihn sich in den 50ern von der Cousine seiner Frau aus dem Westen schicken lassen.

Neulich der „hohe Chef“, wie ich den Bereichsleiter nenne, weil er sich im Gespräch mit mir immer noch ein Stück größer macht: Damals hätte ich nicht zulassen dürfen, dass sie sich solche Kunst in die Diensträume hängen. Und nach einer kleinen Pause: Daran können Sie erkennen, wie liberal wir mittlerweile geworden sind.

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Meine Arbeit im Institut: Ich soll die sozialistische Presse nach praktischen Beispielen einer sich entwickelnden sozialistischen Freizeitkultur absuchen. Fehlentwicklungen brauchte ich dabei nicht übersehen.

Der hohe Chef: Ich würde eine große Verantwortung tragen. Weil ich auch die Zeit vor dem VIII. Parteitag der SED nicht auslassen dürfe. Aber natürlich hätte ich die DDR-Geschichte immer aus der Sicht der neuesten Parteibeschlüsse zu betrachten.

Ich versicherte ihm: Das würde ich bereits von der Uni wissen.

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Damit ich das keinesfalls vergesse!

Ich war gerade in meine derzeitige (Hinterhaus-)Wohnung eingezogen – als mich ein Hausbewohner ansprach: Deine Antenne für das West-Fernsehen bringe besser ich dir an. Damit du ein gutes Westbild bekommst, und wir anderen ein gutes Westbild behalten.

Ich war überrascht: Woher wissen Sie, dass ich ein Westbild möchte?

Er antwortete, er kenne niemanden, der im Hinterhaus wohne und kein Westbild wolle.

Offensichtlich mein Gesichtsausdruck ließ ihn fortfahren: Nur in Neubaugebieten, und manchmal in Vorderhäusern, da gäbe es Leute, die dürften den Westen nicht schauen. Aber ich würde nicht wirken wie einer von denen.

Volkes Auge ist also auch wachsam.

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Meine Kollegen in der Außenstelle.

Wolfgang K., Jahrgang 1923 oder 1925, grau gelockt, stammt nach seiner Aussprache des Deutschen aus Sachsen. Er darf in regelmäßigen Abständen in die unterschiedlichsten Regionen der Republik fahren, um dort neue Entwicklungen in der sozialistischen Freizeitkultur zu erkunden bzw. zu „studieren“, und um seine „Beobachtungen“ dann an den hohen Chef und besonders den Institutsdirektor weiterzugeben. Er äußert sich gern und vorrangig spöttisch.

 

Herbert, Anfang 30, scheint vor allem auf der Suche nach einer und einer nun richtigen Frau zu sein. Er analysiert sehr intensiv Kulturhausprogramme aus allen Ecken unseres fortschrittlichen Staates, die – ich weiß noch nicht, wie – in unser Institut gelangen. Seine Rede über seine Ergebnisse bei dieser Arbeit ist mehr als knapp, für unser Leben allgemein zeigt er mehr Interesse. Hin und wieder darf er ein Kulturhaus „vor Ort“ besuchen, wobei er wie Wolfgang landschaftlich und denkmalpflegerisch anziehende Gegenden bevorzugt.

Im größten Zimmer der Außenstelle, einem zudem Durchgangszimmer, residiert Annie, wohl ein wenig über 50. Sie ist die Sekretärin vom hohen Chef und außerdem von der gesamten Außenstelle. Zu mir, dem jüngsten Mitarbeiter, ist sie ausgesprochen freundlich.

Der hohe Chef steht beträchtlich über uns, seinen Mitarbeitern. Mir scheint er aber mehr über uns zu schweben. Auch er reist gelegentlich in die Provinz. Er hält dann dort vor SED-Gremien, Staatsorganen, Kadern der Nationalen Front und ganz besonders gern vor Untergruppen des Kulturbundes Referate über die unaufhaltbaren Fortschritte bei der Erstürmung der Kultur durch unsere Werktätigen. Und wie wichtig dabei die allseitige Förderung der Alltagskultur ist. An Tagungen und Kolloquien in der Hauptstadt nimmt er nur teil, wenn der Institutsdirektor keine Lust verspürt, dort selbst zu erscheinen.

Jeden Tag kurz nach 9:00 Uhr versammeln sich die an diesem Tag in der Außenstelle anwesenden Mitarbeiter in Annies Zimmer, um dort gemeinsam ca. einundeinehalbe Tasse Kaffee zu sich zu nehmen. Nach der Zusage einer Kostenbeteiligung wurde ich anstandslos ins Kaffee-Kollektiv aufgenommen.

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Wolfgang K.s Onkel war vor 1933 in seiner Heimatstadt ortsbekannter Kommunist gewesen. Als die SA kam, um ihn zu „holen“, im März 1933, war sie völlig überrascht: Sie fand im Bücherregal des Onkels keinen Karl Marx, sondern Hitlers „Mein Kampf“, keinen Lenin, sondern Goebbels. Auf die erstaunte Frage des Führers des SA-Trupps, wieso bei ihm ihre Bücher stünden, will Wolfgangs Onkel geantwortet haben: Das muss man heutzutage doch lesen. Nachdem ihr gesiegt habt.

Der SA-Trupp zog, ohne Wolfgangs Onkel mitzunehmen, davon. Im Sommer 1945 standen Marx und Lenin allerdings wieder an ihrem angestammten Platz. Der parteilose Kleingartennachbar von Wolfgangs Onkel hatte die lebensgefährliche Literatur über die 12 NS-Jahre hinweg getreulich für seinen Kommunisten-Nachbarn aufbewahrt.

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Anregend schaue sie aus, sagte heute Wolfgang K. zu Frau Dr. K. und blickte ihr gleichzeitig intensiv auf ihre auffällige Oberweite.

Sie lächelte leicht und fragte zurück: Sie haben wohl viel Phantasie?

Wolfgang: Phantasie und eine gut entwickelte ästhetische Urteilsfähigkeit.

Sie: Und Sie haben sich in ihrem – äh – ästhetischen Urteil auch noch nie geirrt?

Wolfgang: Ganz besonders bewundere ich natürliche Schönheit.

Sie: Auch Kunstschönheit kann ausgesprochen schön wirken.

Wolfgang: Sie schminken sich nicht, warum sollten Sie woanders nachgeholfen haben?

Sie: Jetzt werden Sie aber zu direkt.

Wolfgang: Ich bin nur völlig offen.

Sie: Verschließen Sie doch besser Ihre Gedanken wieder.

Wolfgang: Das fällt mir bei Ihnen aber besonders schwer.

Sie: Lassen Sie doch Ihre Augen sprechen. Das reicht mir bei Ihnen völlig.

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Wolfgang K. hat mir Einblick in seine ersten beiden Dienstreiseberichte gegeben.

Aus dem ersten:

„Stellungnahmen im Gästebuch einer ‚Kleinen Galerie‘ des Kulturbundes in … (ehemalige thüringische Residenz):

Erste Äußerung: Solche Darstellungen von Arbeitern, wie sie der Maler (Name des Malers) auf seine Leinwand gebracht hat, lehnen wir Arbeiter aus (Name des Ortes) ab.

Zweite Äußerung / zwei Seiten später: Frage eines lesenden Arbeiters: Wie viel wirkliche Arbeiter seid ihr unter den den Maler (Name des Malers) ablehnenden Arbeitern aus (Name des Ortes)?“

Zitat aus dem zweiten Dienstreisebericht:

„Dialog des Kulturfunktionärs eines Leipziger Großbetriebes mit einem Werktätigen seines Betriebes.

Von dem Funktionär selber so erzählt.

Funktionär: Nächste Woche gehen wir im Kollektiv in ein Schubert-Konzert.

Werktätiger: Schubert interessiert mich nicht.

Funktionär: Aber wir haben doch Schubert-Jahr.

Werktätiger: Mir gefällt Beethoven besser.

Funktionär: Aber das Beethoven-Jahr liegt doch schon hinter uns.“

Wolfgang: Wegen dieser „Berichte aus dem wirklichen Leben“ sei er vom Institutsdirektor in einer öffentlichen Parteiversammlung amtlich gelobt worden. Und seitdem am Institut ohne Probleme verwendbar.

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Er halte auf der Parteiversammlung eine feurige Ansprache für mehr Kultur im Alltagsleben, dann fahre er sich in seinem Moskwitsch nach Hause, ziehe dort die Filzpantoffeln über und sähe sich den Montagabendfilm an – so die Einschätzung des hohen Chefs durch Herbert, meinen zweiten Zimmer-Kollegen im Institut.

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Herbert war in der „Distel“.

Und er hat eine Erkenntnis mitgebracht: Wer lachen darf, macht keine Revolution.

Wolfgang K., nach einem Moment des Überlegens: Da sollte das Politbüro aber besser noch mehr Kabaretts einrichten.

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Weimar wurde, es ist noch gar nicht so lange her, 1000 Jahre alt. Deshalb wurde die Stadt baulich saniert. Bei den Dächern wurden aber nur deren vordere Hälften, die nach der Straße hin, repariert.

Wolfgang K. berichtete es, Annie wollte es nicht glauben, Herbert stöhnte darüber, und der hohe Chef verschwand wortlos in seinem Zimmer.

Wolfgang K. am Ende seiner Erzählung: Das ist einfach DDR: Nur die Schauseite in Schuss halten.

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Als Wolfgang K. noch allein in dem Zimmer saß, dessen Luftinhalt er sich mittlerweile mit Herbert und mir teilen muss, war es einmal notwendig geworden, dass ihm seine Ärztin eine Schachtel Tabletten zur Anregung seiner Darmtätigkeit verschrieb. Die rosa Dingerchen veranstalteten sehr rasch ihre Wirkung. Vor allem aber hatte Wolfgang das Gefühl, nach ihrer Einnahme vorübergehend jeweils in den gasförmigen Aggregatzustand überzugehen. Er setzte das Wundermedikament nach wenigen Tagen mithin wieder ab.

Eines Tages nach diesem Geschehen besuchte ihn in seinem Zimmer, als er Annie die Dienstpost gebracht hatte, der Wolfgang R., ein Namensvetter aus dem Haupthaus. Der entdeckte die Tabletten auf Wolfgang K.s Schreibtisch und fragte umgehend „Wofür?“ Unserem Wolfgang war die Beschreibung seiner inzwischen vergangenen Leiden ein wenig peinlich, und er blieb folglich mehr im Allgemeinen. Er antwortete also: „Die Pillen regen an.“

Irgendwie muss dem Wolfgang R. da die Idee gekommen sein, dass gewisse Stimulanzien – für den Kopf, die Beine, Körperteile irgendwo dazwischen – auch ihm gut tun könnten. Er fragte somit unseren Wolfgang, ob der ihm einige der Kügelchen abgeben würde. Der war natürlich so freundlich bzw. – wenn man will – so boshaft, dem Wunsch des Namensvetters zu willfahren. Er legte dem einige der Tabletten in die weit geöffnete Hand.

Über die Folgen seiner Gefälligkeit weiß uns unser Zimmergenosse allerdings nichts zu berichten. Der Wolfgang R. hat sich ihm gegenüber diesbezüglich nie geäußert. Auffällig ist nur, dass er nach dem Vorfall nie wieder im Zimmer, nunmehr von uns dreien, aufgetaucht ist.

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Wolfgang K.: Im Beisein des hohen Chefs darfst du manches sagen, was du im Beisein des Parteisekretärs besser beschweigst. Und was du im Beisein des Institutsdirektors sagen kannst, hängt vor allem davon ab, wer noch dabeisteht.

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Wolfgang K. ist 1948 aus einer Westzone zu uns übergesiedelt. Weil seine Mutter hier lebte, er aus ihrer Stadt stammte, und er ihr Einziger war.

Manchmal legt er aber zusätzlich noch Wert auf die Feststellung, dass man damals noch die Hoffnung haben konnte, dass hier im Osten einmal wirklich ein besseres Deutschland entstehen würde.

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Wolfgang K. hat die merkwürdigsten Einfälle. Heute fragte er den hohen Chef, was nach dessen Meinung die wichtigsten Nahrungsmittel im voll aufgebauten Kommunismus wären.

Über kommunistische Essgewohnheiten hatte der sich jedoch noch keine Gedanken gemacht.

Wolfgang behielt das Thema trotzdem auf seiner Agenda. Seiner Meinung nach sollten die Menschen des Kommunismus, im Gegensatz zu uns sozialistischen tatsächlich neue Menschen, mithin nicht mehr übergewichtig sein. Also dürften auch Bock- und Currywürste, Bratkartoffeln, Eisbein und Pils nicht mehr ihren Speiseplan dominieren.

Während Herbert sofort einwarf, bei Bier schon bei einem selbst gewählten Sparkonsum angekommen zu sein, fand Annie, dass in Wolfgangs Aufstellung nicht nur das Eisbein, sondern das Schwein als Fleischlieferant insgesamt hineingehöre.

Nachdem sich Herbert noch über die Qualitätsunterschiede zwischen den bei uns im Handel befindlichen Kuba-Apfelsinen und einer von seiner Tante aus dem Westen geschickten Südfrucht gleichen Gattungsnamens ausgelassen hatte, glaubte der hohe Chef offenbar, die Diskussion durch eine prinzipielle Aussage beenden zu müssen – bevor sie noch weiter ausufern könnte. Und in seinem schönsten Pastorentonfall hob er an: Zuständig für die Beantwortung der von Wolfgang aufgeworfenen, aber erst bei der weiteren Annäherung an die lichte Zukunft der Menschheit aktuell werdenden Frage seien bei uns die Genossen vom Wissenschaftlichen Kommunismus. Und die würden sicher, von der Partei rechtzeitig dazu aufgefordert, die richtige Antwort auf Wolfgangs Frage geben.

Als ich während der Suada des hohen Chefs dem Wolfgang kurzzeitig in sein genüsslich Kaffee schlürfendes Gesicht sah, schien es mir nicht zum ersten Male, dass er den hohen Chef nur auf die Schippe genommen hatte.

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Wolfgang K. zu mir, dem neuen Mitarbeiter: Mit dem Parteisekretär diskutieren ist reine Zeitvergeudung. Der meint, dass er dir auf Grund seiner Funktion alles erklären muss, was du auf Grund deiner Lebenserfahrungen schon besser weißt.

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Immer wenn der hohe Chef zur Leitungssitzung ist, Wolfgang K. sich auf einer Dienstreise befindet, und Herbert mit irgendeinem vorgeschobenen Grund das Haus in Richtung Polnisches Kulturzentrum verlassen hat, um dort eine neue Platte zu erwerben, sitze ich bei Annie, und die berichtet mir aus der Geschichte des Instituts.

Annies heutige Erzählstunde handelte von dem Maler Sitte und dem Institutsdirektor. Kurz nach der Gründung des Instituts stand der Maler wieder einmal kulturpolitisch unter Beschuss. Folglich hatte ihn auch der Parteisekretär auf einer Parteiversammlung angegriffen. Da der Institutsdirektor aber vor jedermann Respekt empfindet, der – wie Sitte – dem Krieg Hitlers irgendwann aus eigener Initiative die weitere Mitwirkung verweigert hatte, glaubte er, Sitte zumindest innerhalb des eigenen Instituts verteidigen zu müssen. Und er tat es mit all seinen auch damals schon hoch entwickelten operativ-taktischen Fähigkeiten.

Der Institutsdirektor soll also laut Annie auf jener Parteiversammlung erklärt haben, wenn Sitte in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten wäre und nicht unter italienische Partisanen, würde er den sozialistischen Realismus sicher besser begriffen haben. Es sei aber nicht seine Schuld, wenn er auf Grund der Stationierung seiner Division nur zu den italienischen Partisanen habe überlaufen können. Mithin müssten wir in der DDR mit den Besonderheiten von Sittes Realismus noch ein wenig Geduld haben.

Diese Verteidigung des ästhetischen Abweichlers war nicht nur kühn und originell, sie war auch noch nicht von einem höheren Funktionär öffentlich als falsch oder kompromisslerisch zurückgewiesen worden. Und als der Institutsdirektor seine Argumentation auch noch mit einem echten Marx-Zitat – „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“ – theoretisch untermauert hatte, war der Parteisekretär, und das nicht zum letzten Male, ideologisch geschlagen. Und der Maler Sitte blieb ab jenem Tag an unserem Institut unkritisiert.

Wolfgang K. dazu am folgenden Tag: Unser Institut sei eine ideologische Oase. Die könne es aber nur solange bleiben, wie der Parteisekretär den Glauben habe – und höhernorts auch zu vermitteln vermöge –, dass er das ideologische Gesicht des Instituts und nicht nur das politische Aushängeschild des Institutsdirektors ist.

 

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Wolfgang K. erzählt uns gelegentlich über die fünfziger Jahre. Diesmal:

Der 1. Kreissekretär in seiner damaligen Heimatstadt war abgesetzt worden. Nein, nicht abgesetzt. Aus seiner Funktion geradezu hinausgeworfen worden.

Es kam ein neuer. Direkt aus dem ZK in Berlin.

Der berief eine Versammlung der Kreisleitungsmitarbeiter ein, stellte sich vor und bat alle Anwesenden, ihn bei der verantwortungsvollen Aufgabe zu unterstützen, die Fehler des Vorgängers zu korrigieren.

Umgehend meldete sich dessen ehemaliger persönlicher Mitarbeiter. Er stehe mit seinen Erfahrungen dem Neuen natürlich voll und ganz zur Verfügung. Auch wenn er dem früheren 1. Kreissekretär gegenüber immer die Parteidisziplin gewahrt habe, nicht selten habe auch er seine Zweifel an der Richtigkeit von dessen Maßnahmen gehabt. Und jetzt möchte er die anderen Parteiarbeiter im Kreis noch aufrufen, ihre Parteiverbundenheit zu beweisen und mit vollem Einsatz an der Seite des neuen Ersten zu arbeiten.

Der ehemalige 1. Kreissekretär hatte offensichtlich noch Genossen unter seinen gewesenen Mitarbeitern. Einer von denen hatte ihm von dem Vorgang berichtet. Und der Ex-Sekretär hatte davon dann unserem Wolfgang erzählt. Der hatte ihn nämlich auf der Straße auch nach seiner Absetzung noch gegrüßt.

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Wolfgang K.: Warum hat es immer wieder Fortschritt gegeben? Obwohl die Zahl der Dummen unter uns Menschen kaum abgenommen haben dürfte.

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In der sächsischen Heimatstadt von Wolfgang K. soll das größte Optikergeschäft am Platze Mitte der fünfziger Jahre einem älteren Herrn gehört haben, der in der Nazi-Zeit ein unauffälliges NSDAP-Mitglied und ab 1948 ein gleichfalls wenig aktiver NDPD-Mitläufer gewesen sein soll. Als 1955 einige Funktionäre der Nationalen Front begonnen hätten, den alten Herrn zu agitieren, er möge seinen Laden doch freiwillig und zusätzlich sogar noch begeistert an die HO abtreten, zum Ausgleich könne er als stellvertretender Verkaufsstellenleiter in seinem bisherigen Geschäft weiterarbeiten, soll der alte Herr nur ein Wochenende gebraucht haben, um seine wertvollsten Auslagen und sein privates Tafelsilber einzupacken und sich unter Mitnahme seiner gelegentlich im Laden aushelfenden Ehefrau in Richtung Westberlin davonzumachen. Böse Zungen in der Stadt sollen in den ersten Tagen danach gern auf die halbleeren Schaufenster des vorübergehend geschlossenen Ladens gewiesen und dazu gezischt haben: Wieder ein Stück Sozialismus mehr.

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Wolfgang K.s ideologische Fehler in den Fünfzigern.

Einmal hatte er in einer Aussprache den Leiter eines neu gegründeten Jugendkollektivs mit „Brigadjäähh“ betitelt. Umgehend wurde Wolfgang vom Parteisekretär des Jungleiters korrigiert. Das heiße „Brigadiiir“. Wir hätten das Wort aus dem Russischen übernommen. Und keinesfalls aus dem Französischen.

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Wolfgang K.s absurde Überlegungen.

Heute meinte er: Schade, dass Karl Marx mit 65 gestorben ist.

Annie wollte natürlich sofort wissen: Warum?

Wolfgang: Hätte er 20 Jahre länger gelebt, wüssten wir, ob er Leninist oder Revisionist geworden wäre.

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Annie weiß auch das.

In den Sechzigern habe die Karriere des Institutsdirektors eine Weile an einem seidenen Faden gehangen. Er hätte sich in einer öffentlichen Versammlung gegen den Abriss der Ruine des Potsdamer Stadtschlosses ausgesprochen. Die Sowjetunion würde die kriegszerstörten Zarenschlösser rund um Leningrad doch wieder aufbauen.

Die Karriere des Institutsdirektors wäre dann von den Sowjets gerettet worden. Eine Delegation von hohen Kriegsveteranen sei in der DDR gewesen und habe im ZK nach ihrem ehemaligen Nationalkomitee-Freies-Deutschland-Genossen gefragt: Was macht der heute? Der hat sich schon vor 1945 für ein besseres Deutschland eingesetzt.

Und so wäre der damalige Nachwuchswissenschaftler mit einer Rüge davongekommen. Und auch nicht wegen seiner Meinung. Sondern nur, weil er sie öffentlich geäußert hatte.

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Wolfgang K. heute ganz am Ende des Frühstücks: Was lehrt uns das Christentum?

Annie: Ich denke, uns heute lehrt es nichts mehr.

Herbert: Es lehrt uns, wie zäh Religion ist.

Wolfgang: Es lehrt uns, dass Kommunisten, wenn sie an die Macht kommen, Hierarchien bilden, und die oben in der Hierarchie denen unten vorschreiben, was die zu glauben haben.

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In Wolfgang K.s Vorort macht jetzt der letzte noch private Bäcker zu. Er ist 68 und geht in die Rente. Sein einziger Sohn hat zwar Bäcker gelernt, will den Laden aber nicht übernehmen. Er ist FDJ-Sekretär im Backwarenkombinat. Der von seinem Sprössling bitter enttäuschte Alte: Da muss er nicht so früh aufstehen.

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Der Instituts-Knigge. Kapitel 1.

Der Institutsdirektor siezt alle Mitarbeiter. Nur zu den Genossen sagt er „Du“. Aber bei diesem „Du“ klingt immer ein wenig ein „Sie“ mit.

Der Parteisekretär duzt zusätzlich zu allen Genossen die Reinemachfrau und den Pförtner im Haupthaus.

Der Pförtner, der sich aus seinem Kabuff allzu gern im Tonfall des Parteisekretärs meldet, duzt meines Wissens alle Parteilosen.

Die Reinemachfrau siezt alle. Selbst den Pförtner und den Parteisekretär.

Ich duze bislang Annie, Wolfgang K. und Herbert.

(Und ab morgen, da der Pförtner mich grundsätzlich mit „Du“ anspricht, werde ich bei ihm das gleiche tun.)

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Beim Institutsdirektor arbeitet eine Praktikantin, Kulturwissenschaftsstudentin aus Leipzig. Sie heißt mit Vornamen Melanie, Wolfgang K. sagt aber immer Melanitis zu ihr. Heute fragte sie ihn: Warum Melanitis? Wolfgang: Wenn ich Sie sehen darf, steigt mir immer die Körpertemperatur. Annie danach zu Herbert: Ob dem alten Bock bei deren Anblick nicht noch etwas ganz anderes steigt als die Körpertemperatur?

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Autofahren ist das einzige, wo der hohe Chef ein Abweichler ist.

Allerdings fährt er schneller als erlaubt nur, wenn sein Ehegespons nicht mit im Wagen sitzt.

Kürzlich durfte der hohe Chef nicht nur den Institutsdirektor wieder einmal vertreten, er durfte dazu auch dessen Dienstwagen einschließlich Fahrer nutzen.

Das nächste Mal will er aber wieder auf den eigenen Moskwitsch zurückgreifen. Der Fahrer des Institutsdirektors sei eigentlich nur ein Fußgänger auf Rädern.

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Ich muss die Fälle von sozialistischer Freizeitkultur, die ich in der sozialistischen Presse entdecke, in Schönschrift auf liniertes Papier übertragen: auf die linke Seite eines in der Mitte gefalteten Blattes. Dann lesen dieses Produkt der hohe Chef, danach der Parteisekretär und gelegentlich auch der Professor. Die machen dann auf der rechten, von mir freigelassenen Seitenhälfte ihre Anmerkungen. Dann geht mein so veredeltes Arbeitserzeugnis an den Institutsdirektor. Und der entscheidet, wie mit dem Blatt weiter umgegangen wird. Seine Sekretärin hat mir auf der letzten öffentlichen Parteiversammlung mit strahlenden Augen mitgeteilt, dass sie bereits den zweiten halben Aktenordner mit meinen Produkten angelegt habe.

(Sie gehen also in die Ablage.)

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Auch der hohe Chef hat eine eigene Meinung.

Die Institutsleitung erhält zur Lektüre der Absichten des Klassenfeindes regelmäßig ein Exemplar der „Welt“. Im Original. Warum gerade die „Welt“ und seit wann, weiß niemand mehr.

Da Wolfgang K. vorgestern den hohen Chef beim Lesen des westdeutschen Blattes angetroffen hatte, als er unangemeldet dessen Zimmer betrat, erlaubte er sich heute die Frage, warum die Institutsleitung nicht die „Welt“ gegen die „Frankfurter Allgemeine“ tausche. Seine Cousine bzw. die Cousine seiner Frau würde der Institutsleitung diesen Tausch sehr empfehlen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ habe unter allen Tageszeitungen der Bundesrepublik das beste Feuilleton.

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