Was ist ein Menschenleben wert?

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Was ist ein Menschenleben wert?
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Einleitung

Illegale Transplantationen in China, Euthanasie in Belgien und Medikamentenexperimente in Guatemala – in diesem E-Book enthüllen wir umstrittene medizinische Methoden, die unserem ethischen Verständnis von Menschenrechten und dem Schutz des Lebens häufig völlig widersprechen.

Dossiers kompakt: Das sind jeweils drei herausragende Dossiers der ZEIT zu einem gemeinsamen Brennpunktthema. Für diese packenden Reportagen recherchieren unsere Autoren monatelang, reisen in alle Welt und decken Hintergründe und Skandale auf.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Menschenversuche: Das Experiment des Sadisten Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg infizierte der US-Mediziner John Cutler im Auftrag seiner Regierung fast 1400 Menschen in Guatemala mit Syphilis. Viele starben qualvoll, noch heute leiden Opfer an ihren Verletzungen. Jetzt tauchen die Versuchsprotokolle auf VON AMRAI COEN

Organhandel: Herz auf Bestellung In China werden Hingerichteten Organe entnommen – und gegen Bezahlung offenbar auch Patienten aus dem Westen implantiert VON MARTINA KELLER, MITARBEIT: ARNE SCHWARZ

Euthanasie: Carine, 43, lässt sich töten Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ereignete sich in Belgien eine Weltpremiere: Ärzte ließen eine Patientin auf deren Wunsch hin sterben, sofort danach entnahmen ihr andere Mediziner Organe VON MARTINA KELLER

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Impressum

Menschenversuche
Das Experiment des Sadisten
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg infizierte der US-Mediziner John Cutler im Auftrag seiner Regierung fast 1400 Menschen in Guatemala mit Syphilis. Viele starben qualvoll, noch heute leiden Opfer an ihren Verletzungen. Jetzt tauchen die Versuchsprotokolle auf

VON AMRAI COEN

DIE ZEIT, 14.06.2012 Nr. 25

Als der US-Präsident Barack Obama davon erfuhr, rief er eine Nummer mit der Vorwahl von Guatemala an. Er sagte, er empfinde »tiefstes Bedauern« und entschuldige sich bei den Opfern. Der guatemaltekische Präsident Álvaro Colom antwortete, was geschehen sei, nenne er ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.

Für den Amerikaner Obama war der Anruf der Beginn einer Aufarbeitung, für die alte Guatemaltekin Marta Orellana war er der Beginn einer Krise. Erst durch diesen Anruf erfuhr sie von ihrem Schicksal. Erfuhr, dass die Amerikaner – als sie ein kleines Kind war – ihr Leben in Leid verwandelt hatten. »Dass ich infiziert wurde, ist schlimm«, sagt sie. »Dass ich davon erfahren habe, ist schlimmer.«

Der Fund, der das Schicksal von Marta Orellana und knapp 1500 weiteren Guatemalteken verändert hat, lag unberührt vergraben in den Archiven der Pittsburgh-Universität – mehr als fünfzig Jahre lang. Bis zum Jahr 2009. Da entdeckte eine Historikerin die Akten zufällig bei einer Recherche und brachte eine Welle ins Rollen. Nachdem sich Barack Obama bei dem guatemaltekischen Staatspräsidenten entschuldigt hatte, verklagte Guatemala die USA. Nun erreichen die Ausläufer der Affäre die Gerichte. Das, wofür Obama sich entschuldigte, waren Experimente, die zwischen 1946 und 1948 in Guatemala stattgefunden haben. Medizinische Versuche an lebenden Menschen, finanziert von den Vereinigten Staaten.

Der Fund war eine nüchterne Studie mit dem Titel Inoculation Syphilis (»Einimpfen von Syphilis«), verfasst von einem gewissen John Charles Cutler, sieben Kapitel und 314 Seiten lang. Eine Studie, die nie veröffentlicht wurde; wer sie liest, weiß, warum.

Marta Orellana versteht nicht, warum Barack Obama sich entschuldigt hat: »Er kann ja nichts dafür.« Die alte Frau presst die Lippen aufeinander, sie weint, und ihre Tochter sagt: »Du bist auch nicht schuld.« Nein, Orellana ist nicht schuld daran, dass ihre Tochter den Job als Verkäuferin in einem Schnellrestaurant verloren hat, weil sie von ihr, Orellana, »diese Sache« geerbt hat. Orellana ist nicht schuld daran, dass ihr Sohn von seiner Frau verlassen wurde, weil er »diese Sache« hat. Sie ist auch nicht schuld daran, dass ihr Enkel von seiner Geliebten sitzen gelassen wurde, wegen »dieser Sache«.

»Diese Sache«, so nennt Marta Orellana ihre Geschlechtskrankheit, die bedeutet, dass sie oft müde und ihr oft übel ist, dass ihre Augen eitrige Tränen weinen, dass ihr die Haare ausfallen. Sie sitzt in einer morschen Holzhütte in Guatemala-Stadt, La Ilusión heißt das Viertel, Kletterpflanzen dringen durch die Hauswände, das Dach ist eine löchrige Plastikplane, es riecht wie in einem feuchten Keller. Orellana, eine kleine, runde Frau, 74 Jahre, 5 Kinder, 21 Enkel, 8 Urenkel, sagt: »Ich hätte niemals Kinder gekriegt, wenn ich das gewusst hätte.«

Vor vier Wochen hat sie einen Syphilisschnelltest gemacht: positiv. Einen zweiten Test: positiv. Ihre Kinder wurden untersucht. Sohn: positiv, Tochter: positiv, Enkelsohn: positiv. »Es ist wie ein böser Samen, den sie in mich gepflanzt haben«, sagt sie. Und jetzt überwuchert die Krankheit die ganze Familie.

Es ist das Jahr 1946. Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei, die Welt sortiert sich neu. Die Menschen suchen nach Jobs und Wohnungen, auf dem Schwarzmarkt zahlt man mit amerikanischen Zigaretten. Harry S. Truman ist Präsident der Vereinigten Staaten, Frank Sinatra singt die Nummer-eins-Hits im Radio, der Bikini ist die schockierendste Erfindung des Jahres, die Mikrowelle die praktischste.

Die US-Regierung hofft auf Erfindungen aus der Medizin. Sie kämpft mit Geschlechtskrankheiten. Auf Plakaten steht: »Sie sehen vielleicht sauber aus – aber Prostituierte verbreiten Syphilis und Gonorrhö«. Viele der Kriegsheimkehrer sterben an der Syphilis. Damals schätzt man, dass sich jedes Jahr eine Million Amerikaner neu infizieren.

Die Syphilis ist eine schleichende Krankheit, sie schwelt lange, bevor sie ausbricht. Normalerweise infiziert man sich beim Geschlechtsverkehr, es gibt aber auch andere Ansteckungswege. Der Erreger wird von Wunde zu Wunde übertragen, eine minimale Verletzung genügt. Neun Tage nach der Infektion entsteht an der befallenen Stelle ein knotiges Geschwür. Wird der Kranke nicht behandelt, kann es drei Wochen später zu Fieber und Schmerzen im ganzen Körper kommen, weitere drei Monate später zu Ausschlag in Mund und Rachen, Augenentzündung, Haarausfall. Nach zwei Jahren greift die Krankheit die inneren Organe an, zerstört die Knochen, die Lunge, die Blutgefäße. Sie kann Menschen lähmen und das Gehirn aufweichen. Sie kann töten.

Sie kann aber auch jahrelang im Körper brodeln, ohne sich zu zeigen. Für unbehandelte Syphilitiker liegt die Wahrscheinlichkeit, dahinzusiechen oder zu sterben, bei 15 Prozent. Viele berühmte Männer sind dem Leiden erlegen. Zum Beispiel der Wiener Komponist Franz Schubert: Sechs Jahre litt er an der Syphilis, bis er 1828 starb. Auch hinter Friedrich Nietzsches geistiger Umnachtung und frühem Tod vermuten Historiker heute eine unbehandelte Syphilis. Heinrich Heine starb wohl an der Krankheit und auch schon Christoph Kolumbus.

Im Jahr 1946 erscheint die Syphilis den Menschen so bedrohlich wie uns heute Aids oder Krebs. »Syphilophobie« heißt die ständige Angst, sich anzustecken. Entdeckte jetzt ein Arzt eine Impfung gegen die Syphilis, er dürfte wohl auf den Nobelpreis hoffen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks wird Deutschland entnazifiziert. In Nürnberg stehen zwanzig Ärzte und drei Helfer vor Gericht. Sieben von ihnen werden zum Tode verurteilt, weil sie an Menschen experimentiert haben.

Der amerikanische Mediziner John Charles Cutler ist gerade 31 Jahre alt. Er ist seit einem Jahr mit Eliese verheiratet, die er während des Krieges in New York kennengelernt hat. Cutler trägt einen Doktortitel. Er ist groß und schlank, ein Gentleman, er liebt Eliese und seine Forschung. Sein Spezialgebiet sind Geschlechtskrankheiten.

Frederico Ramos pinkelt seit sechzig Jahren Blut und Schleim

Zuletzt war er Arzt in einem Gefängnis im US-Bundesstaat Indiana. Er und sein Team wollten den Verlauf von Syphilis erforschen und ein Mittel gegen die Krankheit finden. Sie beschlossen daher, Gefangene künstlich zu infizieren, und benutzten dafür Syphilisbakterien von erkrankten Prostituierten, die sie den Inhaftierten auf die Geschlechtsorgane schmierten. Aber die Gefangenen steckten sich ohne Verkehr mit Infizierten nicht an, Cutlers Methode war ineffektiv, seine Forschung sinnlos. Zehn Monate später wurde sie eingestellt.

Doch Cutler ist vom Ehrgeiz getrieben. Er will die Menschheit vor dieser Seuche retten. Er hat der Geißel Syphilis, die Männer in Armeestärke dahinsiechen lässt, den Krieg erklärt. Er ist bereit, Kollateralschäden in Kauf zu nehmen. »Das Ziel rechtfertigt alle Mittel« ist seine Kampfansage, so erzählt es ein Kollege.

Im Februar 1946 bekommt Cutler von seinem Chef ein Angebot, das für den ehrgeizigen Mediziner wie ein Hauptgewinn klingen muss: Im Auftrag der US-Regierung soll er eine Syphilisstudie in Guatemala leiten. Dort ist es erlaubt, Prostituierte in Gefängnisse zu schicken und sie mit den Gefangenen verkehren zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Inhaftierten sich anstecken, ist also viel höher als bei Cutlers letzter Forschungsreihe. Cutler weiß, dass er weltberühmt werden kann, wenn er das Mittel gegen Syphilis findet. Zusammen mit Eliese zieht er im August 1946 nach Guatemala-Stadt. 65 Jahre später wird die greise Mrs. Cutler sagen, dass es ihr und ihrem Mann dort gut gefallen habe: »Well, we liked it very much.«


Im Jahre 2011 hat Marta Orellana ihre Wut auf dem Küchentisch ausgebreitet. Speckige Din-A4-Bögen, Aktenzeichen 1:11-cv-00527-RBW, I. 2.: »Diese Klage strebt an, den ungeheuerlichen Missbrauch derer aufzuklären, die ohne ihr Einverständnis für Medizinexperimente in Anspruch genommen wurden und mit den verheerenden Folgen leben müssen.« Orellana ist eines von knapp zwanzig Opfern, die eine Sammelklage gegen das amerikanische Gesundheitsministerium eingereicht haben. Sie fordern Schadensersatz.

 

Die noch lebenden Opfer, das sind neben Marta Orellana Menschen wie Frederico Ramos, 87, der seit mehr als sechzig Jahren Blut und Schleim pinkelt. Es sind Bauern wie Gonzalo Ramirez, der seinen infizierten Vater vor zwölf Jahren verloren hat, dessen Schwester mit Augenschäden geboren ist und dessen Tochter keine Haare hat.

Seit Orellana die Klage unterschrieben hat, ist ihr Leben kompliziert. Zwei Mal musste sie ins Krankenhaus, um zu beweisen, dass sie auch wirklich an der Syphilis leidet. Als in der Zeitung stand, dass die USA unter Umständen tatsächlich Entschädigung zahlen würden, waren plötzlich alle angesteckt – mit der Geldseuche. Hunderte Guatemalteken kamen nun mit der Behauptung an, sie hätten die Syphilis.

Seitdem Orellana unterschrieben hat, musste sie mit Anwälten, Menschenrechtlern und Regierungsvertretern über ihr Leid reden. Seitdem sie unterschrieben hat und in der Lokalzeitung abgebildet war, rufen nachts Kriminelle an und erpressen sie. Sie glauben, bei Orellana werde bald einiges zu holen sein.

Es heißt ja, der Mensch brauche Gewissheit, um sein Leben besser zu verstehen. Aber will er den Grund seines Elends wirklich wissen, wenn sich doch nichts mehr ändern lässt? Will Orellana wissen, dass sie als Neunjährige im Waisenheim Opfer eines Menschenversuchs wurde? Dass sie mit der Syphilis infiziert wurde und so, ohne es zu wissen, ihre Kinder, Enkel und Urenkel mit der Krankheit angesteckt hat? Marta Orellana sagt: »Ich wünschte, ich hätte niemals von dem Experiment erfahren. Mein Leben wäre einfacher.«

Mitte der vierziger Jahre kommt ein neues Medikament auf den Markt, es heißt Penicillin, es könnte Tausenden das Leben retten. Aber Penicillin ist teuer und knapp. Auch weiß man noch nicht viel über diesen neuen Wirkstoff, welche Nebenwirkungen er hat, ob er überhaupt hilft, wie viel man einem Patienten verabreichen darf. Forscher testen den Stoff an Kaninchen.

Im April 1947 erscheint in der New York Times eine Meldung, die von der Wunderwirkung des Medikaments berichtet. Spritzt man den Versuchstieren wenige Tage nach der Ansteckung Penicillin, bricht die Krankheit nicht einmal aus. Das Experiment weckt Hoffnungen, auch die Syphilis endlich in den Griff zu kriegen – wenn es nur erlaubt wäre, das Teufelszeug an Menschen zu testen. »Aber weil es ethisch unmöglich ist, Syphiliskeime in einen menschlichen Körper zu spritzen«, schreibt die New York Times, werde es wohl noch Jahre dauern, bis dieses Medikament nicht nur Versuchskaninchen, sondern auch Menschen helfen könne.

Jenseits der Landesgrenzen allerdings ist die Forschung grenzenlos – besonders für Dr. Cutler. Er und seine Kollegen sind kurz davor, das, was die New York Times »ethisch unmöglich« nennt, bei Gefangenen und Psychiatriepatienten in Guatemala durchzuführen. Denn Cutler will alles über die Syphilis wissen: Wie die Krankheit verläuft, wie er sie behandeln kann. Er will beweisen, dass der neue Wirkstoff Penicillin hilft, und er will die richtige Dosierung finden.

Nach seiner Ankunft in Lateinamerika sammelt er zunächst Unterschriften. Er bringt die leitenden Beamten des guatemaltekischen Gesundheitsministeriums dazu, eine Einverständniserklärung zu unterzeichnen, ebenso die Befehlshaber der Armee, den Chef eines Gefängnisses und den Leiter der staatlichen Psychiatrie. Cutler verspricht dem Land ein neues Hightech-Labor, gelobt die Förderung guatemaltekischer Ärzte und sagt dem Militär Gratisrationen von Penicillin zu. Finanziert werden seine Bemühungen vom Gesundheitsministerium der USA – also vom amerikanischen Steuerzahler. Die guatemaltekische Obrigkeit ist einverstanden: Man lässt Cutler freie Hand bei dem, was er »Forschen« nennt.

Nach dem guatemaltekischen Gesetz ist es verboten, Geschlechtskrankheiten bewusst zu verbreiten. Aber das Land ist zu jener Zeit im Umbruch, es hat gerade einen Diktator gestürzt, und keinen kümmert die Bürokratie. Sogar der neue Präsident Juan José Arévalo weiß, dass amerikanische Forscher ein Syphilisexperiment in seinem Land starten. Guatemala sieht in Cutlers Studie die Chance, das eigene Gesundheitssystem zu verbessern und von qualifizierten ausländischen Ärzten zu lernen.

Cutlers Weg, das »ethisch Unmögliche« möglich zu machen, beginnt bei den Prostituierten. Er spritzt ihnen Syphiliserreger und lässt sie auf Soldaten und Gefangene los. Dass die Probanden das minutenkurze Glück ihr Leben kosten kann, ahnen sie nicht. Eine Prostituierte lässt Cutler mit acht Soldaten hintereinander verkehren, in 71 Minuten. So steht es in seinen Notizen.

Den Sexualkontakt nennt Cutler »die natürliche Methode«. Doch es geht ihm immer noch nicht schnell genug, zu wenige Männer infizieren sich. Cutler wird ungeduldig, greift zu Zahnstocher und Tupfer und schmiert syphilisverseuchte Flüssigkeit tief in die Harnröhren seiner Patienten. In der Psychiatrie greift er zum Skalpell, kratzt münzgroße Wunden in die Penisse der Männer und tröpfelt Syphilisbakterien darauf, den Frauen spritzt er die Keime direkt ins Rückenmark. Das nennt Cutler »die künstliche Methode«.

Und seine Frau Eliese fotografiert: Hände in Latexhandschuhen, die wunde Penisse in die Kamera halten. Roter Hautausschlag auf Brüsten und Schultern. Tischtennisballgroße, matschige Wunden an Armen und Beinen. Hunderte Fotos auf Kodachrome-Filmen macht sie, farbig und scharf dokumentiert sie die Welt des Dr. Cutler im 16-Millimeter-Format.

Cutler ist verrückt nach seiner Forschung. Sie macht ihn blind. Für ihn sind die Patienten keine Menschen, er sieht sie als Teil seiner Studie. Er verfasst mehr als 10000 Notizen, die 63 Jahre später von Wissenschaftlern als »schlampig« bezeichnet werden. Er gibt den Patienten Spitznamen wie »der Stumme aus San Marcos« und »Berta«.

Berta musste viel leiden. Sie war Patientin der Psychiatrie. Wie alt sie war, ihren Nachnamen, ihre Nervenkrankheit – all das hat Cutler nicht dokumentiert. Im Februar 1948 spritzt er Berta die Syphilisbakterien in den linken Arm. Einen Monat später juckt ihre Haut. Cutler notiert, dass ihr rote Beulen an den Stellen wachsen, an denen er sie gestochen hat. Wunden klaffen an Armen und Beinen, ihre Haut verkümmert. Erst drei Monate nach der verseuchten Spritze gibt er ihr eine kleine Dosis Penicillin.

Ein halbes Jahr nach der infektiösen Injektion, am 23. August, schreibt Cutler: »Berta scheint zu sterben.« Am selben Tag streicht er ihr Eiter mit Gonorrhö-Bakterien eines anderen Patienten auf die Augen, schmiert die Keime auf ihre Harnröhre, auf ihren After. Und er spritzt ihr noch einmal Syphiliserreger. Ein paar Tage später sind Bertas Augen matschig und eitrig, sie blutet aus der Harnröhre. Am 27. August stirbt die Probandin Berta.

Cutlers Aufzeichnungen lesen sich streckenweise wie Tagebucheinträge eines Sadisten. Sie erinnern an den KZ-Arzt Josef Mengele, den »Todesengel von Auschwitz«, berüchtigt für seine Experimente an Häftlingen, Kleinwüchsigen und Zwillingen. Mengele, mitverantwortlich für den Massenmord an Hunderttausenden Juden.

»Er war kein Monster!«, sagt Eliese Cutler über ihren Mann. Während John Cutler in der Psychiatrie mit geschenkten Kühlschränken und Zigarettenspenden die Weiterführung seiner Studie ermöglicht, zahlen die Patienten mit ihrem Leben. Laut seinen Aufzeichnungen sterben insgesamt 83 Menschen während seiner Studie. Dokumentierte Infizierte: 558 Soldaten, 486 Psychiatriepatienten, 6 Prostituierte, 39 andere.

Korrupte Ärzte, niedrige Kosten – Guatemala ist für Cutler der ideale Ort

Seine Versuchskaninchen nennt Cutler »Volontäre«, aber es gibt kein einziges Dokument, das belegt, dass auch nur ein einziger Patient aufgeklärt worden wäre oder gar freiwillig an den Experimenten teilgenommen hätte. Solche schriftlichen Einverständniserklärungen sind Gesetz seit dem Nürnberger Ärzteprozess. Und Medizinversuche, die Menschen schaden könnten, sind streng verboten.

Dem Briefwechsel mit seinem Vorgesetzten in den USA, Dr. John Mahoney, lässt sich entnehmen, dass Cutler und sein Team sehr wohl wissen, was sie da tun und wie weit jenseits der ethischen Grenze sie sich bewegen. In einem Brief erwähnt Cutler den Artikel aus der New York Times. Er schreibt: »Uns ist beiden klar, dass es nicht ratsam ist, zu viele Leute von dieser Arbeit wissen zu lassen.« Er bittet darum, nur Leute ins Programm zu lassen, »denen man vertrauen kann, dass sie nicht reden«. Insgesamt sind zwölf guatemaltekische und vierzehn amerikanische Ärzte in die Studie involviert. Ein Kollege schreibt an Cutler, dass er mit dem Gesundheitsminister gesprochen habe, der »sehr interessiert an dem Projekt« sei: »Seine Augen funkelten vor Freude, als er sagte: ›Wissen Sie, so ein Experiment könnten wir hier in den USA niemals machen.‹«

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