Buch lesen: «Politikwissenschaft», Seite 4

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Teleologie

»Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.« (Nikomachische Ethik 1094 a1).

Das menschliche Handeln ist von seiner Struktur her gesehen auf ein Ziel ausgerichtet. Es ist teleologisch (altgriech. telos = Ziel). Das heißt aber, dass der Mensch nur handelt, weil er das Ergebnis seines Handelns unter irgendeinem Aspekt als gut für sich selbst und/oder andere einschätzt. Hier treten aber ernste Probleme auf. Offensichtlich herrscht keine Einigkeit unter den Menschen, was denn nun das Gute eigentlich sein soll. Bereits jeder für sich wird in unterschiedlichen Lebenslagen unterschiedliche Bedürfnisse haben und unterschiedliche Ziele. Dem Durstigen ist Wasser ein höheres Gut als Nahrung, für den Hungrigen gilt wahrscheinlich das Gegenteil. Die gesamte Lebensführung und die angemessene Form des Zusammenlebens in der Gemeinschaft werden so Gegenstand einer Reflexion, von der Aristoteles aber noch glaubt, dass sie mit den Mitteln der Theorie zum Erfolg geführt und angeleitet werden kann.

Praktische Klugheit

Zentrales Instrument der ethisch-politischen Orientierung ist für Aristoteles das Vermögen der Menschen, das er Phronesis nennt. Gemeint ist damit die praktische Klugheit und Verständigkeit, die es dem Menschen in einer offenen Handlungssituation erlaubt, zu beurteilen, welche Handlung den Vorzug verdient. Wenn ein Ziel durch mehrere Handlungen erreicht werden kann, begibt sich der kluge und verständige Mensch in einen Prozess der Überlegung, in dem verschiedene Handlungen und ihre Ergebnisse erwogen werden. Die Struktur der guten Entscheidung muss so verstanden werden, dass – wenn die Möglichkeiten erkannt sind – mit Hilfe der Klugheit in einem Prozess des Abwägens eine Entscheidung getroffen wird.

Diese Entscheidung kann aber nicht auf absoluter Gewissheit aufbauen. Sie zielt zwar auf das Gute als Teil des vollkommen glücklichen Lebens (eudaimonia), ist aber dem Irrtum und der Täuschung ausgesetzt. Zugleich aber ist die praktische Klugheit als menschliche Kompetenz belehrbar und kann sich an Vorbildern orientieren. Ein wahrhaft kluger Mensch geht, bevor er entschiedet, mit sich zurate und ist für Beratung offen. Erst dann gibt er einer Handlungsweise den Vorzug.

Zusammenfassung

Struktur der ethischen Entscheidung

● Die praktische Klugheit (phronesis) ermöglicht dem Menschen, die Situation und die Handlungsmöglichkeiten zu erkennen.

● Er begibt sich in einen Prozess der Überlegung, der einem inneren Beratungsgespräch (bouleusis) entspricht.

● Nach Abwägung der möglichen Handlungen und der Einschätzung der Situation entscheidet er (prohairesis) schließlich, welche Handlung vorzuziehen ist.

Ethische Tugenden

Durchzusetzen vermag sich die praktische Klugheit als eine Verstandestugend (dianoetische Tugend) nur, wenn derjenige, der die Entscheidung trifft, auch über die nötigen charakterlichen Voraussetzungen (ethische Tugenden) verfügt. Er muss ein Temperament kultiviert haben, das seine Handlungen immer in der Mittellage zwischen den Extremen hält: Er ist mutig, was die Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit darstellt, handelt mithin vorsichtig und bedacht, aber nicht zögerlich und ängstlich. Er ist freigebig und d. h. weder geizig noch ein Verschwender. Diese ethischen Tugenden und die Übung der praktischen Klugheit verlangen, dass die politische Gemeinschaft, für die sie letztlich unverzichtbar sind, ihnen auch Raum gibt. Offensichtlich geht Aristoteles in seiner pragmatischen Konzeption der guten Gemeinschaft von einem Kreislauf aus, in dem die wahrhaft Edlen ein Vorbild an Tugend und Maß darstellen, dem die normale Bevölkerung nacheifert und dem sie lobend und bewundernd gegenübersteht. Aus diesem Zusammenspiel ergibt sich ein sittlicher Horizont, in dem die hohe Qualität der Ziele des Handelns über Tugend und Tradition gewährleistet werden, während die Klugheit dafür eingesetzt wird, dass sie auf angemessene Art erreicht werden.

Das höchste Gut

Hochgradig politisch relevant wird die skizzierte Ethik als Lehre vom guten Leben und Handeln für das politische Denken, weil Aristoteles eine strukturelle Gleichheit zwischen der ethischen und der politischen Entscheidungssituation diagnostiziert. Nicht nur der einzelne Mensch strebt nach dem, was er für gut hält, auch seine Gemeinschaften sind auf ein Ziel hin orientiert. Die politische Gemeinschaft als Gemeinschaft aller Gemeinschaften zielt sogar auf das höchste Gut, das auf dieser Erde zu verwirklichen ist: das gute Leben in einer Gemeinschaft.

»Da wir sehen, dass jeder Staat eine Gemeinschaft ist und jede Gemeinschaft um eines Gutes willen besteht (denn alle Wesen tun alles um dessentwegen, was sie für gut halten), so ist es klar, dass zwar alle Gemeinschaften auf irgendein Gut zielen, am meisten aber und auf das unter allen bedeutendste Gut jene, die von allen Gemeinschaften die Bedeutendste ist und alle übrigen in sich umschließt. Diese ist der sogenannte Staat und die staatliche Gemeinschaft.« (Politika 1252 a1).

Wer soll herrschen?

Daraus ergibt sich im weiteren Verlauf der Argumentation eine strukturelle Entsprechung zwischen der ethischen Entscheidungssituation des einzelnen Bürgers und der politischen Entscheidungssituation der ganzen Stadt. Aristoteles bietet uns ein komplexes, auf Überlegungen zum Zusammenhang von menschlichem Handeln, politischer Kommunikation und politischer Herrschaft aufgebautes Politikmodell an. Ausgangspunkt ist ähnlich wie bei Platon die Überlegung, wer denn die Herrschaft in einem politischen Gebilde übernehmen soll, damit dessen Qualität garantiert werden kann (s. a. Abb. 7). Ganz anders als sein Lehrer gibt Aristoteles aber zu bedenken, dass nur dann einer wegen seiner Vorzüge allein herrschen darf, wenn er alle anderen Mitbürger zusammen an Kompetenzen und Tugenden übertrifft. Wo dieser außergewöhnliche Zustand eintreten sollte, da ist die Monarchie ohne Zweifel die beste aller Staatsformen, wenn der König allein im Interesse seines eher unmündigen Volkes regiert. Die Aristokratie als Herrschaft einiger weniger (der aristoi = der Besten) lässt sich rechtfertigen, wenn diese Edlen das Volk insgesamt übertreffen und zum Wohl ihrer Mitmenschen die Macht ausüben.

Beide Staatsformen allerdings sind durch schlimme Entartungen gefährdet. Sobald einer allein regiert, ohne dass er die nötigen Qualitäten hat und daher auch nur seine Interessen und nicht die des Gemeinwesens verfolgt, wird aus der Herrschaft des Einen eine Tyrannei. Wenn die wenigen nur ihre Interessen verfolgen, entsteht eine Oligarchie. Das Volk wird in beiden Fällen unter der im Kern illegitimen Herrschaft leiden.

Politie

Ideal ist eine Herrschaft in einer Gemeinschaft, in der sich die Bürger über die fundamentalen Fragen menschlichen Zusammenlebens einig sind und in der zugleich keine zu großen Unterschiede in Bezug auf die Moralvorstellung und die Kultur bestehen. Zentrale Voraussetzung aber ist, dass in diesem Gemeinwesen Freie über Freie herrschen. Genau betrachtet, so Aristoteles, ist das im Unterschied zur väterlichen, monarchischen oder despotischen Herrschaft die im eigentlichen Sinn politische Herrschaft:

»Aber es gibt auch eine Herrschaft, in der man über Gleichartige und Freie regiert. Diese nennen wir die politische Herrschaft. Sie muss der Regent lernen dadurch, dass er regiert wird […] der gute Bürger muss sich sowohl regieren lassen, wie auch regieren können, und dies ist die Tugend des Bürgers: die Regierung von Freien in beiden Richtungen zu verstehen.« (Politika 1277b 5).

Definition

Politische Herrschaft

Politische Herrschaft ist die Herrschaft über Gleiche und Freie. Sie steht nur dem zu, der sich selbst beherrscht und auch beherrschen lässt.

Herrschaft der Bürger

In solch einem Gemeinwesen ist eine Politie möglich, in der zwar die wichtigen politischen Ämter an die Fähigen vergeben werden, in der aber alle Bürger an der politischen Meinungsbildung mitwirken. Voraussetzung für diese Mitwirkung ist, dass die Bürger über die nötige Selbstbeherrschung im engeren Sinn des Wortes verfügen. Tugendhafte Menschen beherrschen sich selbst und sie lassen sich beherrschen, was wiederum Voraussetzung für den Anspruch ist, gegenüber anderen Macht auszuüben. Aber auch solch eine Ordnung kann entarten, wenn die vielen Armen begreifen, dass sie die Macht zur Umverteilung der Reichtümer benutzen können. Dann entsteht eine Ordnung, in der die Vielen den wenigen vermögenden und herausragenden Mitbürgern ihren Wohlstand und ihre Stellung neiden und danach trachten, sich deren Güter anzueignen und die Angesehenen zu verleumden. Ganz gegen unseren positiven Wortgebrauch nennt Aristoteles diese Ordnung Demokratie. Sie ist genauso Unordnung wie die Tyrannei des Einen – sie ist die Tyrannei der Vielen.

Abb. 7 |

Verfassungsformen des Aristoteles


Ihre inhaltliche Rechtfertigung erfährt die Mitwirkung der Menge dadurch, dass der politische Entscheidungsprozess als Beratungssituation modelliert wird. Das Wissen, das hier zum Einsatz kommen muss, ist hinreichend, aber nicht genau. Daher bedarf es einer gemeinsamen Anstrengung der Bürger, die Träger des Wissens und Akteure des Handelns sind. Aristoteles, der bereits die eigentliche Politik als Herrschaft von Freien über Freie charakterisiert hatte, sieht in der Beratung das institutionelle Konstitutionsmoment der legitimen Herrschaft unter den Bedingungen der Freiheit. Der große Pragmatiker Aristoteles formuliert zwei Grundsätze einer Mitwirkung der Vielen in der Politik.

● Nicht nur derjenige, der etwas herstellt, kann dies angemessen beurteilen, sondern auch der, der es verwendet (Politika 1182 a 20).

● Die vielen Bürger sind, wenn sie zusammenkommen und beraten, in fast jedem denkbaren Fall den wenigen Spezialisten an Wissen, Tatkraft und Rat überlegen (Politika 1281 a/b).

In der Beratungssituation, wenn die Bürger der Polis versammelt sind und die besonders geeigneten das Wort ergreifen und ihren Rat erteilen, wird wie in den anderen Typen der öffentlichen Rede das sittliche Selbstverständnis der Gemeinschaft aktualisiert. Das heißt, dass die Redner und die Bürger immer auch darüber beraten, wer sie als politische Gemeinschaft sind und wer sie in Zukunft sein wollen. Alle Reden, die Aristoteles in seiner Schrift über die Redekunst (Rhetorik) behandelt, sind in höchstem Maße politisch. Sie unterscheiden sich im Wesentlichen durch den Zeitpunkt, zu dem das Handeln stattfindet, und kaum im Hinblick auf die in diesem verwirklichten Werte (s. Abb. 8).

Aristoteles begreift Politik als einen kommunikativen Prozess der Suche nach der angemessenen Ordnung, in dem keiner die absolut richtigen Lösungen bereits parat hat. Es gibt nicht nur eine gute Ordnung und die Suche nach der angemessenen politischen Form des guten Lebens bleibt eine ständige Aufgabe. Gleichwohl leistet die politische Philosophie Orientierungshilfen tierungshilfen und beschreibt den allgemeinen Rahmen, in dem Menschen angemessen nach der Form ihres Zusammenlebens suchen können.

Abb. 8 |

Typen der Rede und ihre ethischpolitische Bedeutung


Zusammenfassung

Kennzeichen von Aristoteles politischer Theorie

● Strukturgleichheit von ethischer und politischer Entscheidung: Angesichts einer offenen Handlungssituation und dem menschlichen Streben nach einem guten Leben bedarf es einer vernünftigen und wohlberatenen Entscheidung über Handlungen.

● Herrschaft der Bürger: In einem Gemeinwesen der Gleichen und Freien ist Herrschaft nur im Wechsel von beherrscht werden und herrschen legitim. Das setzt tugendhafte und selbstbeherrschte Bürger voraus.

● Rhetorische Politik: In der politischen Beratung führt die Gemeinschaft einen Selbstverständigungsdiskurs über die eigene Existenz.


2.2.4Augustinus: Die Transzendenz der guten Ordnung

Rom und göttliches Reich

Nach der Eroberung Roms durch die Westgoten unter Alarich im Jahr 410 nach Christus neigt sich die Epoche der Antike ihrem Ende zu. Augustinus (354 – 430 n. Chr.), der sein Hauptwerk über den Gottesstaat (»De Civitate Dei«) vor allem schreibt, um das Christentum gegen den Vorwurf zu verteidigen, es sei schuld am Untergang Roms, entwirft eine politische Theologie, in der die Fragen der guten menschlichen Ordnung aus der Perspektive der jenseitigen Ordnung diskutiert werden. Nach seiner Lehre sind alle Menschen vor Gott gleich.

Gleichheit in der Sünde

»Doch wer irgend als Mensch, das heißt als sterbliches, vernunftbegabtes Lebewesen geboren wird, mag er an Leibesgestalt, Farbe, Bewegung oder Stimme uns noch so fremdartig vorkommen, […], er stammt von jenem Ersterschaffenen ab; daran darf kein Gläubiger zweifeln.« (Gottesstaat XVI/8).

Die Menschen sind zunächst aber nur als Sünder vor Gott gleich, weil sie der auf Adam und Eva zurückgehenden Erbsünde verfallen sind. Adam und Eva hatten ihren menschlichen Willen dem Willen Gottes vorgezogen und wurden daher aus dem Paradies vertrieben. Wenn Gottes Gnade den Menschen nicht in einer Offenbarung die Augen für das Licht der Evangelien öffnet, führt kein Weg zur Erlösung aus der Sünde heraus. Die weltlichen Angelegenheiten sind danach zu beurteilen, ob sie dem Menschen Raum für ein gottgefälliges Leben lassen. Ein anderer Maßstab kann keine Geltung beanspruchen.

Die erlösungsbedürftige Menschheit befindet sich im Lichte der göttlichen Gnade auf einem Weg durch die Zeit, der ein eindeutiges Ziel hat. Für den einzelnen Menschen ist es sein individueller Tod, für die Menschheit ist es das Ende der Welt. In beiden Fällen steht der Gedanke der Rechenschaft und der Erlösung im Vordergrund. Am Tag des jüngsten Gerichtes werden die Sünder mit den ewigen Strafen bestraft und die wahrhaft Gläubigen mit dem ewigen Leben belohnt.

Gottesstaat und irdischer Staat

Bis zum Ende der Zeit aber, so Augustinus, ist die Geschichte die Geschichte zweier Reiche bzw. zweier Gemeinschaften (civitates), die – für das menschliche Auge bis zur vollkommenen Ununterscheidbarkeit vermischt – durch die irdischen Zeitalter pilgern: der irdische Staat der Menschen, die nach dem Fleische leben und sich um die Gebote Gottes wenig kümmern, und der Gottesstaat derjenigen, die nach dem Geist Gottes leben.

Niemand kann wissen, ob er der Gnade Gottes, die ihn erst zum Vollbürger des Gottesstaates macht, sicher sein kann.

»Während also dieser himmlische Staat auf Erden pilgert, beruft er aus allen Völkern seine Bürger und sammelt aus allen Zungen seine Pilgergemeinde. Er fragt nicht nach Unterschieden in Sitten, Gesetzen und Einrichtungen, wodurch der irdische Frieden aufrechterhalten wird, lehnt oder schafft nichts davon ab, bewahrt und befolgt es vielmehr, mag es auch in den verschiedenen Völkern verschieden sein, da alles ein und demselben Ziele irdischen Friedens dient. Nur darf es die Religion, die den einen und höchsten Gott verehren lehrt, nicht hindern.« (Gottesstaat XIX/17).

Staaten als Räuberbanden

Augustinus vergleicht die historisch existierenden Staaten mit Räuberbanden (Gottesstaat IV/4). Dieser Vergleich hebt darauf ab, dass ein Gemeinwesen, das sich nur auf der Grundlage eines gemeinsamen Interesses bzw. Nutzens bildet und nicht auf (göttliche) Gerechtigkeit aufbaut, letztlich – eben wie eine Räuberbande – keine moralische Grundlage hat. Es sieht seine Mitglieder nur unter dem Aspekt ihres Nutzens für die Erreichung seiner Ziele, egal welche das sein mögen, und wird sich auch anderen Gemeinwesen gegenüber nicht friedlich und konstruktiv verhalten.

Definition

Zwei Reiche

Gottesstaat und irdischer Staat – die Gemeinschaft der wahren Gläubigen und die Vereinigung der auf die diesseitige Welt ausgerichteten Menschen – sind gemeinsam auf dem Weg durch die Zeit zum Ende der Geschichte, dem jüngsten Gericht Gottes.

Augustinus stellt in seiner politischen Theologie die Weichen für die grundlegende Sicht des Christentums auf den Bereich des Politischen. Weil er selbst in seinem turbulenten und wechselhaften Leben den tiefen Unfrieden einer Zeit politischer Umbrüche erfahren hat, wird ihm Politik zu einer bloßen Funktion der Erlösung im Jenseits, die aus sich heraus nur noch bestenfalls einen zweitklassigen Beitrag zum guten Leben leisten kann. Gleichzeitig zeigt sich in seinem Werk der christliche Universalismus, der in allen Menschen Abbilder Gottes sieht, in einer theoretisch anspruchsvollen Form. Die Lehre von den zwei Reichen führt die Vorstellung ein, dass Geschichte ein Ziel hat. Sie gibt in ihrer religiösen und später in ihrer säkularisierten (verweltlichten) Form eine der wesentlichen Muster der Erklärung von Geschichte ab. Wenn nämlich Geschichte ein Ziel und einen Sinn hat, so bestimmen sich die politischen Entscheidungen nicht zuletzt im Hinblick auf eben dieses Ziel.

Zusammenfassung

Kennzeichen von Augustinus politischer Theologie

● radikaler Universalismus: Alle Menschen sind unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Rasse (und tendenziell ihrem Geschlecht) gleich, wenn auch zunächst nur gleich sündhaft und erlösungsbedürftig.

● Geschichtsteleologie: Das einzelne Leben ist eingebettet in die Sinnhaftigkeit der gesamten Geschichte, die aber erst am Ende der Zeit in ihrer vollen Bedeutung erkennbar sein wird.

● Abwertung der diesseitigen Realität: Die menschliche Welt ist voller Gefährdungen für das Heil und die Politik kann bestenfalls eine Hilfsfunktion für das Seelenheil der Menschen erfüllen.

Die Präsenz der politischen Konzepte der Antike wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass nicht nur so wichtige Begriffe wie der der Demokratie ursprünglich aus dem Altgriechischen kommen, sondern dass auch wesentliche Strukturen der Entscheidungsfindung hier erstmals erprobt wurden. Sie wurden unter dem Aspekt ihrer Funktionalität aber eben auch unter dem ihrer moralischen Richtigkeit auf höchstem Niveau diskutiert. Zugleich ging es immer auch um den engen Zusammenhang des guten und richtigen Lebens des Einzelnen und der Gemeinschaft. Ohne Zweifel kann man heute das Problem des guten Lebens nicht mehr in dem Sinn politisch lösen, dass mehr oder weniger verbindliche Lebensformen festgelegt werden. Die heutige Zeit kennzeichnet die Einsicht, dass ein allgemeiner Konsens über das gute Leben nur um den Preis der Unterdrückung hergestellt werden könnte. Trotzdem kann man aber jeden Tag feststellen, dass auch unter den Bedingungen einer entwickelten Demokratie Fragen der Lebensführung (z. B. des Konsumverhaltens, des individuellen Ressourcenverbrauchs, der Erwartungen gegenüber dem Gemeinwesen usw.) nicht folgenlos sind für Politik und das Zusammenleben in Gesellschaften, die scheinbar der Frage des individuellen Glücks gegenüber grenzenlos indifferent geworden sind.

Die moderne Antike


2.2.5Machiavelli: Denken im Übergang

Krieg und Republik

Niccolò Machiavelli (1469–1527) hatte am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit in Florenz bedeutende politische Ämter inne, fiel wegen seiner Sympathie für die republikanische Ordnung aber bei den immer wieder an die Macht gelangenden Medici-Fürsten in Ungnade, wurde gefoltert und starb verbannt auf seinem Landsitz. Machiavelli, der als einer der Begründer des modernen politikwissenschaftlichen Realismus gilt, erlebte und verarbeitete in seinem politischen Denken die Krise der italienischen Stadtstaaten, die zunehmend zum Spielball der sich entwickelnden europäischen Nationalstaaten wurden. Sein Werk, das neben den politischen Schriften Theaterstücke, historische Schriften und insbesondere Abhandlungen zur Kriegskunst umfasst, zieht aus den Erfahrungen ständiger Herrschaftswechsel und des wechselnden Kriegsglückes eine Reihe systematischer Schlussfolgerungen. Sie machen Machiavelli je nach Blickwinkel zum »Lehrer des Bösen« (Leo Strauss) oder zum hervorragenden Denker der Republik (Jean-Jacques Rouseau).

Zentraler Ausgangspunkt seines politischen Denkens ist die Ablehnung aller Politikkonzepte, in deren Mittelpunkt das Gute und das gute Leben stehen. Machiavelli empfindet sie in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, als vollkommen realitätsfern und stellt ihnen sein Programm einer realistischen Politik gegenüber. In seiner Schrift »Il Principe« (1513), die sich formal, aber nicht inhaltlich an der mittelalterlichen Fürstenspiegelliteratur anschließt und die er verfasste, um sich bei den an die Macht zurückgekehrten Medici einzuschmeicheln, schreibt er:

Sein statt sollen

»Da es aber meine Absicht ist, etwas Brauchbares für den zu schreiben, der Interesse dafür hat, schien es mir zweckmäßiger, dem wirklichen Wesen der Dinge nachzugehen als deren Phantasiebild. Viele haben sich Vorstellungen von Freistaaten und Alleinherrschaften gemacht, von denen man in Wirklichkeit weder etwas gesehen noch gehört hat; denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, dass derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält. Ein Mensch, der immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind.« (Der Fürst (1513) 1986: XV).

Wer wirklich etwas über Politik wissen will, der muss die Menschen nehmen, wie sie sind, und muss versuchen, aus der Geschichte zu lernen. Das ist möglich, weil sich die Menschen letztlich nicht ändern und sich aus diesem Grund die Geschichte in einem immer wiederkehrenden Kreislauf wiederholt (zyklisches Geschichtsbild). Machiavellis Menschenbild ist wenig schmeichelhaft. In seiner negativen Anthropologie erscheint der Mensch als schwach, gierig und ehrsüchtig. Wer herrschen will - und dies gilt insbesondere in schwierigen Zeiten – der darf kein noch so fragwürdiges Mittel der Herrschaft (z. B. Lüge, Verrat und Mord) verschmähen. Der politische Zweck, und das ist vor allem der Erhalt der persönlichen Herrschaft und des Staatswesens, heiligt jedes Mittel.

Definition

Politischer Realismus

Der realistische Politikbegriff bedeutet eine Hinwendung zur historischen und praktischen Erfahrung, den Verzicht auf idealistische Unterstellungen und die Akzeptanz eines negativen Menschenbildes. Macht und Machterhalt stehen unabhängig von ihren Zielen als faktischer Kern aller Politik im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Handlungstheorie

Aus seinen Beobachtungen und der historischen Reflexion entwickelt Machiavelli eine sehr moderne Handlungstheorie, die sich um einige zentrale Begriffe herum gruppieren lässt (s. Abb. 9).

Der tatkräftige und vitale Fürst (Politiker) erkennt aufgrund seines Wissens von den politischen Handlungssituationen die Handlungsgelegenheit und setzt ohne Rücksicht auf irgendwelche moralischen oder sonstigen Bedenken mit dem nötigen Glück seine Ziele durch.

Abb. 9 |

Handlungstheorie der Politik


Machiavelli lässt keinen Zweifel daran, dass er moralische Skrupel in der Politik für nicht angebracht hält. Keinen Zweifel lässt er auch daran, dass das letzte Ziel seiner Ratschläge die Befreiung und Einigung Italiens darstellt. Ein vollkommener Fürst, der sich jenseits aller Moralität der dazu nötigen politischen Mittel bedienen darf, soll Italien einen und die »Barbaren« (Deutsche, Franzosen usw.) aus dem Land vertreiben. Im Idealfall soll er dann eine Republik nach römischem Vorbild gründen und sich nach getaner Arbeit aus der Politik zurückziehen. So mündet der »Principe« in das andere große Werk Machiavellis, das ihn als glühenden Republikaner erkennen lässt: die »Discorsi« (entstanden 1513/22). Er legt darin nahe, dass die anstehende Aufgabe mit der Gründung Roms verglichen werden kann. Auch wenn, so schreibt er, am Beginn der Geschichte Roms ein Brudermord stehen mag (Romulus tötet Remus), so ist diese Tat mehr als gerechtfertigt durch die Gründung Roms, der ersten vollkommenen Republik, der die Mischung demokratischer und aristokratischer Elemente in ihrer Verfassung gelungen ist. Sie gilt ihm als Lebensform, in der die Bürger nicht nur Reichtümern hinterherjagen, sondern sich mit aller Kraft um ihr Gemeinwesen kümmern. Dort gibt es keine gekauften Söldner, wie in den italienischen Städten zu Machiavellis Zeit, sondern nur Bürger unter Waffen, was bereits im Kern jede Form von Unterdrückung unmöglich macht. Gleichzeitig, und das zeigt die extrem starken militärische Einflüsse in Machiavellis Denken, ist diese Republik nach außen offensiv und stabilisiert sich durch Eroberungen nach innen.

Zusammenfassung

Handlungstheorie, negative Anthropologie und politischer Realismus

Machiavelli formuliert vor dem Hintergrund der Wirren im Italien des 15. Jahrhunderts auf der Basis einer historisch informierten Handlungstheorie eines der ersten realistischen Politikmodelle, das Erfahrung und ein negatives Menschenbild zur Grundlage aller Herrschaftskonzepte macht. Ziel ist dabei die Rekonstruktion einer republikanischen Ordnung und Lebensform, die einer außergewöhnlichen Gründerfigur bedarf.

Lernkontrollfragen


1Was sind die wesentlichen Voraussetzungen dafür, dass sich im antiken Griechenland Politik als eigener Realitätsbereich herausbilden konnte.
2Warum kritisiert Platon die Demokratie und welche Rolle spielt Wissen in seinem Politikkonzept?
3Welche Strukturen unterscheiden die Politik nach Aristoteles von anderen Bereichen der Realität?
4Warum ist Beratung für Aristoteles wichtig?
5Unter welchem Aspekt sind die Menschen bei Augustinus gleich?
6Was versteht man unter der Zwei-Reiche-Lehre und welche Bedeutung hat sie für den christlichen Politikbegriff?
7Was versteht Machiavelli unter »Virtu« und in welchem Zusammenhang steht sie mit den anderen Grundbegriffen seiner Theorie?
8Welche Bedeutung hat der Machtbegriff im Realismus?

Literatur

Originalwerke

Aristoteles:

Nikomachische Ethik (altgriech./dt.), hrsg. von Rainer Nickel, übers. von Olof Gigon, Düsseldorf/Zürich 2001.

Politik (Politika), hrsg. u. übers. von Olof Gigon, Zürich 1971.

Rhetorik, übers. von Franz G. Sieveke, München 1980.

Augustinus:

Der Gottesstaat, übers. von Wilhelm Thimme, München 1977.

Die Bekenntnisse (lat./dt.), übers. von Wilhelm Thimme, Düsseldorf 2004.

Machiavelli Niccolò:

Der Fürst/Il Principe (it./dt.), hrsg. u. übers. von P. Rippel, Stuttgart 1986.

Discorsi, hrsg. u. übers. von Rudolf Zorn, 3. Auflage, Stuttgart 2007.

Platon:

Werke in 8 Bänden (altgriech./dt.), hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1971. Band 4 umfasst die Politeia.

Sekundärliteratur

Bien, Günther (1973), Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, Freiburg. Standardwerk über das aristotelische Denken, das dessen besondere Bedeutung für die Politikwissenschaft deutlich macht.

Fetscher, Iring/Münkler, Herfried (Hrsg.) (1988), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 1, München.

Handbuch mit Einzeldarstellungen zum politischen Denken in Athen (Raaflaub), zu Aristoteles (Spahn) und dem frühen Christentums (Klein).

Flasch, Kurt (1980), Augustin, Stuttgart.

Umfassende Darstellung des Lebens und des Werkes mit einer kritischen Würdigung des Augustinus und besonderer Betonung seines Einflusses auf das Christentum.

Höffe, Otfried (Hrsg.) (2014), Aristoteles – Die Nikomachische Ethik, 2. Auflage, Berlin. Hier sind Texte zur Analyse der Ethik des Aristoteles versammelt, die sich u. a. mit seinem Gerechtigkeitsbegriff (Bien), der Tugendlehre (Wolf), der philosophischen Grundlegung (Höffe) und der Phronesis (Ebert) beschäftigen.

Horn, Christoph (Hrsg.) (1997), Augustinus – De Civitate Dei, Berlin.

Sammlung von Interpretationen des Gottesstaates, die die verschiedenen Dimensionen des Werkes von der Theologie bis in die Politikwissenschaft abdecken.

Kersting, Wolfgang (2006), Platons »Staat«, 2. Auflage, Darmstadt.

Werkgetreue Analyse der »Politeia«, die am Text entlang Platons Argumente erklärt.

Meier, Christian (1980), Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/Main. Meier Beschreibt die soziokulturellen und institutionellen Voraussetzungen der Genese der antiken Demokratie und arbeitet dabei den Zusammenhang von Demokratie und kultischer Tragödie bzw. Komödie heraus.

Münkler, Herfried (2007), Machiavelli:

Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Stadt Florenz, 2. Auflage, Frankfurt/M.

Standardwerk, das die sozialen, kulturellen, ökonomischen und kulturellen Kontexte des Werkes von Machiavelli exemplarisch rekonstruiert.

Ottmann, Henning (2001 f.), Geschichte des politischen Denkens Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, Teilbände: 1/1: Die Griechen. Teilband 1: Von Homer bis Sokrates, 1/2: Die Griechen. Teilband 2: Von Platon bis zum Hellenismus, 2/2: Das Mittelalter, Stuttgart.

Ideengeschichtliche Gesamtdarstellung aus einer Hand mit Einbeziehung des kulturellen Kontextes.

Zehnpfennig, Barbara (2011), Platon zur Einführung, 4. Auflage, Hamburg.

Knapper Gesamtüberblick über Leben und Werk, der sich auch ohne Vorbildung lesen lässt.


2.3Legitimation von Herrschaft: Vertragstheorie


2.3.1Der Zwang zur Legitimation

Herrschaft und Rechtfertigung

Wenn Herrschaft von Dauer sein soll, dann reicht Zwang als Mittel der Herrschaftssicherung allein nicht aus. Die Beherrschten müssen glauben, dass der Herrscher ein Recht zur Herrschaft hat. Ein politisches Gebilde bleibt nur dann stabil, wenn die Untertanen ohne die unmittelbare Ausübung von Gewalt gehorchen bzw. zumindest nicht rebellieren. Der Soziologe Max Weber hat in seiner Herrschaftssoziologie drei Typen von Herrschaft unterschieden (s. Abb. 10). Die Unterscheidung baut auf den Gründen auf, derentwegen die Herrschaft als rechtmäßig (legitim) angesehen wird (Weber (1922) 1980: III/§ 2).