Auf beiden Augen blind

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Auf beiden Augen blind
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Einleitung

Die blinde Justitia steht weltweit für Gerechtigkeit. Doch ihre Blindheit kann auch ironisch verstanden werden: Fehler in unserem Rechtssystem will sie nicht sehen. Desaströse Zustände in deutschen Gefängnissen, nicht geahndete Polizeiübergriffe und eine gescheiterte Resozialisierung – drei verhängnisvolle Fällen zeigen, was passieren kann, wenn die Justiz den Blick abwendet.

Dossiers kompakt: Das sind jeweils drei herausragende Dossiers der ZEIT zu einem gemeinsamen Brennpunktthema. Für diese packenden Reportagen recherchieren unsere Autoren monatelang, reisen in alle Welt und decken Hintergründe und Skandale auf.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Gewalt: Strafsache Polizei Immer wieder werden Menschen Opfer von gewaltsamen Übergriffen der Polizei. Die Justiz verfolgt diese Fälle nur nachlässig. Manchmal landen sogar die Geschädigten selbst auf der Anklagebank VON SABINE RÜCKERT

Strafvollzug: Die Schlechterungsanstalt Deutsche Gefängnisse sind ein rechtsfreier Raum: Dort wird misshandelt, vergewaltigt, getötet. Erstmals beschreibt eine Studie die Zustände in den Haftanstalten. Der Staat hat sein Ziel der Resozialisierung aufgegeben VON MARTIN KOTYNEK, STEPHAN LEBERT UND DANIEL MÜLLER

Sicherungsverwahrung: Unter Menschen Fast dreißig Jahre hat der Sicherungsverwahrte Hans-Peter Müller im Gefängnis gesessen. Dann brachte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihm und siebzig anderen Verwahrten die Freiheit. In Hamburg versucht Müller seither, in die Gesellschaft zurückzukehren. Aber die will ihn nicht VON ANITA BLASBERG UND CHRISTIAN DENSO

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Impressum

Gewalt
Strafsache Polizei
Immer wieder werden Menschen Opfer von gewaltsamen Übergriffen der Polizei. Die Justiz verfolgt diese Fälle nur nachlässig. Manchmal landen sogar die Geschädigten selbst auf der Anklagebank

VON SABINE RÜCKERT

DIE ZEIT, 27.09.2012 Nr. 40

Bis heute ist nicht geklärt, was am Vormittag des 30. April 2009 in der Schwandorfer Straße 11 in Regensburg geschah. Fest steht allerdings, dass der 24-jährige Musikstudent Tennessee Eisenberg diesen Tag nicht überlebt hat. Zwölf Schüsse aus Polizeiwaffen trafen ihn in Knie, Arme, Rumpf. Und ins Herz. Die Staatsanwaltschaft Regensburg hat das Ermittlungsverfahren gegen die Schützen eingestellt. Das Oberlandesgericht Nürnberg, vor dem Eisenbergs Eltern durchsetzen wollten, dass die beiden Beamten angeklagt werden, hat den Antrag als unbegründet verworfen. Jetzt haben sich die Eltern an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gewandt.

Könnte es sein, dass es an jenem Tag im Treppenhaus vor Eisenbergs Wohnung zu einem polizeilichen Gewaltexzess kam? Die – vom guten Glauben an die Obrigkeit durchdrungene – bayerische Justiz hat wichtige Fragen offengelassen.

Die Katastrophe beginnt damit, dass auf einen Notruf hin acht Beamte in der Schwandorfer Straße anrücken. Eisenberg soll seinen Mitbewohner mit einem Messer bedroht und Suizid angekündigt haben. Schon seit Wochen befindet er sich in einer Sinnkrise, er hat sein Studium hingeworfen und sich, ohne zu essen, im Bett verkrochen. Am Morgen geht er ohne Grund auf den Mitbewohner los. Der entkommt unverletzt und wählt den Notruf. Obwohl die Polizei weiß, dass es sich um den Einsatz gegen einen außer sich geratenen Selbstmordgefährdeten handelt, ist kein Psychologe, kein Pfarrer dabei. Unkoordiniert dringt ein Trupp in die Wohnung im ersten Obergeschoss vor: Da steht Eisenberg, der – laut den Aussagen der Beamten – einen »geistig wirren Eindruck« macht und ein Küchenmesser mit einer 18 Zentimeter langen Klinge in der Hand hält. Er greift niemanden an, doch auf die Aufforderung »Messer weg!« reagiert er nicht, sondern geht langsam mit hängenden Armen auf die Beamten zu. Während sie ihn mit Reizgas besprühen, bewegen sie sich rückwärts auf der engen Treppe wieder nach unten. Auf ihre Warnung, sie würden schießen, sagt Eisenberg bloß: »Dann schießt’s halt.« Als er am Fuße der Treppe ankommt, sind einige der Polizisten schon wieder nach draußen in den Hof entwichen.

Jetzt fallen drei Schüsse. Ein Projektil geht in die Wand, ein zweites zertrümmert Eisenbergs Kniegelenk, ein drittes seinen linken Oberarm. Auffällig ist, dass beide Kugeln von hinten in Eisenbergs Körper eindringen. Warum? Wollte der junge Mann umkehren und in seine Wohnung zurück? Wie es zu den Schüssen kam, ist nicht geklärt. Zwei Polizisten haben gefeuert. Sie geben später an, ein dritter Kollege, der sich in dem – mit Gerümpel zugestellten – Eingangsflur von den anderen getrennt hatte, sei vom langsam sich nähernden Musikstudenten bedroht worden. Sie hätten rasche Nothilfe leisten müssen, verteidigen sie sich.

Nach den Schüssen fliehen alle Beamten aus dem Haus – bis auf einen der beiden Schützen, der mit dem Rücken zum Hauseingang steht. Er feuert jetzt mehrmals auf Eisenberg und tötet ihn. Angeblich fühlte der Polizist sich von dem Musiker an die Wand gedrängt: Der junge Mann sei – das Messer in der herabhängenden Rechten – unverwandt auf ihn zugekommen. Agierte der Schwerverwundete wirklich so bedrohlich? Ein rechtsmedizinisches Gutachten beschreibt Tennessee Eisenberg als eine sich zu diesem Zeitpunkt »langsam und humpelnd fortbewegende Person, welche aus mehreren Schussverletzungen an Arm und Bein blutete«. Die Blutungen und das Bewegungsmuster wurden durch die Kleidung von Eisenberg, kurzärmliges T-Shirt und Boxershorts, nicht verdeckt. Für die Hinterbliebenen des Toten ist es deshalb unerklärlich, warum der Beamte nicht, wie seine Kollegen, einfach das Haus verlassen hat. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, der Beamte habe einen »Widerstand« im Rücken verspürt. Die Haustür sei möglicherweise halb oder ganz zugefallen gewesen. (Die Behörde beruft sich dabei auf die schriftliche Stellungnahme des Schützen nach Akteneinsicht durch dessen Anwalt.) Dem steht die Aussage eines weiteren Beamten entgegen, der unmittelbar nach dem Vorfall aussagte, er habe den tödlich ins Herz getroffenen Eisenberg vom Hof aus durch die offene Haustür zusammenbrechen sehen.

Sieht so »Gefahrenabwehr« aus? Polizeibeamte sind verpflichtet, Gewalt gegen Bürger auf das erforderliche Minimum zu beschränken. Sollten bewaffnete – und wie die beiden Schützen für solche Situationen auch noch besonders ausgebildete – Polizeibeamte nicht in der Lage sein, einen abgehungerten, offenbar psychisch angeschlagenen Studenten zu entwaffnen, ohne ihn dabei umzubringen? Das fragt sich auch Tennessees Vater, neben dessen Bett sich bis heute die Akten stapeln, gefüllt mit Protokollen, Beschlüssen, Verfügungen und Gutachten. »Tennessee war sensibel und sanft«, sagt er traurig, »er rauchte nicht, trank nicht und nahm keine Drogen.« Was also ist geschehen? Handelten die Beamten wirklich in Notwehr, wie die Staatsanwaltschaft Regensburg behauptet? Oder töteten sie Tennessee fahrlässig, infolge einer unprofessionellen Überreaktion?

366 tatverdächtige Polizisten – und nicht eine einzige Anklage

Die Eltern stimmt misstrauisch, dass die polizeilichen Ermittlungen nur oberflächlich durchgeführt wurden. So wurden dem Schusswaffensachverständigen des Bayerischen Landeskriminalamts entscheidende Tatsachen wie die Lage der durch die tödlichen Treffer hervorgerufenen Blutspritzer in der Nähe der Haustür im Gutachtenauftrag gar nicht mitgeteilt. Erst durch die Arbeit eines weiteren – diesmal von den Eltern beauftragten – Spurengutachters aus Nordrhein-Westfalen kam überhaupt heraus, dass Eisenberg in zwei Phasen angegriffen und nicht am Fuße der Treppe, sondern vor der (offenen?) Haustür erschossen worden war.

Die Öffentlichkeit wird die ganze Wahrheit wohl nie erfahren und der Fall wie andere ähnlich gelagerte Fälle unaufgeklärt bleiben. Vermutlich auch, weil sich Behörden scheuen, sich die Rolle der Polizei genauer anzusehen.

Die Wahrscheinlichkeit, mithilfe des Bundesverfassungsgerichts eine Anklage durchzusetzen, ist für Nebenkläger generell verschwindend gering. Sie haben es bei den Karlsruher Richtern noch schwerer als Verurteilte, die sich ungerecht behandelt fühlen.

Bürger, die gegen Polizeibeamte vorgehen, haben in Deutschland immer schlechte Karten. Polizisten, die im Dienst gewalttätig geworden sind und Menschen verletzt oder getötet haben, müssen statistisch gesehen nicht ernsthaft vor einer Strafverfolgung Angst haben. Wird überhaupt ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet, so wird es meistens mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Auch bei schweren Verfehlungen kommt es also nicht einmal zu einer Hauptverhandlung – geschweige denn zu einer Verurteilung.

Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht an der Freien Universität Berlin, hat ausgerechnet, dass etwa 95 Prozent der eingeleiteten Strafverfahren gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt von der zuständigen Staatsanwaltschaft eingestellt werden – ein Wert, der »erheblich über dem Durchschnitt« der Körperverletzungsverfahren liegt. In Hamburg kam es 2007 bei 366 tatverdächtigen Polizisten in keinem einzigen Fall zu einer Anklage. Im Jahr 2005 waren es bei 459 Tatverdächtigen vier Anklagen und 2003 bei 491 Tatverdächtigen immerhin sieben.

In Berlin wurde im Jahre 2008 gegen 636 Beamte wegen Körperverletzungsvorwürfen ermittelt. In 615 Fällen stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Sechs Beschuldigte wurden freigesprochen, keiner wurde verurteilt. Im Jahr zuvor war ein Beamter schuldig gesprochen worden.

Die Strafverfolger rechtfertigen solch magere Zahlen mit dem Argument, dass erwischte Tatverdächtige oft Falschbeschuldigungen gegen Polizeibeamte erheben. Und tatsächlich gehört es zum Standardrepertoire gefasster oder überführter Personen, Misshandlungen durch Polizisten zu behaupten. Unter den Anzeigeerstattern sind zahlreiche Schwindler, die sich durch die eigene Opferrolle Vorteile vor Gericht ausrechnen. Andererseits lügt nicht jeder, der einen Beamten beschuldigt.

 

Häufig können polizeiliche Gewalttäter wegen ihrer Uniform vom Bürger nicht einmal zweifelsfrei identifiziert werden, und wenn doch, steht Aussage gegen Aussage. In der Regel hat der verdächtige Beamte auch noch eine Reihe von Kollegen, die ihn entlasten und sein Fehlverhalten decken. »Dass sich Polizisten finden, die gegen ihre eigenen Kollegen aussagen, kommt so gut wie nie vor«, schreibt Singelnstein in einem Aufsatz. Es werde eine »Mauer des Schweigens« errichtet, bestehend aus falscher Kameraderie, innerpolizeilichem Druck und der Angst, als Mitwisser selbst wegen unterlassener Hilfeleistung ins Visier der Strafverfolgung zu geraten.

Der misshandelte Bürger steht mit seiner Anzeige also allein und muss auch noch Gegenanzeigen wegen angeblichen Widerstands gegen die Staatsgewalt oder falscher Verdächtigung fürchten. Denn die Täter unter den Beamten erstatten ebenfalls sofort Anzeige, um sich zum Opfer zu machen. Die wenigen Fälle von Polizeigewalt, die schließlich doch zum Gericht durchdringen, enden fast immer mit Freispruch. »Die Strafjustiz hat zu oft Verständnis für den angeklagten Beamten«, sagt Singelnstein. Man arbeitet im Alltag zusammen und kann sich gut in die vom beschuldigten Polizisten behauptete Lage hineinversetzen. Ein Gericht überlegt sich deshalb zweimal, einen Polizeibeamten zu verurteilen und damit das Ansehen der ganzen Behörde zu beschädigen.

Die Staatsanwaltschaft ist ein Kopf ohne Hände: von Rechts wegen zwar Herrin des Ermittlungsverfahrens, in der Praxis aber gänzlich abhängig von der Arbeit der Polizei. Deren Beamte ermitteln für sie und treten später als zentrale Belastungszeugen vor Gericht auf. Auf ihren Aussagen beruht oft die Verurteilung eines Straftäters. Staatsanwälte und Richter müssen also erst einmal einen Vertrauensreflex überwinden, bevor sie einem Bürger – der überdies als Straftäter infrage kommt – mehr Glauben schenken als einem Polizeibeamten. Sie müssen im Einzelfall erkennen, dass der vor ihnen sitzende Polizist kein unbefangener Zeuge ist, sondern seine eigene Verteidigung betreibt. Gelingt ihnen dies jedoch nicht, bleibt das Handeln der Polizei unkontrolliert, was manche Beamte zum Missbrauch ihrer Macht ermutigt.

Die Polizisten schlagen zu – und vernichten später Beweise

Am 15. November 2010 wurde im bayerischen Pfaffenhofen die unbescholtene Familie Eder von einem zehnköpfigen Einsatzteam der Polizeiinspektion Rosenheim krankenhausreif geprügelt, nachdem sie mit Beamten nicht wunschgemäß kooperiert hatte. Den 65-jährigen Josef Eder, selbst Polizist im Ruhestand, malträtierten die Beamten in seinem eigenen Haus derart, dass er zeitweise das Bewusstsein verlor. Ärzte des Klinikums Rosenheim diagnostizierten später ein Bauchtrauma, Prellungen an Stirn und Wange, Bewegungseinschränkung des Halses, Verletzungen an Ellenbogen und Handgelenken. Der Patient »weint viel und leidet sehr«, heißt es im Arztbericht, »er hyperventiliert«. Das Krankenblatt dokumentiert Schwindel, starkes Kopfweh und Schmerzen in der Nierengegend aufgrund zahlreicher Tritte und Schläge. Eine ganze Woche muss Eder das Klinikbett hüten. Seiner Frau und der 36-jährigen Tochter ergeht es nicht besser. Auch sie müssen wegen Bauchtraumata, starker Schädel- und Rippenprellungen für eine Woche ins Krankenhaus. Das vierte Opfer, Eders Schwiegersohn, der seiner Frau zu Hilfe eilte, ist übersät von Verletzungen und Hämatomen. Im Attest steht: »Es dominiert der psychische Ausnahmezustand.«

Unverletzt ist nur Eders dreijähriger Enkel, vor dessen Augen sich das Szenario abgespielt hat.

Dabei hatten die Polizisten in Zivil zunächst bloß nach einem früheren Mieter der Eders gesucht, der aus dem Mehrparteienhaus, das der Familie gehört und in dem sie wohnt, längst ausgezogen war. Als Eders Tochter Sandra an ihrer Wohnungstür darauf beharrte, die Dienstausweise der ihr unbekannten Männer zu sehen, die sich ihr zunächst gar nicht vorgestellt hatten, wurden die Beamten grob. Sie stellten den Fuß in die Tür, zerrten die Frau heraus und droschen auf sie ein. So berichten es die Eders knapp zwei Jahre später unter Tränen. Auch auf den herbeieilenden Ehemann und Sandras Eltern prasselten die Schläge der inzwischen auf zehn Mann angewachsenen Einsatztruppe nieder, sie wurden zu Boden geworfen, fixiert und mit Handschellen gefesselt. Erst als die 62-jährige Mutter Eder einen Nervenzusammenbruch erlitt und nicht mehr aufhören konnte zu schreien, riefen die Beamten den Krankenwagen.

Im Februar 2012 kommt es zum Prozess vor dem Amtsgericht Rosenheim. Doch auf der Anklagebank sitzen nicht die Beamten, sondern die Eders. Wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung. Die Rosenheim-Cops haben behauptet, von der Familie angegriffen worden zu sein. Die junge Frau in der Tür habe geschrien und sich in provokantem Tonfall geweigert, sich auszuweisen. Außerdem habe sie versucht, die Wohnungstür zuzuschlagen. Ihr Vater sei mit aggressivem Blick herbeigeeilt und habe sich bedrohlich aufgebaut. Er sei auf die Beamten losgegangen, weshalb sie ihn in den »Schwitzkasten« hätten nehmen müssen.

Der Fall Eder war von den eigenen Kollegen der Beamten aus der Kripo Rosenheim »aufgeklärt« und von der Staatsanwaltschaft Traunstein zur Anklage gebracht worden. Keiner der gewalttätigen Beamten war je als Beschuldigter vernommen worden. Anstatt gegen die Polizisten zu ermitteln, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, hatten die Staatsanwälte deren Version von den höflichen Beamten und den aggressiven Eders übernommen. Der Presse hatten sie mitgeteilt, die Beamten hätten »rechtmäßig gehandelt«, und der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hatte bei einer Landtagsdebatte am 27. September 2011 betont, seine Polizei verdiene keine Kritik, sondern ein »herzliches Dankeschön«. Dabei war erst wenige Tage zuvor der Chef der Rosenheimer Polizei – also der Vorgesetzte der Einsatztruppe Eder – wegen einer anderen Gewalttat vom Dienst suspendiert worden: Ihm war vorgeworfen worden, einen mit Handschellen gefesselten 15-Jährigen zusammengeschlagen zu haben. Im Internet kursierten bereits die Bilder vom stark blutenden Opfer mit den ausgeschlagenen Zähnen. (Der Polizeichef wird im kommenden November vor Gericht stehen. Es sei nicht davon auszugehen, dass er den Sachverhalt vollumfänglich einräume, teilt die Staatsanwaltschaft mit.)

Die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Rosenheim entwickelt sich dann aber unerfreulich für die Beamten, vor allem, weil die Eders die Öffentlichkeit suchen und allen Journalisten, die sie hören wollen, ihre Geschichte erzählen. Außerdem kommt heraus, dass Polizeibeamte Beweismittel vernichtet haben, indem sie jene Fotos löschten, die Mutter Eder mit ihrer Kamera von dem Einsatz gemacht hatte. Den Eders ist es allerdings gelungen, die Bilder auf private Kosten wiederherstellen zu lassen. Gleichzeitig wird im Prozess klar, dass Beamte Aussagen manipuliert und untereinander abgestimmt haben. Trotzdem wird der Fall auch vor Gericht nicht geklärt. Nach sieben Verhandlungstagen überrascht der Richter die Eders am 11. Mai 2012 mit dem Angebot, das Verfahren einzustellen. Dabei ließ die Beweislage längst einen Freispruch erwarten. Die Eders, entmutigt durch die Feindseligkeit der Justiz und die finanziellen Belastungen, stimmen dem faulen Frieden zu. Auf den Anwaltskosten bleiben die vier Angeklagten jetzt allerdings sitzen. »Da arbeitet man ein Leben lang«, sagt die Mutter Eder, eine ehemalige Telekom-Angestellte, »und dann braucht man ein Vermögen, um sich gegen die Polizei zu wehren.«

Die Frau hat immer noch mit den Folgen des Polizeieinsatzes zu kämpfen. Die dabei entstandenen Hand- und Fußgelenksverletzungen sind nicht richtig verheilt. Auch sieht sie seither auf einem Auge fast nichts mehr. Ihr Mann, der dem Rechtsstaat früher als Polizeibeamter gedient hat, sagt heute: »Der Staat stellt sich als Festung gegen seine Bürger.«

Eders Stimme zittert noch immer vor Fassungslosigkeit, wenn er von der »organisierten Staatskriminalität in Rosenheim« spricht, die brave Bürger misshandelt und dann vor Gericht zerrt, wo ihnen nicht Recht, sondern weiteres Unrecht geschieht.

Wie oft seine Beamten ungerechtfertigt oder mit unangemessener Härte gegen Menschen vorgehen, ermittelt der Staat nicht, weshalb das Ausmaß der Polizeigewalt in Deutschland unbekannt ist. Lediglich das Land Baden-Württemberg hat kürzlich angekündigt, die Zahl aller Straf- und Disziplinarverfahren gegen Polizisten erfassen zu wollen. Amnesty International konstatierte im Juli 2010, Polizeigewalt sei hierzulande zwar nicht systematisch, es gebe jedoch zahlreiche Einzelfälle. Polizeiinternen Befragungen aus den Jahren 1998 und 2001 zufolge waren 25 Prozent der Beamten der Meinung, hin und wieder sei es durchaus akzeptabel, mehr Gewalt anzuwenden als erlaubt. Und sechs von zehn Polizisten gaben an, auch gravierender Gewaltmissbrauch von Kollegen werde nicht immer berichtet oder angezeigt. Dabei weiß man in der Polizei sehr wohl um den unliebsamen Typus des sogenannten Widerstandsbeamten, der – ansonsten unauffällig – bei schwierigen Einsätzen Gespür und Augenmaß für die Situation vermissen lässt und überreagiert. Doch die Frage »Wie oft war der Beamte in Gewalthandlungen verwickelt?« spielt in Deutschland kaum eine Rolle bei der beamtenrechtlichen Beurteilung von Polizisten – und die ist für die Beförderung ausschlaggebend.

Dafür beklagen die Ordnungshüter umso eindringlicher, selbst übermäßig häufig Attacken von Bürgern ausgesetzt zu sein. Nachrichten über »wachsende Gewalt gegen Polizeibeamte« werden von den einflussreichen deutschen Polizeigewerkschaften immer wieder gern in den Medien lanciert. Dabei gibt es keine einzige ernst zu nehmende Untersuchung darüber, ob die Gefahr für Polizisten tatsächlich ansteigt. Dem Polizeiforscher Singelnstein fiel in der jüngsten Vergangenheit zwar durchaus eine Eskalation der Gewalt zwischen Bürgern und Polizei auf, er hält es aber keineswegs für gesichert, dass diese wirklich von den Bürgern ausgeht. Der Grund dafür könne ebenso in der »erhöhten Bereitschaft der Polizisten zum Einsatz von Zwangsmitteln« zu suchen sein. »Die Polizei pflegt ihre Opferrolle«, sagt Singelnstein. Bei ihren Beamten setze sich zunehmend das Selbstbild vom Kämpfer auf verlorenem Posten fest, was wiederum zu Frustration und rüderen Methoden führe.

Ganz sicher nimmt die Aufmerksamkeit zu, mit der sich die Öffentlichkeit dem Thema zuwendet. Die bekannt gewordene Polizeigewalt steigt spürbar an. Die Leute auf der Straße und anderswo haben jetzt ein Handy dabei, mit dem sie aus dem Ruder laufende Polizeieinsätze spontan aufnehmen. Die Bilddokumente sind dann später im Fernsehen oder im Internet zu sehen. Deshalb dürfte es auch für die Strafjustiz künftig schwerer werden, Polizeigewalt zu ignorieren.

Am 12. September 2009 filmen Unbeteiligte beispielsweise, wie zwei Uniformierte während der Demonstration »Freiheit statt Angst« in Berlin einen Mann mit Fahrrad attackieren und ins Gesicht schlagen. Der Mann hat die Staatsgewalt gegen sich aufgebracht, weil er einen Beamten, dessen Verhalten ihm missfallen hatte, nach seiner Dienstnummer gefragt hat. Unter anderem dieser Vorfall führte dazu, dass Berlin als erstes Bundesland die sogenannte Kennzeichnungspflicht für Polizisten einführte. Die 16000 Polizeibeamten der Hauptstadt müssen nun seit September 2011 ihren Namen oder ihre Nummer an der Uniform tragen und sind damit identifizierbar. So kann keiner mehr im Schutze von Anonymität und Einheitslook zuschlagen. Bis Ende April 2012 kam es daraufhin zu 23 Beschwerden und sechs Strafverfahren gegen Berliner Beamte.

Die Arbeit des Polizeibeamten ist anstrengend und verantwortungsvoll. Er ist erheblichem Stress und großen Gefahren ausgesetzt – und er ist andererseits mit maximaler Macht ausgestattet. Seinen Anweisungen muss der Bürger Folge leisten, der Polizist repräsentiert das staatliche Gewaltmonopol. Er ist bewaffnet. Niemand hat im öffentlichen Leben mehr Kontrolle über Leben und Tod als er. Um die polizeiliche Anwendung von Gewalt zu reglementieren, gelten deshalb sehr strenge und extensive Vorschriften. Denn durch unprofessionell unverhältnismäßige Aktionen eines Beamten kann auch ein Routineeinsatz binnen Sekunden außer Kontrolle geraten und zu Schwerverletzten und Toten führen. In seinem Aufsatz über den polizeilichen »Jagdinstinkt« von 2011 hat der Bochumer Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes einige Fälle aus zurückliegenden Jahren zusammengestellt. Sie illustrieren, wie ein Alltagseinsatz, ja sogar der bloße Vorwurf einer geringfügigen Ordnungswidrigkeit sich zu einer Katastrophe auswachsen kann.

 
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